Читать книгу Die Chinesische Mauer - Günter Billy Hollenbach - Страница 23

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„Sei leise. Mein Volk schläft schon.“

Sie führt mich eine Treppe hinab, spricht mit gedämpfter Stimme.

„Da sind die Kinderzimmer. Carmen hat ihr Zimmer oben hinter der Küche. Ganz unten ist der Bereich meines Mannes.“

Sie öffnet eine Tür, schaltet aber kein Licht ein.

„Warte, ich ziehe die Vorhänge zu.“

Dann klickt es und zwei starke Wandleuchten tauchen den Raum in helles Licht.

„Wir haben getrennte Schlafzimmer. Mein Mann schnarcht furchterregend laut und ist eine unverbesserliche Nachteule. Ich dagegen brauche viel Schlaf.“

Das beinahe grelle Weiß des ganzen Schlafzimmers finde ich im ersten Augenblick wenig behaglich. Der Raum riecht sauber, frisch, wirkt kühl. Gleich rechts führt eine schmale halboffene Tür zu einem Dusch- und Toilettenraum, links entlang der ganzen Wand läuft ein Einbauschank mit hohen Türen unten und kürzeren darüber. Hinter der breiten, jetzt von einem dichten schimmernden Vorhang bedeckten Fensterseite gegenüber der Zimmertür liegt der steile, begrünte Abhang oberhalb des Broadway.

An der Wand gegenüber den Schränken thront ein wuchtiges Himmelbett. Vier weiße, oben kantige und dazwischen rund gedrechselte Pfosten mit seitlichen Borden, einem seidigen Stoffhimmel kurz unter der Zimmerdecke und an die Pfosten gebundenen, silbrig schimmernden Gardinen. Auf der hohen Matratze liegen ähnlich silbern glänzendes Bettzeug und sechs dicke Kopfkissen. Eine dickbauchige schwarze Vase mit kleinen rotgrünen Sonnenblumen ziert eine weiße Konsole rechts neben dem Bett. Vor der Vase glitzert ein breiter Glasrahmen, darin zwei lachende Kindergesichter, Brian und Janey.

„Unten im Bad hast Du mir mehr als deine nackte Haut gezeigt, Robert. Jetzt bin ich an der Reihe.“

Nancy schnappt zwei Kissen und wirft sie vor dem Fußende des Bettes auf den weißen, flauschigen Teppich.

„Wie Du siehst, habe ich keine Stühle hier. Ist ohnehin bequemer.“

Sie schaut kurz auf ihre goldene Rolex-Uhr.

„Es ist gerade mal viertelnachzehn. Also, wir haben viel Zeit. Da, setz dich, oder stört es dich, auf dem Teppich zu sitzen?“

Das Kissen ist angenehm fest im Rücken. Als ich sitze, weicht etwas von meiner inneren Anspannung. Unser frisch geschlossenes Bündnis im Bett zu besiegeln ginge mir mehr als einen Schritt zu weit. Und irgendwie würde es nicht zu ihr passen. Aber man kann sich auch täuschen, erst recht in einer Frau wie Nancy.

Die hält inne, schaut zu mir herab.

„Wie findest Du das? So wie ich hier bestimme – ich schätze, ich bin längst eine Domina und habe es nur noch nicht gemerkt. Ohne Sex-Spiel und ganz alltäglich.“

Sie zieht heiter lächelnd die Augenbrauen hoch.

„Na gut, dann nimm dich in Acht vor mir.“

Damit dreht sie sich zur Schrankwand.

„Das muss jetzt sein. Vorhin im Bad kam mir der Gedanke.“

Und mir kommen unverschämte Bilder in den Kopf, da mein Blick unweigerlich von Nancys strammen Jeans-Oberschenkeln entlang der Rückseite ihres emporgereckten Körpers aufwärts wandert. Oh nein, mein Herz übt echt leichtes Hüpfen auf der Stelle. Mit der Frau in dieser Umgebung. Doch meine billige Phantasie wird schnell eines Besseren belehrt. Nancy zieht aus einem der Schrankfächer ein dickes, großformatiges, schwarzes Buch mit Goldkante hervor.

„Entschuldige, es wird sehr intim, auf meine Weise. Und Du musst voll dabei sein, okay?“

Sie setzt sich augenzwinkernd, rückt dicht an mich heran. Wir strecken die Beine nebeneinander aus. Mir wird wohlig ums Herz. Zugegeben, es kribbelt in der Hose. Erst recht, wenn ich seitwärts auf Nancys seidig schimmernden Oberarm schiele.

Ich bin kein Draufgänger, war es auch früher nicht. Wie wir jetzt miteinander umgehen – Herz, was begehrst du mehr?! Ich genieße Nancys Nähe, ihren Geruch, ihre Stimme. Schöner hätte ich mir – nach dem Tag – heute Abend nicht vorstellen können; mit dieser Frau, vertrauensvoll, aufmerksam füreinander und immer weniger fremd.

Ein unerwartetes Geschenk. Selbst die Badezimmerszene bekommt im Rückblick etwas hintersinnig Liebevolles. Die wahre Größe des Geschenks wird mir allerdings erst bewusst, nachdem Nancy das Buch längst wieder geschlossen hat.

*

Sie beginnt im Tonfall einer besten Freundin, die über das vergangene Wochenende berichten möchte.

„Da musst Du jetzt durch, Robert.“

Natürlich sind mir vorhin nach dem Wort Schlafzimmer flüchtig sexuelle Bilder und Befürchtungen durch den Kopf geblitzt.

Was Nancy mir nun bietet, habe ich mir nicht vorstellen können.

Es liegt weit jenseits sinnlich-erotischer Phantasien.

„Schau her, Berkamp – klingt irgendwie netter als Robert – also, mein Lieber; hier, mein Vater als junger Mann, siebzehn, achtzehn Jahre alt. Dieser altmodische Strickpullover und die unmöglichen Hosen! Wie eine Trainingshose. Das war damals scheinbar Mode. Die waren sehr arm, am Anfang, seine Familie, wie die meisten Leute.“

Sie schiebt das schwere Fotoalbum, das ihre und meine Oberschenkel teilweise bedeckt, etwas weiter zu mir. Ein hochformatiges, ungewohnt kleines Schwarzweißfoto mit weißem Wellenrand zeigt einen verlegen in die Kamera schauenden schmalen Chinesen-Burschen mit vollem schwarzem Haar – wie in ungezählten Erinnerungsbildern, die nur den nächsten Verwandten etwas bedeuten und den Betroffenen schon kurze Zeit später peinlich sind.

„Hier, da war er schon im Geschäft ...“

Der gleiche schlanke Bursche, ein paar Jahre älter, das Bild etwas größer, stolz lächelnd gegen die Haube eines hochbeinigen Vehikels gelehnt.

„Das war sein erstes eigenes Auto, ein gebrauchter Rambler, damals eine billige Kiste. Heute kennt keiner mehr die Automarke.“

Nancy hebt den Blick vom Bild, wir sehen uns an, ich fühle mich erröten, ihr Oberarm schubst meinen, und sie sagt mit bitteren Unterton:

„Bleib bei der Sache, meine Lieber. Ich erzähle dir jetzt eine typisch amerikanische Erfolgsgeschichte, ... mit allem, was dazugehört.“

Sie blättert um. Zwei Seiten weiter deutet sie auf ein noch größeres Bild; eine mittelgroße graubraune Lagerhalle aus Backsteinmauern, von denen der meiste Putz abgebröckelt ist. Über dem dürftigen dunkelbraunen Holztor prangt, damals wohl neu angefertigt, das schmucklose Schild „Yee Wong-Trading.“

„Womit hat dein Vater gehandelt?“

„Das zeigen die Bilder nicht. Meine Großeltern vaterseits hatten Glück; sie kamen 1915 ins Land. Denn von 1924 an galt für Chinesen ein striktes Einwanderungsverbot. Das wurde zwar 1943 aufgehoben. Doch chinesische Einwanderer stießen weiterhin auf hohe bürokratische Hürden. Zugleich gab es längst eingespielte Wege zur Umgehung des früheren Verbots und seiner Nachwirkungen. Dabei ließ sich viel Geld machen. In dem Dunstkreis fing mein Alter an, mit verrückten Sachen. Er hat einem Onkel geholfen, nachts heimlich mit einem morschen Boot Leute von Frachtschiffen weit draußen an Land zu schmuggeln. Das war oben in Seattle. Die Gegend, bis ins kanadische Vancouver, hat seit über hundert Jahren eine große chinesische Gemeinde. Alles einfache, anständige Leute; viele haben wie zuhause Kleinlandwirtschaft gemacht. Aber die Städte brauchten immer mehr billige Hilfskräfte.“

Nancy spricht ruhig und flüssig, wie eine Geschichtslehrerin, der Sachkunde vor Anteilnahme geht.

„Mein Vater war immer ein bisschen schlauer als die anderen. In der Schule wurde er deswegen oft verhauen, hat er behauptet. Also hat er Sport getrieben, Nahkampf trainiert und sich geschworen: Denen werde ich es zeigen. Dann hat er angefangen, von armen Leuten Totenscheine zu kaufen, für ein paar Cents.“

Mit den Namen und geändertem Alter hat er chinesische Papiere, Pässe und Aufenthaltsgenehmigungen gefälscht. Zusammen mit einem Kumpel, der gut in Kaligraphie war. Der Trick bestand darin, unbemerkt in den Hafen und an Bord zu gelangen, sobald ein Frachter aus Shanghai oder Hongkong anlegte. An Bord hat er Leute angesprochen, die passend schienen, und ihnen die Dokumente verkauft.

„Damit sind die anschließend durch den Zoll und das Einwanderungsbüro marschiert. Hongkong lief besonders gut, weil das zu der Zeit englische Kronkolonie war; da hat kaum ein amerikanischer Zöllner zweimal hingeschaut.“

„Wie kann man auf solche Ideen kommen,“ wundere ich mich.

„Tja, Not und Erfindergeist. Die Illegalen hatten fast kein Geld und waren fremd in der Stadt. Also hat mein Vater sie in seine Obhut genommen und für sich arbeiten lassen. Obst- und Gemüse-Transport mit Handkarren vom Hafen zu Märkten. Das schafft Abhängigkeiten, die ein Leben lang halten. Weil die Leute irgendwo schlafen mussten, hat er abbruchreife Lagerhallen gekauft und von den Bewohnern Miete kassiert. Unversehens waren damit die ersten Schritte ins Transportgewerbe und Immobiliengeschäft getan.“

„Oh Mann, Nancy, das klingt wie ein Mafia-Roman im alten New York.“

„Stimmt, nur dass es kein Roman, sondern Wirklichkeit war. Die Italiener, die Iren, Polen, fast alle großen europäischen Volksgruppen haben es getan, so oder ähnlich. Ich gehe jede Wette ein, die Hälfte der heutigen Amerikaner haben Vorfahren, die auf vergleichbar krumme Weise ins Land gekommen sind. Nur die Schwarzen wurden ganz legal importiert, auf französischen und englischen Sklavenschiffen. Manche der heutigen amerikanischen Erfolgsbürger, viele Deutsche zum Beispiel, wurden von ihren Fürsten hierher verkauft, als Bauern für den nördlichen Mittelwesten oder als Soldaten.“

„Unglaublich. Einwanderung der etwas anderen Art. Was ist eigentlich mit deiner Mutter?“

Nancy beweist Sinn für Spannung und packende Erzählung.

„Geduld, kommt gleich. Einmal wurde mein Vater angeklagt, 1959, wegen Menschenhandels; darauf stand bis zu 25 Jahre Strafe. Dank eines guten Rechtsanwalts, selbstverständlich kein Chinese, ist am Ende eine Ordnungswidrigkeit wegen mehrfacher Urkundenfälschung rausgekommen, zweitausend Dollar Bußgeld, sehr viel Geld damals. Der Anwalt konnte glaubhaft machen, dass der Zoll die Taten begünstigt hat. Zwei Zöllner wurden daraufhin entlassen. Einen davon hat mein Vater in seiner Firma eingestellt.“

Natürlich blitzen in mir Erinnerungsbilder meines Vaters auf, Hauptmann der amerikanischen Armee, den ich allerdings nie in Uniform gesehen habe. Er hat immer nur Englisch mit mir gesprochen und wir haben uns bestens verstanden. Wenn er nur nicht so häufig und lange weggewesen wäre. Über seine Arbeit hat er zuhause nie gesprochen. Im unbewussten Vergleich der beiden Väterbilder öffnet sich mein Inneres noch weiter für Nancy. Unglaublich. Was habe ich sie heute Morgen angestarrt, fast hilflos. Jetzt ist nichts mehr da von der verwirrenden Faszination. Statt dessen viel Zuneigung mit einer Spur Wehmut.

Ich flüchte mich in eine knappe, beinahe heisere Frage:

„Und, wie ging es weiter?“

Sie bleibt bei ihrem Tonfall der Berichterstattung.

„Glaubst Du, damals hat irgendeiner von Organisierter Kriminalität gesprochen? Das Wort wurde erst später erfunden. Das FBI hatte alle Hände voll zu tun, landesweit unamerikanische Kommunisten aufzuspüren und die Indianer in den Reservaten zu drangsalieren. Die Wirtschaft war im Nachkriegsaufschwung und froh über billige Arbeitskräfte. Zum Schluss hat der Richter den Staatsanwalt gefragt, warum die Menschen, die mit dieser Art von Einwanderungshilfe letztlich allen Beteiligten, sogar dem Land, etwas Gutes tun, wie Kriminelle behandelt werden müssen. Nachlesbar im Protokoll der damaligen Verhandlung. Mein Vater jedenfalls stand danach nie wieder vor Gericht.“

Nach einer kunstvoll gesetzten Pause ergänzt sie:

„Gefangengenommen wurde er trotzdem.“

Die Chinesische Mauer

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