Читать книгу Lago Mortale - Giulia Conti - Страница 5

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Simon wartete jetzt schon eine Stunde auf dem Revier von Omegna. Er hatte Hunger und er war erschöpft. Sein Hemd war verschwitzt, seine Sneaker waren noch immer voller Blut. Nur seine Hände hatte er in einem schäbigen kleinen Badezimmer waschen können. Die Carabinieri ließen sich Zeit. Was wollten sie von ihm? Sollte das eine Zeugenbefragung werden, oder verdächtigten sie ihn, mit dem Tod von Marco Zanetti etwas zu tun haben? Simon starrte entnervt an die Wand des Wartezimmers.

Das Augustblatt des Polizeikalenders, der dort hing, zeigte eine tief dekolletierte Gina Lollobrigida und einen lächelnden Vittorio de Sica in Polizeiuniform. Auf diese Kalender war Simon zum ersten Mal vor vielen Jahren in Süditalien gestoßen, als jemand sein Auto aufgebrochen und er das angezeigt hatte. Damals hatte er eine Ewigkeit in einem augustheißen Wartezimmer auf dem Revier gesessen, bis endlich ein junger Polizist seinen Fall, mit einem Finger in eine altertümliche Schreibmaschine tippend, aufnahm. Auch an der Wand dieses Reviers hatte so ein Kalender gehangen. Der war damals allerdings sehr viel martialischer gewesen. Offenbar hatte sich da etwas verändert, und es war ein schöner Gedanke, fand Simon, dass heutzutage auch die Polizei Augen für die Schönheiten des Kinos hatte.

Endlich ging die Tür zum Wartezimmer auf, und der Carabiniere, der das Polizeiboot gelenkt hatte, rief Simon zu sich. Nachdem sie in Omegna angekommen waren, war er alleine mit ihm den kurzen Weg hoch zu dem hinter dem Marktplatz gelegenen Revier gegangen, während seine Kollegen im Hafen bei der Dynamic geblieben waren. Auf der Fahrt mit der Yacht im Schlepptau hatten die jungen Männer nicht mehr mit ihm gesprochen, und unterwegs mit dem Carabiniere zum Revier schien es Simon, als ob nicht viel dazu fehlte, dass er ihm Handschellen anlegte.

Jetzt nahm er seine Personalien auf, nicht umständlich wie damals in Süditalien, sondern schnell und routiniert. »Ihr Vorname, Signor Strasser, ist Simon oder Simone?«

»Simon.« Zu weiteren Erläuterungen sah er gegenüber diesem Carabiniere keinen Anlass. Seine Eltern hatten ihn Simon getauft, aber seine italienische Mutter hatte ihn immer Simone gerufen, was ihm als kleiner Junge peinlich gewesen war, weil der italienische Männername ihn in Deutschland zu einem Mädchen machte und er deshalb den Spott seiner Altersgenossen hatte ertragen müssen. Das saß tief, und bis heute legte er daher Wert darauf, Simon genannt zu werden, auch wenn er nun in Italien lebte.

»Und Sie haben also die deutsche und die italienische Staatsangehörigkeit?«, fragte der Carabiniere in einem Ton, als ob allein schon diese Tatsache etwas Anrüchiges hatte.

»Ja, meine Mutter war Italienerin, mein Vater Deutscher. Ich bin aber in Frankfurt aufgewachsen.« Wie immer, wenn seine halbitalienische Herkunft zum Thema wurde, meinte Simon, sich sofort für sein nicht ganz perfektes Italienisch entschuldigen zu müssen. Er war nicht zweisprachig aufgewachsen, hatte sich erst spät auf seine italienischen Wurzeln besonnen und die Sprache dann als Erwachsener gelernt. Seine Mutter, die sich das Deutsche erstaunlich schnell angeeignet hatte, hatte zwar aus Simon Simone gemacht, aber sonst fast nie mit ihm und seinem Bruder Italienisch gesprochen, außer wenn sie wütend war oder ihnen Kinderlieder vorsang. Simon warf ihr das später vor, obwohl er wusste, dass das ignorant war. Ihr Versäumnis war dem angestrengten Bemühen geschuldet, sich in ihrer neuen deutschen Heimat kulturell vollkommen einzufügen, und wenn ihr selbst das schon nicht wirklich gelang, wollte sie zumindest ihren Söhnen diese Chance geben.

Es war Anfang der sechziger Jahre gewesen, Wirtschaftswunderzeit, als seine Eltern sich begegnet waren. In Rimini. Ausgerechnet, sagte Simon immer, wenn es um dieses Ereignis ging. Seinen Vater hatte das Südweh über die Alpen getrieben, auf einem alten Motorrad, mit dem er gerade so über den Brennerpass und bis an die Adria gekommen war. Tatsächlich fand er im Sehnsuchtsort der Deutschen die erträumte Francesca, und sie war ihm nach Frankfurt gefolgt. Es gab ein Foto seiner Eltern am Strand von Rimini, das Simon in einer Schublade in seinem Haus in Ronco aufbewahrte. Seine schöne Mutter im quietschgelben Strandkleid, braun gebrannt, sein damals schon etwas dicklicher Vater in kurzen Hosen und mit Strohhut, natürlich ein gelato in der Hand, beide strahlend. Viel war von diesem Glück in Germania nicht geblieben, seine Mutter fühlte sich dort nie ganz heimisch. Sein Vater hatte es im Nachkriegsdeutschland zu etwas gebracht. Zwei Söhne hatten Simons Eltern in die Welt gesetzt, aber es schwer miteinander gehabt, und beide waren früh gestorben. Hinterlassen hatten sie ihnen ein stattliches Erbe, Simon aber vor allem die alte Sehnsucht nach Italien und die ewige Zerrissenheit.

Der Carabiniere sah von seinem Computer auf und blickte ihn an. Undurchdringlich, hätte Simon gesagt, wenn ihm diese Beschreibung nicht so abgegriffen vorgekommen wäre. »Sie waren also mit Marco Zanetti zusammen auf dem Boot?«

»Nein, natürlich nicht. Er war alleine. Ich habe das Boot von meiner Terrasse in Ronco aus beobachtet und bin dann mit meinem Kajak dahin gepaddelt, um zu sehen, was da los ist. Die Yacht ist ja vorher fast mit der Azalea zusammengestoßen. Sie sollten den Kapitän dazu befragen.«

»Wir entscheiden selbst, wen wir befragen, dazu brauchen wir Ihre Ratschläge nicht, Signor Strasser. Sie behaupten also, Sie haben das Segelboot von Ihrem Haus aus beobachtet, sind dann dorthin gefahren, haben den toten Zanetti an Bord entdeckt und uns dann alarmiert? Sie haben viel Blut an Ihren Schuhen. Kann es nicht doch sein, dass Sie mit ihm auf dem Boot waren und dass Sie mit ihm gestritten haben? Dabei ist es dann zu Handgreiflichkeiten gekommen, und Sie haben ihm einen tödlichen Schlag versetzt.«

»Nein.« Auch Simons Ton war nun scharf. »Wie ich Ihnen bereits gesagt habe: Ich habe Marco Zanetti tot auf seiner Yacht gefunden. Sie haben ja mit eigenen Augen gesehen, dass ich mit meinem Kajak da war. Ich weiß natürlich nicht, was auf dem Boot passiert ist. Vielleicht war es einfach nur ein Segelunfall, der Baum hat ihn am Kopf erwischt …«

»Sie müssen uns nicht auf die Sprünge helfen, Signor Strasser. Wir finden schon selbst heraus, was auf dem Boot passiert ist.«

In diesem Moment ging die Tür auf, und Maresciallo Carla Moretti kam herein.

»Buongiorno, Simone.« Die Polizistin ging schwungvoll auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. »Tutto a posto?«

Simon war sofort aufgestanden und Carla, die auch in ihrer eng geschnittenen dunklen Uniformhose und in hellblauem Polizeihemd bella figura machte, entgegengegangen. Der Carabiniere, der das Protokoll aufnahm, blickte von seinem Schreibtisch aus erstaunt zwischen seiner Vorgesetzten und Simon hin und her.

»Ich habe schon gehört«, sagte Carla Moretti lächelnd mit ihrer sehr tiefen Stimme. »Sie waren mal wieder vor uns am Tatort. Immer mit der Spürnase vorneweg. Sie haben sich also kein bisschen verändert.«

Simon und Carla waren alte Bekannte. Sie hatten sich vor zwei Jahren kennengelernt, als Simon sich mehr oder weniger zufällig in den Fall eines ertrunkenen Arztes hatte verwickeln lassen, ein Unglück, das sich als Mord entpuppte und an dessen Aufklärung er mitgewirkt hatte.

Carla Moretti war noch schmaler geworden, seit Simon sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie war vielleicht Mitte dreißig, schätzte er, hatte tiefschwarzes, sehr kurzes Haar, eine Stupsnase, grüne Augen und eine außergewöhnlich hohe Stirn, die sie nicht unbedingt schöner, ihr Gesicht aber erst wirklich interessant machte. Früher hätte man eine Frau wie sie apart genannt, dachte er. Sie gehörte zu den Italienern, die ihn stets mit »Simone« ansprachen, ob bewusst oder aus Unwissenheit, wusste er nicht, aber bei ihr gefiel ihm das, er las es als Zeichen der Akzeptanz und Vertrautheit.

»Hat Franco Sie auf frischer Tat ertappt, Simone?«, fragte Carla sichtlich amüsiert. Sie schien ihre Leute gut zu kennen. Dann wandte sie sich an den Carabiniere, der sich jetzt förmlich hinter seinem Computer zu verstecken schien. »Senta Franco, Signor Strasser ist Journalist, er war früher Polizeireporter bei einer großen deutschen Zeitung, eine echte Spürnase. Eigentlich müssten Sie sich an ihn erinnern. Er hat uns schon vor zwei Jahren bei der Aufklärung eines Falls auf die Sprünge geholfen, als es um diesen Arzt ging, der in Pettenasco ermordet worden ist.«

Auf die Sprünge geholfen – Simon freute sich insgeheim, dass Carla Moretti die gleiche Redensart wählte, die der Carabiniere zuvor benutzt hatte, um ihn in die Schranken zu weisen.

Die Polizistin nahm eine Notiz aus ihrer Hosentasche und wurde ernst. So kannte Simon sie, als eine Frau, die stets ohne Umschweife zur Sache kam. »Sie waren also Zeuge dieses Vorfalls auf dem See, Simone, und haben Marco Zanetti auf seiner Yacht gefunden. Der Kollege hier hat Sie ja sicher schon dazu befragt. Ist Ihnen denn etwas auf dem Boot aufgefallen, bevor Sie uns gerufen haben?«

»Ihr Kollege war mehr damit beschäftigt, mich als Mörder zu überführen.« Simon warf Franco nun ebenfalls ein Lächeln zu. »Aber um Ihre Frage zu beantworten: Nein, mir ist nichts aufgefallen. Ich war auf meiner Terrasse in Ronco und habe das Ganze erst mal von da aus beobachtet. Das sah aus wie eine Geisterfahrt. Ich wollte wissen, was da los ist, bin mit dem Kajak zur Yacht gepaddelt und habe Marco tot aufgefunden. Da ist mir allerdings auch nichts aufgefallen. Jedenfalls nichts, was Sie und Ihre Leute und die Spurensicherung nicht auch sehen werden.«

»Dann lassen wir die Spurensicherung erst mal ihre Arbeit machen«, sagte Carla. »Ich werde jetzt der Familie die traurige Nachricht überbringen. Und Sie, Simone, fahren nach Hause. Ich glaube, auch der Carabiniere ist damit einverstanden.« Carla schenkte dem Kollegen hinter dem Computer noch ein ironisches Lächeln, dann wandte sie sich erneut an Simon: »Ich melde mich morgen wieder bei Ihnen, Simone. Vielleicht fällt Ihnen ja doch noch etwas ein, was Sie bemerkt haben. Wie kommen Sie denn zurück nach Ronco?«

»Das Kajak des Signore liegt unten am Hafen«, kam ihm Franco zuvor. »Ich kann ihn ja mit dem Streifenwagen dorthin bringen.«

Das soll wohl eine Entschuldigung sein, dachte Simon. »Danke, nein, ich finde den Weg schon alleine.«

Die Zanetti-Yacht war am Hafen nicht mehr zu sehen, wahrscheinlich war sie von der Spurensicherung weggebracht worden. Aber Simons Kajak lag ruhig im Wasser, dort, wo es die Carabinieri vor rund zwei Stunden an der Hafenmauer festgebunden hatten. Er machte das Boot los. Gut sieben Kilometer waren es bis Ronco, und eigentlich hatte er keine Lust auf diese lange Fahrt, hungrig und erschöpft, wie er war.

Missgestimmt paddelte er los, aber dann tat es ihm doch gut, stimmte ihn gelassener und entspannter. Er fuhr direkt am Ufer entlang, zunächst noch mit unregelmäßigen Schlägen, dann wurde sein Takt ruhiger und gleichmäßiger. Er mochte die Geräusche, das helle Glucksen, wenn er das Paddel eintauchte, das Rauschen des Kajaks im Wasser. Mit winzigen Bewegungen konnte er es lenken und genoss es, die Verbindung von Körper und Boot zu spüren.

In Ronco ließ er das Kajak auf den Strand gleiten. Es ging ihm jetzt besser, aber er musste dringend etwas essen. Auch wenn ihn der Tod von Marco berührte, war ihm der Leichenfund nicht auf den Magen geschlagen. Simon war nicht abgebrüht, aber er hatte seine Gefühle im Griff. Natürlich war es etwas anderes, wenn man am Tatort auf einen Toten traf, den man kannte. War es denn überhaupt ein Tatort? Was war da passiert? Es hatte doch alles nach einem Segelunfall ausgesehen. Aber Simons Instinkt sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte.

Er würde sich nun erst mal seiner Pasta widmen. Der Gedanke an das Geschehen auf dem See ließ ihn allerdings für den Rest des Tages nicht los.

Lago Mortale

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