Читать книгу Stadt, Land, Klima - Gernot Wagner - Страница 13
Klima und Entwicklung
ОглавлениеZwei der wichtigsten Fragen rund um den Klimaschutz lauten: Wer ist für die CO2-Emissionen letztlich verantwortlich – der Produzent oder der Konsument? Und wer sollte was wann tun? Um selbst tiefere Einblicke in die erste dieser beiden Fragen zu erhalten, waren drei weitere Jahre meines Forscherlebens nötig. Die zweite Frage ist eine Aufgabe für viele Lebenszeiten.
Der Ökonom Simon Kuznets war ein Wegbegleiter von Wassily Leontief. Ebenso wie Leontief und Jorgenson war er Professor an der Harvard University, und er war es, der Anfang der 1930er-Jahre die ersten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Vereinigten Staaten und somit das Bruttoinlandprodukt des Landes, das BIP, erstellte. Seine Berechnungen halfen der amerikanischen Regierung dabei, das Land aus der „Großen Depression“, der schweren Wirtschaftskrise der Dreißigerjahre, zu steuern. Er erhielt dafür 1971 den Nobelpreis.
In Umweltkreisen – mit denen er an sich kaum direkte Berührungspunkte hatte – ist Kuznets auch für eine andere „Erfindung“ bekannt. Er hatte einst beobachtet, dass Ungleichheit im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung einem umgedrehten „U“ entspricht: Am Anfang, wenn alle gleich arm sind, ist die Ungleichheit niedrig. Im Zuge der ökonomischen Entwicklung steigt auch die Ungleichheit: Die Reichen werden zusehends reicher, während andere zurückfallen; die Einkommensschere klafft auseinander – bis die Politik interveniert. In vielen der reichsten Länder schließt sich die Einkommensschere dann wieder, meist durch progressive Steuern. Kuznets stellte diese Beobachtung Mitte der 1950er-Jahre an.21 Das umgedrehte U wurde als „Kuznets-Kurve“ bekannt.
Die „Umwelt-Kuznets-Kurve“ ist ebendiese Beobachtung umgelegt auf Luft-, Wasser- und andere Umweltverschmutzungen.22 Geringe Entwicklung bedeutet demnach: wenig Verschmutzung. Schnell wachsende Länder werden auch entsprechend stärker verschmutzt, bis in mehr oder weniger reichen Ländern die Umweltverschmutzung wieder zurückgeht: Benzin wird bleifrei, saurer Regen wird in die Geschichtsbücher verbannt, das Trinkwasser wird wieder trinkbar.
Die wichtigste Beobachtung – bei den Einkommensunterschieden wie auch bei der Umweltverschmutzung – lautet: Weder das eine noch das andere wird einfach automatisch besser. Laissez-faire mag zwar einen schönen sprachlichen Klang haben, doch in der Realität ist Laissez-faire-Kapitalismus ein sicheres Rezept für mehr ökonomische Ungleichheit und mehr Umweltverschmutzung.23
Denn fast jeder der bisher erreichten umweltpolitischen Erfolge beruht genau darauf: auf Umweltpolitik. Mittelalterliche Kathedralen schmelzen nur deshalb nicht mehr im sauren Regen dahin, weil es Luftreinhaltegesetze gibt, die das auch sicherstellen. Und wie man es dreht und wendet: Rauchgasentschwefelung zur Reinigung von Abgasen kostet Geld – zwar weniger Geld, als es die Energieindustrie gerne zugibt, aber Geld allemal.24 Dieses ist aus gesamtgesellschaftlicher Sicht äußerst gut investiert, aber Privatunternehmen werden dies nicht von allein tun: Es bedarf der Politik. Dasselbe gilt für die Verbannung von Blei im Benzin und sonstige Umweltauflagen, Gesetze und Regulierungen. Für den Klimaschutz gilt es ebenso.
Es stellt sich nun die Frage: Gibt es diese Umwelt-Kuznets-Kurve auch für das Klima? Die ärmsten Länder der Welt haben kaum CO2-Emissionen. Je reicher diese Länder werden, desto höher klettern auch die Emissionen. Die große Frage ist: Was passiert in den reichen Ländern?
Tatsächlich: In reichen Ländern sinken die CO2-Emissionen wieder. Schweden etwa weist einerseits weniger ökonomische Ungleichheit auf, andererseits sind auch die CO2-Emissionen seit den 1970er-Jahren gesunken – von jährlich über elf Tonnen CO2 pro Person auf unter fünf. Deutschland legte einen ähnlichen Weg zurück, auch wenn dort die Emissionen noch über acht Tonnen liegen. Und in den Vereinigten Staaten sind sie heute zwar immer noch ungefähr doppelt so hoch wie in Deutschland, aber auch hier sind sie gesunken – von Höchstwerten um die 22 Tonnen CO2 pro Person und Jahr Anfang der 1970er-Jahre auf heute rund 16 Tonnen.25
Gute Nachrichten also? Nicht ganz: Die CO2-Emissionen eines bestimmten Landes sind jene, die bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen entstehen. Die große Frage ist: Was ist mit deren Konsum passiert? Entscheidend ist, wie viel CO2 in all den Produkten und Dienstleistungen enthalten ist, die über nationale Grenzen hinweg reisen: Welthandel eben.
Das alles zu berechnen, mit bilateralen Welthandelsdatenbanken und dem fossilen Energiegehalt dieser Waren und Dienstleistungen, bestimmte drei Jahre meines Forscherlebens während meines Doktoratsstudiums.26 Einerseits war das alles trockene Buchhaltung. Andererseits lassen sich erst mithilfe dieser Zahlen andere wichtige Fragen beantworten. Eine davon lautet: Warum existiert diese weltweite Schere zwischen CO2-Emissionen im Konsum und in der Produktion?
Eine Erklärung wäre: Reichere Länder verwenden neuere, sauberere Technologien, die weniger CO2-Emissionen verursachen. Gleichzeitig importieren reichere Länder mehr Waren, vornehmlich aus ärmeren Ländern, die mit ihren älteren, schlechteren Technologien höhere CO2-Emissionen verursachen. Das wäre die hoffnungsvolle Geschichte – hoffnungsvoll deshalb, weil fortschrittliche Technologie die Welt retten würde, sobald sie auch in bislang ärmeren Ländern Einzug hält.
Eine zweite Erklärung klingt jedoch weniger hoffnungsvoll: Es wäre natürlich auch möglich, dass reichere Länder gewisse Produkte gar nicht mehr selbst herstellen, sondern sich stattdessen auf sauberere Wirtschaftssektoren spezialisieren. Die schmutzige Schwerindustrie wandert ab – und ihre Produkte werden einfach importiert. Die reichsten Länder spezialisieren sich auf Dienstleistungen wie Finanz und Tourismus, während der Stahl aus den ärmeren importiert wird.
Welche dieser Erklärungen ist nun die richtige?
Es treffen teils beide Erklärungen zu: Reiche Länder importieren ihre CO2-Emissionen zusehends. Deutschland zum Beispiel ist in Summe ein Netto-Exporteur von Waren und Dienstleistungen, aber ein Importeur von CO2-Emissionen. Dasselbe gilt für Österreich, die Schweiz und viele andere reiche Länder. Die Vereinigten Staaten sind überhaupt Importchampion bei den CO2-Emissionen: China exportiert die meisten CO2-Emissionen, die Vereinigten Staaten importieren die meisten.
Dabei letztgültig und im Detail zu bestimmen, welcher Anteil jeweils auf den Stand der Technologie und welcher auf die Zusammenstellung der Produkte entfällt, ist äußerst schwierig. Ich selbst bin daran gescheitert. (Glücklicherweise war meine Buchhaltung alleine engagiert genug, um sie als eine von drei Studien für meine Doktorarbeit einzureichen.) Mein Antwortversuch war, technologische Fortschritte gänzlich auszuklammern und zu beobachten, ob sich die Klima-Kuznets-Kurve immer noch bewahrheiten würde. Sie tat es nicht: Ohne technologischen Fortschritt gibt es auch keine Klima-Kuznets-Kurve mehr. Technologie ist also in jedem Fall ein wichtiger Bestandteil der Geschichte.
Doch wie groß der Einfluss von Technologie wirklich ist, ist weiterhin unklar. Klar ist nur, dass beide genannten Erklärungen eine gewisse Rolle spielen – und dass am Ende der Konsum von CO2-Emissionen ausschlaggebend ist. Denn ohne Nachfrage kein Angebot: Wenn niemand die CO2-intensiven Produkte kauft, würde sie auch niemand mehr herstellen.
All dies zeigt unmissverständlich, welche entscheidende Rolle das Einkommen und der Reichtum spielen: Je reicher eine Nation ist, desto höher sind auch die durch den eigenen Konsum verursachten CO2-Emissionen.
Was für Länder gilt, das gilt selbstverständlich auch für Städte: Auch hier ist es wichtig, die gesamten CO2-Emissionen, die im Konsum enthalten sind, zu betrachten.27 Und auch hier spielen Einkommen und Reichtum eine große Rolle.
Städte ziehen Reichtum an – beziehungsweise helfen sie, ihn zu erzeugen. Die Region New York etwa, in der „nur“ rund zwanzig der insgesamt 330 Millionen Amerikaner leben, ist für fast zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Vereinigten Staaten verantwortlich. Für sich alleine genommen wäre es damit die zehntgrößte Wirtschaftsregion der Welt.28 Kein Wunder also, dass dort auch viele CO2-Emissionen entstehen.
Allerdings sind es besonders die Suburbs von New York, die als große Klimasünder hervorstechen. Die Stadt selbst weist relativ niedrige Emissionen auf – trotz ihres Reichtums.29 In der Stadt ist das Leben CO2-effizienter als anderswo.
Dieses Bild wiederholt sich auf der ganzen Welt – und es zeigt, wie wichtig die detaillierte Klimabuchhaltung ist. In europäischen Staaten zum Beispiel haben Großstädter im Schnitt um rund sechs Prozent höhere Einkommen als das jeweilige Umland. Gleichzeitig sind die CO2-Emissionen in vergleichbaren Haushalten – angepasst ans Einkommen – in der Stadt um sieben Prozent geringer als am Land. In Summe sind die CO2-Emissionen in der Stadt knapp niedriger als am Land.
Es wäre verlockend, das bereits als Win-win-Situation zu verbuchen: mehr Geld und (insgesamt ein bisschen) weniger CO2! Doch wie wir schon gesehen haben, geht es vor allem um das Potenzial, noch mehr zu erreichen – und zwar viel mehr.