Читать книгу Lago Mortale - Giulia Conti - Страница 10
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ОглавлениеSie hatten das Dorfzentrum passiert und fuhren über einen unbefestigten Weg ein paar hundert Meter weiter durch Wiesen, auf denen Kühe und Pferde grasten. Jetzt sah Simon das Haus. Carla fuhr langsamer und stoppte am Wegesrand vor dem alten Gebäude, wie es viele in der Gegend gab. Es war dreistöckig und in L-Form gebaut, mit Holzbalkonen, über die, und nur über die, man in die Zimmer gelangte. Es wirkte alles etwas baufällig. Verblichene rosa Hauswände, rissige grüne Klappläden, von denen die Farbe abblätterte, ein verwilderter Garten mit Obstbäumen, Walnuss und Apfel, sogar einen Zitronenbaum erspähte Simon. Ihm gefiel das Haus, und es weckte Erinnerungen in ihm.
Mit Nico, ihrer Mutter Sibylle und ein paar Freunden hatte er vor langer Zeit zwei Jahre lang in einem ähnlichen Haus gelebt, am Stadtrand von Frankfurt. Es war das einzige Mal in seinem Leben gewesen, dass er für längere Zeit eine Wohnung mit einer Frau geteilt hatte. Sibylle hatte damals aus dem heruntergekommenen Garten einen wundersam sprießenden Flecken Grün gemacht. Mit einer verrosteten Hollywoodschaukel unter einem Kastanienbaum, in die sich Simon nachts gerne mit einem Bier setzte, bevor er erschöpft von seinem Reporteralltag ins Bett fiel. Im Frühsommer wuchsen dort fast schwarze Erdbeeren, die er in Sahne tunkte und eine nach der anderen schlürfte wie Austern. Trotzdem war der Garten zu einem Zankapfel zwischen ihnen geworden, denn niemals hätte Simon dort einen Finger krumm gemacht, und wenn er die Pflanzen gießen sollte, vergaß er es. Wenn es ihnen gut miteinander ging, stellte Sibylle ihm manchmal Blumen aus dem Garten in sein Arbeitszimmer. Auch die vergaß er zu wässern, und sie vertrockneten. Sibylle verletzte das, aber es war keine Absicht, es passierte ihm einfach. Er konnte mit dem Grünzeug, wie er es nannte, einfach nichts anfangen, und Blumen in Vasen fand er kitschig, fast so schlimm wie Topfpflanzen. Er fühlte sich trotzdem wegen seiner Achtlosigkeit schuldig und ärgerte sich zugleich darüber, dass Sibylle sich ihm mit ihren Pflanzen aufdrängte und ihn in diese missliche Lage brachte.
Die letzten Meter gingen Simon und Carla zu Fuß, und erst jetzt sah er, dass im Schatten der Bäume ein paar Leute saßen, die jedoch keine Notiz von ihnen nahmen. Als sie am Zaun angekommen waren, machte Carla mit einem freundlichen »Buongiorno, Signori« auf sich aufmerksam, und sie sahen auf. Es waren vier, eine Frau und drei Männer, höchstens Mitte zwanzig, schätzte Simon. Keine Nico. Simon war erleichtert. Die Vorstellung, dass er hier mit Carla Moretti auf sie stoßen könnte, hatte ihm doch Sorgen bereitet.
Einer der jungen Männer saß in Jeans und mit nacktem Oberkörper in einem verschlissenen Sessel. Er stand auf, kam zu ihnen an den Zaun und schaute sie fragend an.
»Buongiorno. Ich bin Maresciallo Moretti. Und das ist Signor Strasser«, stellte Carla sie vor. »Haben Sie einen Moment Zeit für uns?«
»Polizei?«, fragte der junge Mann. »Haben wir etwas verbrochen?« Simon fühlte sich sofort überflüssig, denn die Frage hatte er ohne jeden Akzent auf Italienisch gestellt. »Ich bin übrigens Paolo. Okay, kommen Sie rein, es ist ja verdammt heiß. Mögen Sie ein Glas Wasser? Wir können uns in den Schatten setzen, und Sie sagen mir, was Sie von uns wollen.«
Paolo war sehr schlank, hatte kinnlanges, fast blondes Haar und trug eine Brille mit runden Gläsern und hellem Horngestell. Sie folgten ihm in den Garten, und er bot ihnen zwei Stühle an einem knallrot gestrichenen Tisch an. Seine Freunde nahmen weiterhin keine Notiz von ihnen, zwei dösten in Liegestühlen vor sich hin, die Frau las in einem Buch. Paolo, jetzt in einem T-Shirt mit aufgedrucktem Notenschlüssel, kam mit einer Karaffe, in der Eiswürfel und Zitronen schwammen, und drei Gläsern zurück. »Also, schießen Sie los.«
»Vorgestern gab es einen Todesfall auf dem See, auf einem Segelboot. Vielleicht kannten Sie den Toten. Sein Name ist Marco Zanetti.«
»Ja, ich habe davon gehört, im Internet stand etwas darüber. Sehr traurig. Und ja, ich kannte ihn. Nicht gut, aber er ist schon seit einiger Zeit immer mal wieder hierhergekommen, vor allem wenn wir abends Musik machen. Da kriegt man allerdings nicht viel voneinander mit. Es ist meistens ziemlich voll. In letzter Zeit war er häufiger da. Hat Moritz besucht, mit dem hatte er sich angefreundet. Ich glaube, das hat so im Juni angefangen. Marco hatte ja viel Geld, kam immer mit einem dicken Geländewagen hierhergefahren, war aber ein netter Typ, ziemlich cool.«
»Und wer ist Moritz?«
»Moritz Wehrli, kommt aus Zürich. Der ist aber im Moment nicht hier, ist in der Schweiz und kommt morgen wieder. Er arbeitet im Centro Luna d’Oro. Das ist dieses spirituelle Zentrum hier um die Ecke, wo man Yoga und Meditation und solche Sachen machen kann. Es kann gut sein, dass Moritz von dieser Geschichte mit Marco noch gar nichts mitbekommen hat. Das wird ein ziemlicher Schock für ihn sein, vermute ich. Die waren ja recht eng befreundet. Jedenfalls sah es so aus. Genaueres weiß ich nicht. Moritz hat hier zwar ein Zimmer, aber besonders gut kenne ich ihn trotzdem nicht.«
»Seit wann ist er denn weg?«
»Lassen Sie mich nachdenken. Vorgestern habe ich ihn noch kurz gesehen, am Vormittag, so gegen elf Uhr. Dann ist er los, hat gesagt, er würde nach Omegna und von da in die Schweiz fahren.«
»Wie?«
»Mit dem Auto. Er fährt einen alten Porsche.«
»Einen alten Porsche?«
»Er steht auf solche Autos. Keine Ahnung, warum. So etwas interessiert mich nicht.«
»Spricht Moritz eigentlich Italienisch?«
»Nicht so gut, aber er kann sich verständigen.«
»Wissen Sie, ob Marco an dem Abend vor dem Segelunfall, also vor drei Tagen, hier war?«
»Nein, weiß ich nicht. Da war ich unterwegs, habe meine Eltern besucht. In Omegna. Und habe da auch übernachtet. Am nächsten Vormittag war ich wieder hier, und da habe ich dann, wie gesagt, auch Moritz noch gesehen.«
»Wie viele Leute leben denn hier im Haus?«
»Schwer zu sagen, im Moment etwa zehn. Manchmal mehr, manchmal weniger. Es kommen auch immer mal Besucher vorbei, die hier übernachten. Und wenn wir abends Musik machen, sind meist eine ganze Menge Leute da. Das spricht sich herum, über Facebook und so.«
»Hat Marco Zanetti hier auch übernachtet?«
»Ich glaube, das ist vorgekommen. Bei Moritz.«
»In seinem Zimmer?«
»Ja, mehr weiß ich nicht. Keine Ahnung.«
»Und Ihre Freunde hier im Garten? Hatten die auch etwas mit Marco Zanetti zu tun?«
»Nein, das sind Deutsche. Die sind nur im Sommer für ein paar Wochen hier. Die bereiten das Blues Festival in Ameno mit vor. Sie haben ihn vielleicht mal hier gesehen, aber sie hatten bestimmt nichts mit ihm zu tun. Als ich das im Netz gelesen habe, habe ich ihnen von dem Segelunfall erzählt, und sie wussten nicht mal, um wen es geht.«
»Das heißt, Sie sprechen Deutsch?«
»Ich habe in Vercelli Fremdsprachen studiert. Aber damit kann man ja heutzutage in diesem Mistland nichts anfangen. Jetzt bin ich also hier.«
»Und wovon leben Sie?«
»Meine Eltern geben mir etwas Geld, und ich jobbe in einem Hotel, dem Ayurveda-Hotel Maharishi in Ameno. Ich putze dort. Im Hotel sind immer viele Deutsche und Schweizer, und meine Sprachkenntnisse sind also doch für etwas gut. Eine Putzkraft mit Uni-Abschluss, was will man mehr?«
»Und wie können wir diesen Moritz Wehrli erreichen?«
»Haben Sie etwas zu schreiben? Ich gebe Ihnen seine Handynummer.« Paolo griff zu seinem Smartphone, ging seine Kontakte durch und schrieb die Nummer für Carla Moretti auf einen Zettel. »Sonst morgen im Centro Luna d’Oro, er fängt normalerweise erst gegen Mittag an, gibt irgendwelche Kurse. Ich nehme an, Sie wissen, wo das ist?«
Simon, der die ganze Zeit nichts gesagt hatte, hatte keine Idee, wo das war, aber Carla nickte. Sie nahm den Zettel mit der Handynummer an sich, trank ihr Zitronenwasser in einem Zug aus und warf Simon einen auffordernden Blick zu. Sie standen auf und verabschiedeten sich.