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Der Himmel hatte sich zugezogen, und es war jetzt am späten Nachmittag drückend schwül. Dunkle Wolken ballten sich um den Mottarone, den fünfzehnhundert Meter hohen Hausberg, der Lago Maggiore und Lago d’Orta voneinander trennte. In den vergangenen Tagen hatte der Himmel oft scheinbar das Gewitter angekündigt, auf das alle warteten, aber dann verzogen sich die Wolken zum Abend hin wieder, ohne dass auch nur ein Tropfen Regen gefallen war. Die Kastanienwälder rund um den See hatten schon dürre, braune Blätter; ständig brachen Brände aus. Dann kam das Wasserflugzeug angeflogen, ähnlich dickleibig und brummend wie eine Hornisse, setzte auf dem See auf und schaufelte das Nass in seine Tanks. Wenn es dann wieder durchstartete, schien es einen Moment durch sein zusätzliches Gewicht vom Wasser festgehalten zu werden, bis es langsam und schwerfällig abhob und zum Löschen in die Ferne verschwand.

Simon hatte sich einen Eistee mit Zitrone zubereitet und arbeitete wieder an seinem Zanetti-Artikel. Dafür hatte er vor kurzem Filippo Zanetti, Marcos Bruder, interviewt. Er war der Ältere der beiden, und er war es auch, der mit seinem Vater in der Firma die Fäden in der Hand hielt. Filippo war bei ihrer Begegnung auskunftsfreudig und charmant gewesen, aber Simon hatte ihn nicht besonders sympathisch gefunden, fast zu entgegenkommend, sehr selbstsicher und zugleich kontrolliert war er gewesen. Ein aalglatter Manager, wäre Simon versucht gewesen ihn zu beschreiben, wäre da nicht, wie bei jedem guten Journalisten, die Klischeeschere in seinem Kopf gewesen. Und sympathisch musste Filippo Zanetti schließlich nicht sein, um seine Weltfirma auf Kurs zu halten, was ihm auch in Krisenzeiten bisher gut gelungen war.

Eine Nachbarin, die bei Zanetti in der Designabteilung arbeitete, diente Simon als weitere Informationsquelle. Die schöne Anna war vor zwei Jahren nach Ronco gezogen und lebte dort allein mit ihrer Hündin Emma, die das Wasser liebte wie ein Fisch. Mit ihren vielleicht fünfunddreißig Jahren, wie Simon schätzte, senkte Anna den Altersdurchschnitt im Dorf erheblich. Auch wenn sie zurückhaltend mit ihrem Wissen umging, hatte er von ihr erfahren, dass man immer schon den jüngeren Bruder aus den Weichenstellungen in der Firma herausgehalten hatte. Marco Zanetti hatte das zunächst akzeptiert, vor einiger Zeit jedoch einen Versuch unternommen, gegen die Geringschätzung durch seine Familie anzugehen. Er hatte eine neue Produktlinie vorgeschlagen und war damit gescheitert.

Zanetti verdankte seinen Erfolg dem klassischen, durch das Bauhaus inspirierten Design, und dieser Linie wollten Vater und Bruder auch und gerade in Krisenzeiten treu bleiben, während Marco ein fast schriller Stil vorschwebte, für dessen Gestaltung er mit sehr jungen Designern, die er in Mailand kennengelernt hatte, zusammenarbeiten wollte. Er wurde von der Familie rigoros gebremst, und Anna ließ durchblicken, dass dabei nicht nur geschäftliche Motive eine Rolle gespielt hatten.

Marco war ein bunter Hund gewesen, lebenslustig, gut aussehend und genussfreudig. Simon hatte ihn ziemlich redselig in Erinnerung, und dass er manchmal etwas zu dick auftrug. Aber er wirkte gleichzeitig verletzlich und war ein netter Kerl, fand Anna. Was allerdings auch bei ihr ein wenig abschätzig klang.

Der zwei Jahre ältere Bruder hingegen verkörperte ganz die dezente Eleganz der italienischen Bourgeoisie, mit schmalen Manschetten an zart gestreiften Maßhemden, bläulichen Krawatten und nie einem Glas Wein zu viel. Filippo hatte an der Elite-Hochschule für Italiens Wirtschaftsnachwuchs, der Bocconi-Universität in Mailand, studiert, während Marco, der das Abitur nur mit Mühe geschafft hatte, direkt in den Familienbetrieb eingestiegen war und mit wenig verantwortungsvollen Aufgaben in der Marketingabteilung betraut wurde.

Ob er sich womöglich etwas angetan hatte? Aus Verzweiflung über seinen Misserfolg in der Firma? Sich mit Absicht in den Tod gesteuert hatte? Also selbst dafür gesorgt hatte, dass der Baum ihn erschlug? Das wäre gar nicht so einfach gewesen, einem exzellenten Segler wie ihm jedoch zuzutrauen. Simon konnte sich das allerdings nicht vorstellen. Dafür war ihm Marco zu lebenslustig vorgekommen. Aber natürlich lag man schnell falsch mit solchen Einschätzungen.

Mitten hinein in diese Gedanken klingelte Simons Handy. Er schaute auf das Display; einen Moment hatte er gehofft, es könnte Luisa sein. Aber es war der Anruf, auf den er gewartet hatte, und der war ihm jetzt fast noch willkommener: Carla Moretti.

»Buongiorno, Simone. Wie geht es Ihnen heute? Tutto a posto? Haben Sie Ihre Verhaftung gut überstanden?«

»Sì, sì, Carla. Tutto a posto. Ihre Kollegen gehen ja mit Mördern wie mir sehr anständig um. Aber im Ernst, wissen Sie inzwischen, was mit Marco Zanetti passiert ist?«

»Nein, es ist immer noch unklar. Fest steht, dass er an einer Kopfverletzung gestorben ist, einem Schädelbasisbruch. Wahrscheinlich wurde er tatsächlich vom Baum tödlich am Kopf erwischt. Sie sind ja selbst Segler und wissen, wie schnell das passieren kann. Der Baum könnte beim Halsen unkontrolliert von einer Seite auf die andere geschlagen sein. Wenn man dann den Kopf nicht rechtzeitig ein zieht …«

»Ich habe das auch schon vermutet. Aber Marco war …«

Simon kam nicht dazu, seinen Einwand zu Ende zu bringen. Carla war schneller. »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Dass das einem so hervorragenden Segler passiert, ist tatsächlich ungewöhnlich. Ich habe ja auch ein Boot und weiß, wovon ich rede.«

Das war Simon neu, und er hätte gerne gewusst, was für ein Boot sie segelte. Sie wirkte robust und sehr sportlich, wahrscheinlich war sie Jollenseglerin wie er. Aber das war nicht der Moment, sie danach zu fragen.

Carla fuhr auch schon fort: »Und es gibt da noch ein paar eigenartige Dinge, denen ich nachgehen will. Die Sache ist die: Zanetti ist am Morgen mit dem Boot in Omegna gestartet. Allein. Das war gegen zehn Uhr. Da haben ihn ein paar Ruderer gesehen. Komischerweise gibt es jedoch einen Zeugen, einen Angler, der das Segelboot gegen halb zwölf gesehen hat, und sich ziemlich sicher ist, dass da noch eine zweite Person an Bord war. Aber er war zu weit weg, um Genaueres erkennen zu können.«

»Was sagt denn die Spurensicherung?«

»Die sagen, dass alles für einen Unfall spricht. Die Spuren am Baum, die Kopfverletzung. Darauf festlegen wollen sie sich allerdings nicht. Eben aus dem Grund, dass es möglich ist, dass da ein zweiter Mann auf dem Boot war und dass man bei so einer Verletzung auch andere Umstände nicht ausschließen kann – sie können die Wunde schlicht nicht hundertprozentig auf einen bestimmten Gegenstand zurückführen. Die Spuren im Boot sind nicht eindeutig.«

»Was meinen Sie mit ›nicht eindeutig‹?«

»Na ja, das Blut am Baum war merkwürdig verwischt, das könnte auch jemand nach Zanettis Tod dort aufgetragen haben, um es wie einen Unfall aussehen zu lassen.«

»Interessant.«

»In der Tat. Wann hat man es hier in der Gegend schon mal mit einem Mörder zu tun, und dann gleich noch mit einem so raffinierten?«

Simon musste über ihren trockenen Humor schmunzeln. »Und was ist sonst noch eigenartig?«

»Ich kann doch auf Ihre Verschwiegenheit zählen?«

»Ja, sicher.«

»Wir haben etwas Kokain im Boot gefunden. Und ein Notizbuch, das Zanetti gehört hat. Und was das angeht, habe ich eine Frage an Sie. Sie könnten mich nämlich morgen auf eine kleine Erkundung begleiten. Das ist vielleicht nicht ganz vorschriftsgemäß, aber ich könnte Sie gut gebrauchen. Sie sind mir ja schon einmal sehr nützlich gewesen. Wenn Sie also einverstanden wären …«

Natürlich war Simon einverstanden. Sehr einverstanden. »Ja, gerne, worum geht es denn?«

»In dem Notizbuch sind ein paar Kontakte notiert, darunter auch welche zu den jungen Leuten, die in den Hügeln auf der Ostseite des Sees, bei Coiromonte, in einem verlassenen Haus leben. Hauptsächlich Deutsche und Schweizer, ein paar Italiener sind auch dabei. Kennen Sie das Dorf?«

»Ja, da bin ich schon gewesen. Ein schöner Fleck.« Simon überlegte, ob er noch etwas mehr dazu sagen sollte, schwieg dann aber.

»Ein komischer Haufen ist das, diese jungen Leute, die da leben. Eigentlich aber harmlos, denke ich. Marco Zanetti war anscheinend mit einem von denen am Abend vorher verabredet, jedenfalls hat er das in sein Notizbuch eingetragen. Morgen will ich dahin fahren, mir die Leute mal genauer ansehen. Da könnte ich Ihre Hilfe als Übersetzer und Ihren bewährten Instinkt gut gebrauchen.«

»Natürlich. Ich komme gerne mit. Wo wollen wir uns treffen?«

»Ich hole Sie in Ronco ab, ich bin morgen sowieso auf Ihrer Seeseite unterwegs, weil ich vorher noch in Omegna bei den Zanettis bin. Ist sechzehn Uhr in Ordnung? Sie kommen am besten schon nach oben auf den Parkplatz, dann können wir gleich starten.«

Simon legte sein Handy weg und atmete tief durch. Ob Carla Moretti ahnte, was für einen Gefallen sie ihm tat, indem sie ihn zu ihrer Erkundung einlud? Er war nun mit im Boot und würde aus erster Hand Informationen darüber erhalten, was mit Marco Zanetti passiert war.

Aber dass die Polizistin ihn in ihre Ermittlung einbezog, gefiel ihm auch aus anderen Gründen. Es gab ihm das Gefühl, dass er kein Fremder mehr war, dass er dazugehörte und in der Gemeinschaft etwas zählte. Er lebte nun schon seit fünf Jahren in Ronco und hatte viele Bekannte am See, sogar Freunde. Aber wirklich heimisch fühlte er sich nach wie vor nicht. Nicht nur für Davide Longhi, auch für die meisten Leute im Dorf war und blieb er il tedesco, der Deutsche, ein Zugewanderter. Ein extracomunitario. So nannten die Italiener die außereuropäischen Flüchtlinge, die nach unermesslichen Strapazen, oft als Schiffbrüchige, aus Afrika über die Inseln im tiefen Süden Italiens in den Norden gelangten. Simon lag es natürlich ganz und gar fern, seine Situation mit dem schweren Los dieser Flüchtlinge zu vergleichen. Und auch die Leute aus dem Dorf hätten Simon niemals als extracomunitario bezeichnet, denn er war ja Europäer, noch dazu ein halber Italiener. Aber im tieferen Wortsinn fühlte er sich bisweilen so: außerhalb der Gemeinschaft stehend.

Dabei war er wahrscheinlich selbst derjenige, der sich ausgrenzte. Weil er ein Einzelgänger war, aber auch, weil ihm vieles in diesem Land fremd war. Der Klientelismus, die Lautstärke, der Unernst, das endlose Gerede, die planlos zersiedelten Landschaften und das oft vulgäre Fernsehen. Es zog ihn aber auch nicht zurück nach Deutschland, zu der Zukunftsangst, der Innenschau, der Besinnlichkeit und dem Tiefgang. Natürlich war ihm klar, dass das alles Klischees, verzerrte Bilder waren. Er schlingerte eben einfach zwischen den beiden Kulturen. Aber zumindest was seinen Wohnsitz anging, hatte er seine Wahl getroffen. Und sogar seine Beziehung zu Luisa setzte er aufs Spiel, um in Italien leben zu können. An seiner Zerrissenheit hatte das nichts geändert. Er war heimatlos, und vielleicht wollte er es auch sein, und das war womöglich die einfache Erklärung für alles.

Über Carla Morettis Anruf hatte er sich gefreut, es hatte ihn aber auch ein leises Unbehagen beschlichen. Die jungen Leute, die er mit ihr am nächsten Tag aufsuchen würde, waren Freunde von Nicola. Das hatte er Carla nicht gesagt. Aber wenn Nicola nun zufällig da sein würde, wenn er dort auftauchte? Allerdings war das unwahrscheinlich, weil sie um diese Zeit normalerweise in der Bar in Orta arbeitete. Sollte er sie anrufen? Nein, das hätte er mit Carla absprechen müssen. Er würde das Ganze einfach auf sich zukommen lassen und hoffen, dass es gut ging.

Lago Mortale

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