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2.2. Das griechische Theater und Rom
ОглавлениеAufgrund der unmittelbaren Konfrontation mit den spezifischen Darstellungsformen der Nachbarvölker und dem hochentwickelten Theaterwesen der Griechen durchliefen die Hauptgattungen des römischen Dramas nicht eine allmähliche und eigenständige Entwicklung von kleinen Anfängen bis zu komplizierten Formen; vielmehr folgte auf vorliterarische und schattenhafte Anfänge unmittelbar ein relativ fortgeschrittenes literarisches Stadium, das in römischen Versionen von Dramen bestand, die aus einem anderen kulturellen Kontext mit einer langen literarischen Theatertradition übernommen wurden.
Durch die Umsetzung griechischer Stücke ins Lateinische führten römische Dichter die Kunst der literarischen Übersetzung als einen künstlerischen Prozess in Europa ein, also ‚Übersetzung‘ nicht im Sinne einer wortwörtlichen Umsetzung, sondern als Übertragung der Bedeutung und Struktur von Szenen oder ganzer Dramen. Durch diesen kulturellen Transfer schufen sie selbstständige Werke, die auf Modellen in einer anderen Sprache basierten. Die sich entwickelnde Literatur Roms entstand also durch den Entschluss, literarische Werke einer anderen europäischen Kultur zu adaptieren. Entsprechend demonstrieren die Entscheidungen der ersten Dichter, was sie adaptierten und wie sie es für die römische Gesellschaft umsetzten, ihre ersten eigenständigen künstlerischen Schritte.
Als die Römer anfingen, sich mit dem griechischen Drama auseinanderzusetzen, hatte dieses bereits seine kosmopolitische Anziehungskraft erwiesen. Denn das griechische Drama (besonders die Tragödie und die Neue Komödie) konnte trotz seiner Verankerung im griechischen Mythos bzw. Ambiente wegen seines Potenzials für Universalität und Adaption gut von anderen Völkern übernommen werden. Dass sich Stücke bei Wiederaufführungen vom Original entfernen mögen, etwa durch Schauspielerinterpolationen, ist für Athen erkennbar an den Bemühungen des Lykurgos in der Mitte des vierten Jahrhunderts v. Chr., ein offizielles Exemplar der Texte der drei großen Tragiker zu erstellen ([Plut.] vit. X orat. 841F). Da Wiederaufführungen klassischer athenischer Dramen in der griechischen Welt außerhalb Athens in hellenistischer Zeit in Bezug auf Textform und Aufführungspraxis an den zeitgenössischen Geschmack angepasst gewesen sein werden, wird das griechische Drama, das die Römer im hellenisierten Süditalien kennenlernten, sich von den klassischen athenischen Versionen unterschieden haben.
Auf jeden Fall ergab sich so ein direkter Zugang zu griechischen Dramen, wenn vielleicht auch nicht in ihrer ursprünglichen Form. Denn um eine Auswahl der zu übertragenden Dramen treffen zu können, müssen römische Dichter mit griechischen Stücken vertraut gewesen sein, durch Aufführungen oder die Lektüre von Dramentexten. Auch wenn für einige römische Dramen mit einer auf einer griechischen Geschichte basierenden Handlung kein bekanntes griechisches Vorbild zu finden ist, ist feststellbar, dass den meisten, für die sich griechische Modelle identifizieren lassen, Stücke von Dramatikern zugrunde liegen, die bereits in Griechenland etabliert und zu Theaterklassikern geworden waren. Römische Tragödien, die auf weniger bekannten Mythen basieren, folgen entweder ‚nachklassischen‘, ‚nach-euripideischen‘ bzw. ‚hellenistischen‘ Vorbildern oder sind selbstständige römische Schöpfungen, entwickelt auf der Basis mythischer Erzählungen nach dem strukturellen Modell griechischer Stücke. Eine besondere Rolle nicht-klassischer griechischer Stücke bei der Auswahl mythischer Geschichten und Versionen lässt sich nicht nachweisen. Das zeitgenössische griechische Theater hatte vermutlich mehr Einfluss auf den Aufführungsstil als auf das Repertoire.
Abb. 2
Karte
Karte des Römischen Reiches mit Grenzen des 1.–2. Jh.s n. Chr. und Eintragung aller bekannten antiken Stätten mit griechischen oder römischen Theatern