Читать книгу Lago Mortale - Giulia Conti - Страница 6

4

Оглавление

Am nächsten Morgen wachte Simon schon um sechs Uhr auf. Die Stunden im ersten Tageslicht waren in diesem heißen August die schönsten. Das Dorf schlief noch, und die über den Hügeln der anderen Seeseite aufgehende Sonne überzog Ronco mit einem rosafarbenen Schimmer. Ein leichter Windzug ging über den See und bewegte ihn sanft; die Wellenkämme blinkten silbern. Simon war schon im Wasser gewesen und saß nun fast ein wenig fröstelnd auf der Terrasse in der noch angenehm kühlen Morgenluft.

Er sah auf den See hinaus und dachte an Marco Zanetti. Sein Tod ließ ihn nicht los. Schon als er aufgewacht war, waren ihm die Szenen vom Vortag wieder vor Augen gekommen, die führungslose Yacht, der blutüberströmte Tote im Heck. Was war da passiert? Er würde versuchen, im Lauf des Tages mehr zu erfahren. Bestimmt würde auch Carla Moretti sich melden und ihm mehr über das Geschehen auf dem See berichten. Jedenfalls würde er nichts überstürzen, auch wenn sein Wissensdrang noch so groß war.

Gelassenheit war schon immer sein größter Trumpf gewesen. Natürlich war in seinem alten Job als Polizeireporter Geschwindigkeit ein wichtiger Faktor, es war entscheidend gewesen, wer von den Kollegen die Nase vorn hatte, als Erster am Tatort war, zuerst an eine entscheidende Information herankam. Auch Simon war immer schnell gewesen, und wenn er einmal eine Fährte aufgenommen hatte, war er davon nicht mehr abzubringen. Aber er hatte gelernt, Ruhe zu bewahren und geduldig zu sein, und er wusste, dass er damit letztlich am ehesten an sein Ziel kam.

Im Dorf war es noch ganz still; auch die Hornissen schienen noch nicht zur Arbeit angetreten zu sein. Das war ein Gedanke wider besseres Wissen, denn Simon, der sich gefragt hatte, wie er das Nest über seiner Terrasse loswerden könnte, hatte sich vor einiger Zeit im Internet über diese Insekten kundig gemacht. Hornissen schliefen nicht, nur manchmal verharrte auf einmal der gesamte Schwarm für kurze Zeit unbewegt. Vielleicht war das gerade der Fall. Es waren eigentlich friedliche Tiere, hatte er bei seiner Recherche gelernt, die einem nichts taten, wenn man ihre Kreise nicht störte.

Dennoch hatten die meisten Leute im Dorf Angst vor den calabroni, genauso wie vor den harmlosen Schlangen, die an manchen Tagen im See unterwegs waren, aussahen wie große Regenwürmer und ihre kleinen Köpfe aus dem Wasser reckten wie Brustschwimmer. Simon belächelte die Furchtsamkeit seiner Nachbarn etwas, aber er musste zugeben, dass die schiere Größe der Hornissen einen tatsächlich erschrecken konnte, und als er das Insekt in seinem Arbeitszimmer tottrat, hatte er das gewissermaßen im Affekt getan. Er nippte an seinem Cappuccino und biss in eine Brioche vom Vortag. Anders als Wespen hatten Hornissen keinen Appetit auf Marmelade und Schinken und ließen ihn in Ruhe frühstücken.

Nicola schlief noch oben in ihrem Zimmer. Über lange Zeit war die junge Frau nicht Teil seines Lebens gewesen, aber dennoch war sie wie eine Tochter für ihn, und umgekehrt war auch er ein Vater für sie. Einen anderen hatte sie nicht, denn ihr leiblicher schlich sich schon vor ihrer Geburt aus ihrem Leben. Simon hatte in ihren ersten Lebensjahren dessen Stelle eingenommen, bis Nicolas Mutter, als er sich nach ein paar Jahren von ihr trennte, den bis dahin innigen Kontakt zwischen ihm und ihrer kleinen Tochter strikt unterband.

Dann tauchte Nicola im vorletzten Jahr überraschend bei ihm in Italien auf, kurz nach ihrem Abitur. Ganz selbstverständlich. Sie war ohnehin eine beherzte junge Frau, keine, die lange zögerte, und sie fing schnell Feuer für Italien. Das Land kam ihrem Temperament entgegen, sie lernte Italienisch mit großer Leichtigkeit, sprach es inzwischen fast perfekt und ganz ohne Akzent, und sie blieb schließlich dort. Es war eigenartig. Simon fand diese durch und durch deutsche junge Frau viel italienischer als sich selbst. Sie hatte begonnen, in Pavia Kunstgeschichte zu studieren, war dort in eine Wohngemeinschaft gezogen. Aber es war dann wohl einiges schiefgelaufen. Ihre in Köln lebende Freundin hatte sich von ihr getrennt, vielleicht weil die Entfernung zwischen ihnen zu groß war, und Nicola hatte ihr Studium in Pavia abgebrochen.

Nun lebte sie seit ein paar Monaten bei ihm. Wenn man das so nennen konnte. Hatte sie anfangs seine Nähe gesucht, ging sie seit einiger Zeit ganz in ihrer eigenen Welt auf, erzählte nicht mehr viel von sich und verkehrte in einer Szene von jungen Aussteigern, vor allem Deutsche und Schweizer, die sich in einem verlassenen Haus in einem Dorf auf der anderen Seeseite einquartiert hatten.

Tagsüber jobbte sie in einer Bar an der Piazza im wunderschönen Orta San Giulio, dem Touristenmagnet am See, und verdiente sich damit ihr eigenes Geld. Simon hatte ihr einen alten Fiat Panda geschenkt, mit dem sie immer unterwegs war. Gestern war sie spät mit ihrem Hund, einem jungen Terrier, den sie Buffon genannt hatte und der nie von ihrer Seite wich, nach Hause gekommen, begrüßte Simon nur kurz und war sofort in ihr Zimmer verschwunden.

Sie lebten nicht in Unfrieden miteinander, aber es war, als hätte sich eine Milchglasscheibe zwischen sie geschoben. Vor zwei Jahren, als sie ihn nach den vielen Jahren der Trennung zum ersten Mal in Ronco besucht hatte, war sie wie eine Naturgewalt in sein Leben zurückgekehrt. Fast ein wenig zu direkt, zu offenherzig und rückhaltlos hatte er sie zunächst gefunden. Dann hatte er sich an ihre unverstellte Art, an ihren burschikosen Schwung gewöhnt, ja, sie hatte begonnen ihm sehr zu gefallen, vielleicht gerade deshalb, weil er selbst so ganz anders war.

Als sie sich dann in den letzten Wochen immer mehr abgeschottet hatte, schmerzte das Simon, aber er zeigte es nicht und sprach sie erst recht nicht darauf an; das war nicht seine Art. Er war Journalist, aber wie viele Journalisten eher wortkarg, kein besonders kommunikativer Typ. Das war ähnlich wie bei Komikern, fand er. Die waren im wirklichen Leben oft auch nicht besonders lustig. Nicola würde schon wieder die Alte werden, sagte er sich, oder einen neuen Weg finden. Allerdings war er davon nicht mehr ganz so überzeugt, seit das Gefühl von Fremdheit zwischen ihnen nun schon seit einigen Wochen anhielt.

Die Rolle des Vaters, die Nicola ihm schon als Kind und bis heute selbstverständlich zuwies, war für ihn noch immer ungewohnt. Ob das anders gewesen wäre, wenn Nicola seine leibliche Tochter und in seinem Leben immer an seiner Seite gewesen wäre, hätte er, wenn er ehrlich war, nicht sagen können. Er liebte sie wie eine Tochter, und wenn sie »Papa« zu ihm sagte, was in letzter Zeit allerdings nur noch selten vorkam, gefiel ihm das. Aber er war ganz sicher kein väterlicher Typ. In jedem Fall nicht der Typ Vater, den die extrovertierte Nicola erwartet hatte, das spürte er. Natürlich idealisierte sie ihn in den Erinnerungen an ihre Kindheit. Und wahrscheinlich fand sie ihn heute zu ernst und zu abgeklärt. Zu deutsch. War er das? Natürlich war er deutsch, auch wenn seine Mutter Italienerin gewesen war und er jetzt in Italien lebte. Aber er war schließlich in Deutschland groß geworden, hatte dort fast sein ganzes Leben verbracht. Und ernst? Nüchtern, fand er, passte eher. Abgeklärt? In seinem Gefühlsleben war er das bestimmt nicht. Aber nach außen mochte er wohl so wirken.

Simon vertrieb den Gedanken an Nicola. Und auch den an Luisa im fernen Frankfurt. Im Moment hatte er nicht gerade Glück mit seinen Frauen. Das Selbstmitleid, das da gerade in ihm hochkam, musste er schnell loswerden. Er machte sich einen Espresso, setzte sich an den Computer und rief den Artikel auf, an dem er zurzeit arbeitete. Auch dabei ging es, wie der Zufall es wollte, um Zanetti. Es war eine Auftragsarbeit, ein Wirtschaftsporträt für den Schotter, und er war in Verzug. Als er an seinem Schreibtisch saß, die Unterlagen zur Jahresbilanz der Firma studierte, die ihm die Pressesprecherin von Zanetti bereitwillig überlassen hatte, konnte er sich nicht auf die Zahlen konzentrieren. Immer wieder gingen seine Gedanken zurück zu Marco Zanetti und der Frage, was auf dem See passiert war. Sein Handy war still geblieben. Carla Moretti hatte noch nichts von sich hören lassen.

Es hielt ihn nicht an seinem Schreibtisch. Er wollte zumindest erfahren, ob sich die Nachricht vom Tod des jungen Mannes schon herumgesprochen hatte und was man sich darüber erzählte. Dafür gab es keinen besseren Ort als Linos Bar im drei Kilometer entfernten Pella. Die war ohnehin Simons zweites Zuhause. Bei Lino trank er fast an jedem Vormittag seinen Cappuccino und las dazu die Frankfurter Nachrichten, das Blatt, für das er gut drei Jahrzehnte gearbeitet hatte.

Kam Simon in die Bar, lag es immer schon für ihn bereit, allerdings die Deutschlandausgabe; es fehlten die lokalen Seiten. Natürlich hätte er die Zeitung auch zu Hause auf seinem iPad lesen können, aktueller und mit den Nachrichten aus Frankfurt. Aber für ein bisschen Nostalgie musste in seinem digital hochgerüsteten Leben doch Platz sein, fand er, und genoss es, wenn er in der Bar saß und das Papier durchblätterte.

Lago Mortale

Подняться наверх