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Der Lago d’Orta lag spiegelglatt in der Sonne, die zackige Bergkette im Norden des Sees verschwamm im Hitzedunst. Ein Schwan trieb langsam über das Wasser, reglos, wie von unsichtbarer Hand gezogen. In die Stille hinein begann eine Kirchturmglocke zu schlagen, zwölf lange, dunkle Töne, ein kurzer, heller. Halb eins.

Simon trank einen Cappuccino auf seiner Terrasse und sah auf den See hinaus, der in dem hellen Licht glänzte wie Weißblech. Er überlegte, ob er schwimmen gehen sollte. Sein Haus im kleinen Dorf Ronco, wo er seit einigen Jahren lebte, war früher ein Bootshaus aus Naturstein gewesen, das er zu einem großzügigen Wohnhaus ausgebaut hatte, und so waren es nur wenige Schritte ins Wasser.

Auf der Mauer vor ihm kauerten zwei Eidechsen in der Sonne, regungslos, wie winzige Krokodile. Er mochte die blitzschnellen Tiere mit den langen Schwänzen und verharrte unbeweglich auf seinem Stuhl, um sie nicht zu verjagen. Bei den Temperaturen vermied man ohnehin am besten jede Bewegung.

Noch nie hatte Simon eine solche Hitze an seinem See erlebt. Der August war immer sehr heiß, auch wenn man hier noch in Alpennähe war, der gewaltige Monte Rosa in Sichtweite. Aber dieser Sommer war ungewöhnlich. Seit Monaten hatte es nicht geregnet, und es wurde von Tag zu Tag heißer. Si muore di caldo, man stirbt vor Hitze, sagten die Leute im Dorf, die in Wetterdingen eigentlich nicht zimperlich waren, denn wer hier lebte, kannte eiskalte Wintertage, Regenfluten, wilde Stürme, Hochwasser und tropische Temperaturen. Manchmal bauten sich finstere Wolkenberge über den grünen Hügeln rund um den See auf, um jäh wieder zu verschwinden und der Sonne Platz zu machen; ganz plötzlich brachen Stürme aus, prasselten Regenschauer oder Hagel nieder.

Simon schaute über das silbrig glitzernde Wasser nach Süden, wo sich eine kleine, rundum dicht bebaute Insel wie ein Schiff aus dem See erhob. In der Ferne war schemenhaft ein Segelboot zu erkennen, sehr groß und sehr weiß. Es schien stillzustehen, aber Simon war klar, dass das täuschte. Denn das Wasser dort im Süden war dunkler, fast schwarz und leicht gekräuselt, und diese wellige Fläche trieb langsam nach Norden auf Ronco zu. Simon hatte mit den Jahren gelernt, den See zu lesen, und wusste: Das war der Mittagswind. Er kam immer von Süden, trieb die Yacht bestimmt schon vor sich her und würde die Hitze in Kürze auch in Ronco erträglicher machen.

Bald, wenn die Mittagspause vorbei war, würden sich die Seepromenade und die hölzernen Badestege mit Leben füllen. Aus den alten Häusern kämen die Sommergäste – Deutsche, Franzosen und Schweizer, Familien und Paare, ältere Leute und Kinder –, die im August Trubel in das am Ende einer langen Sackgasse gelegene und außerhalb der Saison vollkommen aus der Welt gefallene Dorf brachten. Oben auf dem Parkplatz, wo die Uferstraße endete und alle ihr Auto abstellten, gab es jetzt keine Lücke mehr. Die rund sechzig Einheimischen, die hier das ganze Jahr über lebten, nahmen den Auftrieb mit Gelassenheit, obwohl sie kaum von ihm profitierten. Die meisten der schönen Häuser am Ufer gehörten Ausländern, die nur hin und wieder an den See kamen und ihre Domizile in der übrigen Zeit an Sommertouristen vermieteten.

Simon rückte mit seinem Stuhl ein Stück weiter in den Schatten des Sonnenschirms und trank noch einen Schluck von seinem Cappuccino, das beständige Brummen der Hornissen über sich wie immer ignorierend. Seit Wochen schon schwirrten sie am Dachgiebel seines alten Steinhauses fieberhaft hin und her. Dem regen Flugverkehr nach zu urteilen mussten es Hunderte sein, die sich dort oben in einem Mauerloch eingenistet hatten. Gestern hatte sich eine von ihnen durch ein offenes Fenster in sein Arbeitszimmer im ersten Stock verirrt. Das riesige Tier war ungestüm und laut brummend durch den Raum geflogen, schließlich gegen ein Fenster geknallt, dann benommen über den Holzboden gekrochen. Simon hatte die Hornisse totgetreten und aus dem Fenster in den See geworfen.

Es war nicht nur die Mittagshitze, die ihm zu schaffen machte. Am Abend war er spät ins Bett gegangen, hatte nicht schlafen können. Er hatte sich eine Weile hin und her gewälzt, mit einem Ohr stets darauf lauschend, ob Nicola in dieser Nacht noch nach Hause kam. Die junge Frau war die Tochter seiner früheren Freundin und lebte seit ein paar Monaten bei ihm. Schließlich war er wieder aufgestanden und hatte noch ein Glas Wein getrunken. Jetzt war ihm etwas flau, und wie immer in diesem Zustand meinte er, nicht ausschließen zu können, auf der Stelle sterben zu müssen. Plötzlicher Herztod. Das war eine Obsession von ihm. Dabei war er ein sportlicher Typ und ziemlich gut in Form, nur sein Herz spielte manchmal kurzzeitig verrückt, pochte heftig oder stolperte. Mit seinen vierundfünfzig Jahren war er auch noch nicht wirklich alt, und natürlich fühlte er sich, wie so viele, mindestens zehn Jahre jünger. Eigentlich war er auch nicht sonderlich wehleidig. Wenigstens glaubte er das, auch wenn Luisa, seine italienische Freundin, die er in Frankfurt kennengelernt hatte und die nach wie vor dort lebte, das anders sah. Wenn sie überhaupt noch seine Freundin war, wie er sich im selben Moment fragte.

Jetzt stand er doch kurz entschlossen auf, setzte seine Kappe ab, zog sein Hemd aus und sprang kopfüber ins Wasser. Vielleicht müsste er doch nicht sterben. Jedenfalls würde er nun erst mal seine übliche Strecke kraulen, gute fünfhundert Meter, die er jeden Tag zurücklegte, manchmal noch mehr.

Im ersten Moment war das Wasser noch frisch, aber je länger er schwamm, umso wärmer fühlte es sich an. Und so weich wie das keines anderen Sees, in dem er jemals geschwommen war. Nur an schlechten Tagen wie heute fragte er sich, ob das womöglich den Schwermetallen zu verdanken war, die sich, tief unter ihm, am Grund des Sees befanden, Ablagerungen aus der Zeit, als er eines der sauersten Gewässer der Welt gewesen war. Dafür hatte als Erste eine nah am Ufer gelegene große Kunstseidefabrik gesorgt. Dann folgten die Metallbetriebe, die in der Hügellandschaft rund um den idyllischen See mehr oder weniger versteckt angesiedelt waren, und die nach dem Krieg einen beispiellosen Aufschwung erlebten und über Jahrzehnte hinweg ihr Abwasser in ihn entsorgten. Bis es vor fast dreißig Jahren, lange bevor Simon den Ortasee für sich entdeckt hatte, zu einer spektakulären Rettungsaktion kam. Tonnenweise Kalk wur de herangeschafft und das übersäuerte Wasser damit neutralisiert. Tatsächlich hatte sich der See, in dem Simon nun seine Runde zog, wieder erholt und zählte mit seinem glasklaren Wasser inzwischen zu den saubersten in Italien.

Mit kräftigen Zügen schwamm Simon einen Dreieckskurs von Boje zu Boje. Er war ein Wassermensch – Schwimmer, Segler, Mitglied im Ruderclub am See. Immer schon hatte er viel Sport getrieben. Als Jugendlicher spielte er im Verein Fußball, war Rennrad gefahren, hätte vielleicht sogar eine sportliche Karriere machen können, aber dann hatte der Journalismus ihn gepackt. Schon als Schüler schrieb er gelegentlich Artikel für eine Frankfurter Lokalzeitung, und daraus war schließlich sein Beruf geworden, neben dem für anderes nicht mehr viel Platz war. Bis er vor ein paar Jahren seinen festen Job bei der Zeitung in Frankfurt gekündigt, das Haus in Italien gekauft und sich damit seinen Traum vom Leben am Wasser erfüllt hatte.

Er kraulte zum Haus zurück, stieg die Badeleiter hoch, griff sich ein Handtuch und rubbelte damit über seinen noch vollen, rotblonden Haarschopf. Die Brise aus dem Süden war am Haus angekommen und kühlte seinen tropfnassen Körper. Es ging ihm jetzt viel besser. Das Schwimmen hatte ihn hungrig gemacht, und er überlegte, was er sich zu essen machen könnte. Im Kühlschrank gab es noch ein paar mit Ricotta und Spinat gefüllte Ravioli aus dem schlichten Pastageschäft in Omegna, dem Industriestädtchen an der Nordspitze des Sees. Beim Einkaufen dort konnte man zusehen, wie die Nudeln mit großen Maschinen hergestellt wurden, um sie dann für einen Spottpreis zu erwerben. Mit ein bisschen Butter und Salbei würde das eine schmackhafte Mahlzeit ergeben.

Als Simon das Handtuch über die Terrassenbrüstung zum Trocknen hängte, ging sein Blick noch einmal über den See. In der Mitte, vielleicht fünfhundert Meter entfernt, zog jetzt ein großes Segelboot vorbei. Es musste das sein, das er kurz zuvor noch bei der Insel gesehen hatte. Der Südwind hatte die weiße Yacht hoch nach Norden getrieben, und sie war nun auf der Höhe von Ronco angelangt. Ein stattliches Großsegel, eine weit aufgeblähte Fock. Das schlanke, wohl fast zehn Meter lange Boot machte vor der Brise stetig Fahrt. Simon meinte, auf dem Großsegel den Schriftzug Dynamic 24.5 zu erkennen, ein wunderschönes, schnelles Boot eines italienischen Herstellers, das er selbst gerne besessen hätte. Aber irgendetwas stimmte nicht. Es war niemand zu sehen, der die Yacht steuerte. Sie war leer.

Die Pasta konnte noch einen Moment warten. Simon holte sein uraltes Fernglas, ein Erbstück seines Vaters, das auf dem See mit seinen überschaubaren Ausmaßen – dreizehn Kilometer lang und maximal zweieinhalb Kilometer breit – noch einigermaßen seinen Dienst tat, und nahm das Boot ins Visier. Es war tatsächlich eine Dynamic, und es musste das Firmenschiff von Zanetti sein.

Der weltweit erfolgreiche Hersteller und Designer von Haushaltswaren war in Omegna zu Hause, und die Zanetti-Yacht war in Seglerkreisen ein großer Name. In wenigen Tagen, an Ferragosto, dem Höhepunkt des italienischen Sommers, würde sie wahrscheinlich wieder einen Sieg einfahren. Dann startete am Lago d’Orta die Sommerregatta, der Cusio Cup, an dem sich die bedeutenden Industriebetriebe der Region immer werbewirksam, aber auch getrieben von sportlichem Ehrgeiz mit ihren firmeneigenen Schiffen beteiligten.

In den letzten Jahren ging es dabei etwas bescheidener zu, und die Zahl der Teilnehmer war geschrumpft. Denn die satten Zeiten der Metallindustrie in der Region waren vorbei. La crisi, die italienische Wirtschaftskrise, gepaart mit der Konkurrenz aus Fernost, hatte sie ins Mark getroffen, und viele Firmen, erst kleine Familienbetriebe, dann auch solche mit großen Namen, hatten dem nicht standgehalten.

Zanetti schien allerdings unangefochten, auch Alessi florierte, und Lagostina schmiedete ebenfalls in Omegna weiter seine Töpfe und Pfannen, aber der Hersteller eines der italienischsten aller italienischen Produkte, Bialetti, hatte die Produktion dort aufgegeben. Seine Moka, die achteckige Espressokanne, blubberte zwar nach wie vor in vielen Haushalten auf dem Herd, wurde inzwischen jedoch in Rumänien produziert. Vor ein paar Monaten war Simon auf dem Begräbnis von Renato Bialetti gewesen. Der mit über neunzig Jahren Verstorbene hatte die Kanne in der Nachkriegszeit mit geschicktem Marketing zu einem Welterfolg gemacht, und in einer Moka als Urne war der alte Herr auf seinen Wunsch auch beigesetzt worden. Die aufgegebene Fabrik in Omegna stand nun schon seit einiger Zeit leer, und mit dem großen Firmennamen war auch die Bialetti-Yacht vom Lago d’Orta verschwunden.

Das war so eine Geschichte, wie sie die deutschen Redaktionen, für die Simon noch immer hin und wieder als freier Journalist arbeitete, gerne nahmen. Bis zu seinem plötzlichen Ausstieg war er Polizei- und Gerichtsreporter bei den Frankfurter Nachrichten gewesen. Aber er hatte ein paar Wirtschaftskenntnisse, Überreste einiger lange zurückliegender betriebswirtschaftlicher Semester, und auf die griff er in seiner neuen Heimat zurück, verlegte sich auf sporadische Berichterstattung aus der italienischen Handelswelt. Die Bialetti-Geschichte hatte er mit einigen Hintergrundinformationen angereichert und an verschiedene Zeitungen geschickt, aber nur sein Stammblatt, der Schotter, ein monatlich erscheinendes unkonventionelles Wirtschaftsmagazin, das ehemalige Kollegen von ihm vor einiger Zeit mit überraschend großem Erfolg lanciert hatten, druckte seinen Text vollständig ab. Die übrigen Publikationen hatten sich auf die Anekdote beschränkt und sie kurz und knapp in der Rubrik Vermischtes gebracht. Was ihn erstaunlich kaltließ. Simon war ohnehin nicht so schnell in Rage zu bringen, aber wenn man früher bei den Frankfurter Nachrichten seine Reportagen gekürzt hatte, war er doch manchmal aus der Haut gefahren. Er konnte sich das leisten, weil er ein renommierter Journalist war. Seine Wirtschaftstexte hingegen überließ er ziemlich ungerührt ihrem redaktionellen Schicksal. Meistens las er sie sogar nicht einmal, wenn sie erschienen waren. Sie waren ein Job, den er mit professioneller Routine, aber leidenschaftslos erledigte.

Lago Mortale

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