Читать книгу Lago Mortale - Giulia Conti - Страница 4

2

Оглавление

Simon ließ das Segelboot nicht aus den Augen. Da war etwas im Heck, aber er konnte nicht erkennen, was es war, auch dann nicht, als er versuchte, das alte Fernglas schärfer zu stellen. Die Dynamic hielt weiter Kurs nach Norden, auf Omegna zu. Dann durchbrach ein Hupen die Mittagsstille. Dreimal hintereinander und sehr laut. Simon setzte den Fernstecher ab. Es hupte wieder, noch drängender als zuvor.

Erst jetzt sah Simon, dass die alte Azalea, eines der drei Verkehrsschiffe, die den Sommer über regelmäßig auf dem Lago d’Orta verkehrten, der Dynamic entgegen und gefährlich nahe kam. Die allerdings machte keine Anstalten, dem vorfahrtberechtigten Passagierschiff auszuweichen. Einen Moment sah es so aus, als ob auch der Kapitän der Azalea entschlossen war, seinen Kurs zu halten, aber dann drehte er entgegen den seemännischen Verkehrsregeln mit einem abrupten Manöver ab und ließ das Segelboot passieren.

Der ungewohnte Lärm hatte ein paar neugierige Sommergäste aus ihrer Siesta aufgeschreckt und an das Seeufer gelockt, und auch der Holzsteg war mittlerweile von einem Paar belegt, das sich auf Handtüchern in der Sonne ausgestreckt hatte und offenbar durch nichts vom Bräunungsvorgang abzulenken war.

Simon beobachtete weiter mit bloßem Auge das Geschehen auf dem See. Die Azalea war wieder auf Kurs gegangen und steuerte jetzt den Anlegesteg in Ronco an. Mit dem ruhigen Lauf der Dynamic war es allerdings vorbei. Von der Heckwelle der Azalea erfasst, stand sie kurz mit flatternden Segeln im Wind, bis der Baum auf die andere Seite schlug und sie heftig ins Torkeln geriet. Für einen Augenblick glaubte Simon, dass sie kentern würde, obwohl er wusste, dass sie ein Kielboot war, das nicht kentern konnte.

Es hielt ihn nicht länger auf seiner Terrasse. Er musste wissen, was da los war. War das Segelschiff wirklich führungslos unterwegs und deshalb der Azalea nicht ausgewichen? Nur so konnte er es sich erklären. Mit seinem Kajak, das an dem kleinen Strand neben seinem Haus lag, wäre er in wenigen Minuten bei der Zanetti-Yacht.

Einen Moment später paddelte er mit dem schlanken Boot los. Der Wind hatte schlagartig nachgelassen, und Simon war schnell, aber je näher er der Yacht kam, desto langsamer wurde sein Schlagrhythmus. Die Dynamic lag nur noch leicht schaukelnd auf dem Wasser, ganz sacht schlugen die Segel am Mast hin und her. Noch immer war niemand an Deck zu sehen, auch sonst lag der See wie ausgestorben in der Mittagshitze, nirgendwo ein Schiff, außer der Azalea, die schon tief im Süden auf der Höhe der Insel angelangt war. Schwimmer wagten sich ohnehin selten so weit hinaus auf den See.

»C’è nessuno? Serve aiuto?« Simon bekam keine Antwort auf seine Rufe. Es schien niemand da zu sein, der Hilfe benötigte. Das Boot war offenbar tatsächlich leer. Aber konnte er sich da sicher sein? Simon war kein ängstlicher Typ, aber das scheinbar führungslose Boot war ihm doch ein wenig unheimlich. Vorsichtig paddelte er noch etwas näher heran.

»Hallo, ist da jemand?«, wiederholte er seine Frage.

Es tat einen lauten Knall. Für einen Moment hatte der Wind aufgefrischt, eine Bö war in die Segel gefahren, und der Baum mit dem Großsegel mit Wucht wieder auf die andere Seite geschlagen. Simon paddelte jetzt nicht mehr, ließ das Kajak gemächlich auf die Yacht zutreiben, zögerte. Sollte er sie wirklich betreten? Was ging ihn das überhaupt an? In was mischte er sich da ein? Wie immer siegte seine Neugier.

Er machte noch ein paar leichte Schläge mit dem Paddel, dann hatte er das Segelboot erreicht und legte vorsichtig seitlich an. Es knirschte und rumorte. War da doch jemand auf dem Boot, der ihm nur nicht antwortete? Simon spitzte die Ohren und wanderte mit den Augen an der Bordwand entlang. Nichts zu sehen. Er riss sich zusammen; so leicht verlor er üblicherweise nicht die Nerven, und als Segler waren ihm die Geräusche der Wanten und Schoten doch eigentlich vertraut. Er gab sich einen Ruck, vertäute sein Kajak an der Reling und schwang sich auf die Yacht.

Der erste Schritt brachte ihn zu Fall. Er war auf dem feuchten Deck ausgerutscht, fiel der Länge nach hin und stieß sich dabei heftig den Knöchel. Einen Moment blieb er liegen, benommen von dem Sturz, dann rappelte er sich schnell wieder auf. Er musste die Situation im Griff behalten. Sein Fuß tat weh, und er rieb sich den Knöchel. Blut. Seine Finger waren blutverschmiert. Das konnte nicht sein Blut sein. So heftig war der Stoß nicht gewesen. Aber woher kam es dann? Simon blickte nach unten. Er war nicht auf nassem Boden, sondern in einer Blutlache ausgerutscht.

Sein Blick ging wieder hoch und ins Heck des Bootes. Nicht weit von ihm entfernt lehnte dort seitlich an der Bordwand eine Gestalt, der Kopf auf die Brust gesunken. Ein Mann. Hatte er sich gerade bewegt? Einen Augenblick lang fürchtete Simon, er würde sich gleich aufrichten und auf ihn losgehen, oder ein Angreifer, der diesen Mann niedergeschlagen hatte, könnte auftauchen. Simon blieb regungslos, dabei jedoch sprungbereit wie eine Katze. Er hatte gelernt, sich in gefährlichen Situationen zuallererst defensiv zu verhalten, Ruhe zu bewahren und sich einen Überblick zu verschaffen. Noch traute er der Situation nicht, aber hier brauchte jemand Hilfe, das war klar.

Er sah genauer hin. Der Mann war tief in das Bootsheck hineingerutscht, lag dort in sich zusammengesunken, wie tot. Konnte das einer der Zanettis sein? Das Gesicht war nicht zu erkennen. Vielleicht war er ohnmächtig. Die Yacht war hier an Deck nicht besonders groß, mit einem schnellen Schritt war Simon bei dem Mann. Nun sah er auch, dass die Pinne an dessen Knie hängen geblieben war. Das war der Grund, warum das Boot Kurs gehalten hatte, bis es fast mit der Azalea zusammengestoßen war.

Simons Herz schlug wieder langsamer. Er kannte das. Wenn es wirklich brenzlig wurde, überkam ihn eine eigenartige Ruhe. Jetzt sah er auch die klaffende Wunde seitlich am Kopf, aus der das Blut geflossen war. Auch am Baum und am Segel gab es Blutspuren.

War das ein Segelunfall? Womöglich war der Baum gegen den Kopf des Mannes geschlagen. So konnte es gewesen sein, dachte Simon. Wenn es viel Wind gab, man eine Halse fuhr und den Baum nicht unter Kontrolle hatte, konnte das durchaus passieren. Auch ein Freund von Simon war auf diese Weise bei einem Sturm auf dem Chiemsee umgekommen.

Innerhalb von Sekunden registrierten Simons scharfe, adrenalingetränkte Sinne jetzt jedes Detail. Der Mann im Heck war braun gebrannt und athletisch, sein Outfit sportlich und teuer, das Logo der Edelmarke unter dem Blut auf seinem Hemd noch zu erkennen. Um die dreißig Jahre mochte er alt sein, schätzte Simon, während er neben ihm in die Hocke ging. Das alles passte auf die beiden Zanetti-Söhne. Er legte vorsichtig zwei Finger an den Hals des Mannes und suchte seinen Puls. Nichts. Dann hob er dessen Kopf an und sah ihm ins Gesicht. Es war Marco. Marco Zanetti. Seine Augen standen weit offen. Er war tot. Simon hatte in seinem Reporterleben schon viele Leichen gesehen, und sein Blick dafür war untrüglich. Ohne lange zu zögern, griff er zu seinem Handy und alarmierte die Carabinieri.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich das Schnellboot der Polizei in hohem Tempo von Norden her näherte, aber Simon kam es vor wie eine Ewigkeit. Noch nie hatte er eine so lange Zeit auf so engem Raum mit einer Leiche verbracht. Noch dazu mit einem Toten, den er kannte. Nicht sehr gut, jedoch so gut, dass ihn sein Tod sehr berührte. Beim Warten schweifte sein Blick auf der Yacht umher. Sie war in perfektem Zustand, alles penibel aufgeräumt. An der seitlichen Bordwand war eine rote Segeltasche fixiert, eine von diesen praktischen knallbunten und wasserfesten, die auch Simon benutzte. Sie stand offen, und eine schlanke, elegante Thermoskanne lugte heraus, ohne Zweifel eines der edlen Zanetti-Produkte. Darunter, nicht weit von der Leiche entfernt, lag eine Sonnenbrille, auch ein teuer aussehendes Modell mit breiten Bügeln, in die mit Gold die Initialen M.Z. eingraviert waren. Sie musste Marco von der Nase gerutscht sein, als ihn der Baum getroffen hatte oder was immer auf diesem Boot passiert war.

Simon überlegte, wann er dem jungen Mann aus der Fabrikantenfamilie zuletzt begegnet war. Sie liefen sich einige Male im Segelclub von Omegna über den Weg, und Marco war ihm sympathisch gewesen. Er war ein Star im Club, hatte in den letzten Jahren fast alle wichtigen Regatten gewonnen. Auch Simon segelte gelegentlich mit seinem Freund Tommaso bei kleinen Regatten des Clubs mit, immer ohne den Hauch einer Siegeschance. Nach einer der Wettfahrten, die Marco wie stets gewann, hatte Simon mit ihm ein Bier in der Bar des Clubs getrunken, sie hatten ein paar Worte miteinander gewechselt, wahrscheinlich war es ums Segeln und um ihre Boote gegangen, aber näher gekommen waren sie sich nicht.

Das Polizeiboot war nun nicht mehr weit entfernt. Die Carabinieri waren zu dritt an Deck, trotz der Hitze alle drei sehr korrekt und schnittig in Uniform und mit Sonnenbrille auf der Nase. Erst knapp vor dem Segelboot nahm der Polizist, der das Boot steuerte, das Gas zurück; mit einer eleganten Kurve und mächtiger Heckwelle näherten sie sich der Dynamic und legten mit tuckerndem Motor auf Simons Seite an.

»Sie haben uns gerufen?«

»Ja, hier im Boot liegt ein toter Mann. Ich kenne ihn, und Sie werden ihn sicher auch kennen. Es ist Marco Zanetti.«

»Ist das Ihr Kajak? Kommen Sie bitte rüber auf unser Boot.«

Es war eine freundliche, aber bestimmte Aufforderung an ihn, den potentiellen Tatort zu verlassen. Wahrscheinlich wollten die Carabinieri ihn schnell loswerden. Das kannte Simon, und er würde sich dem nicht widersetzen. Aber er würde Mittel und Wege finden, trotzdem an der Sache dranzubleiben, dachte er. Wie immer.

Simon wechselte behände über die Reling auf das Polizeiboot und wurde dort von einem Carabiniere mit einer strengen Geste empfangen, fast so, als würde er in Gewahrsam genommen. Womöglich verdächtigten sie ihn, kam ihm jetzt in den Sinn. Dann würden sie ihn wohl doch nicht so schnell loswerden wollen.

Einer der Polizisten hatte inzwischen seine Uniformjacke ausgezogen, ging an Bord der Yacht, verschaffte sich einen Überblick, ließ dann schnell und routiniert die Segel herunter.

»Es stimmt, der Mann ist tot. Es ist Marco Zanetti«, rief er seinen Kollegen zu. »Wir nehmen das Schiff ins Schlepptau.«

Der Carabiniere am Steuer des Polizeibootes warf dem Mann auf der Yacht ein Tau zu, das der sofort fachmännisch am Bug des Segelschiffs befestigte. Dann sprang er mit einem sportlichen Satz zurück auf das Polizeiboot.

»Ihr Kajak schleppen wir mit ab«, wandte er sich an Simon. »Sie kommen mit uns aufs Revier.«

Lago Mortale

Подняться наверх