Читать книгу Die Chinesische Mauer - Günter Billy Hollenbach - Страница 25
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ОглавлениеAls wir aufstehen, umarme und küsse ich Nancy, ohne viel zu überlegen, kurz auf beide Schläfen. Nach allem, was ich heute mit ihr erlebt habe. Und aus Anteilnahme an dem, was sie mir zuletzt erzählt hat. Sie blinzelt mich mit großen Augen an, lächelt wie eine schüchterne junge Frau.
Oben wartet sie an der Haustür, bis ich Schuhe und Jacke angezogen habe, öffnete die Tür ein Stück, drückt sie wieder fast zu, umarmt mich beherzt und küsst mich fest auf beide Wangen. Ich bin ehrlich überrascht. Doch ehe ich mich versehe, schiebt sie mich zur Tür hinaus.
„Bitte, denk daran. Heute Abend. Halbsieben hole ich dich ab.“
„Nancy, müssen wir wirklich zu deinem Vater fahren?“
„Ich kann darauf verzichten. Aber Du? Das wäre unklug. Betrachte es als eine vertrauensbildende Maßnahme – für alle Beteiligten. Zum letzten Mal: Danke, ... von ... Herzen, ... für ... alles. Gute Nacht.“
Dann fällt die Tür ins Schloss.
*
Die Florence-Treppe ist vom Broadway her nur mäßig beleuchtet. Ich laufe die Stufen eilig hinab. Kaum zu glauben, was ich an diesem einen Tag alles erlebt habe. Nur weil ich hier – zur falschen Zeit am falschen Ort .... Blödsinn; es sollte so sein, egal warum. Und ich war zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort und habe das Richtige getan! Hiermit beschlossen. Janey ist es wert. Und Nancy zehnmal mehr.
Es ist windig und – kaum überraschend – deutlich kühler als während des sonnigen Tages. Dank der häufigen Brisen vom Pazifik her ist die Luft in der Stadt meist sauber, riecht immer frisch. An dem Durchlass der flachen Quermauer am Broadway atme ich kräftig durch.
Auf der schmalen steilen Treppe unterhalb des Wong-Hauses kommt mir der Angreifer in den Sinn. Hier hinab ist der Kerl geflohen. Wer hat ihn angestiftet? Allein und von sich aus hat der das nicht getan. Davon bin ich überzeugt, nach allem, was ich inzwischen gelernt habe.
Mein Hotel liegt kurz vor dem „Tor zum Himmlischen Frieden“ in der Grant-Avenue. Etwas höher verläuft parallel dazu die breite und gut beleuchtete Stockton-Straße. Jetzt ist sie menschenleer, fühlt sich seltsam verlassen an. Ich folge ihr mehrere Blocks. Dunkelgraue Wellblech-Rolltore oder schwere Eisengittervorhänge verschließen die meisten Eingänge und Schaufenster der zahllosen chinesischen Läden. Die unebenen Steinplatten sind teilweise noch feucht vom abendlichen Wegspritzen der übelriechenden Fisch-, Obst- und Gemüseabfälle in die Rinnsteine.
Im einzigen erleuchteten Geschäft weit und breit, einer Tag und Nacht geöffneten Walgreens-Drogerie mit allem Möglichen für den täglichen Bedarf, kaufe ich eine kleine Dose Melatonin-Tabletten. Dieses natürliche Schlafmittel ist rezeptfrei und spottbillig zu haben. Vorsorglich, weil ich zu aufgedreht bin, um auf ein baldiges Einschlafen zu hoffen.
Nur zwei oder drei Autos rauschen um die Zeit, kurz nach Mitternacht, vorbei. Ein fast leerer Elektrobus holpert mit dem klappernden Schaben seiner Stromabnehmer an den beiden Oberleitungskabeln über die unebene Washington-Kreuzung davon.
Wenig später biegt weiter unten ein schwarzweißer Streifenwagen in die Stockton-Straße ein. Der Polizeiwagen rollt auf der gegenüberliegenden Fahrbahn mit mäßiger Geschwindigkeit heran, verlangsamt seine Fahrt auf Schritttempo, als er meine Höhe erreicht. Im Widerschein der Straßenbeleuchtung über der Fahrbahn sehe ich die Scheibe auf der Fahrerseite hinabgleiten.
Mein Gesprächsbedarf mit Polizei ist für heute gedeckt.
Andererseits, der neue Tag hat gerade begonnen.
„Hey, mein Mann, wohin des Weges um die Zeit?,“ tönt eine laute Männerstimme aus dem Dunkel des rollenden Wagens.
„Hey, Heimweg, Richtung Hotel, mein Mann!,“ gebe ich zurück.
Mit meinen neuen „Freunden“ Clayton und Contreras rede ich in gewöhnlichem Umgangston, also auch mit dem Beamten.
„Und wo wäre das?,“ fragt er zurück.
„Pine-Straße, Ecke Grant.“
„Klingt gut. Ist nicht weit. Bewegung ist gesund. Pass auf, sonst fällst Du von der Kante des Fußwegs runter!“
„Danke. Solange Du mich aufhebst, kann mir nichts passieren.“
„Worauf Du einen lassen kannst. Gute Nacht.“
Damit gleitet die Seitenscheibe hoch und der Wagen beschleunigt.
*
Meine Abendmeditation dauert heute nur fünf Minuten. Sie endet mit einer Einsicht, an die ich mich noch gewöhnen muss. Seit dem Vormittag bin ich kein gewöhnlicher Besucher mehr, der demnächst in einem privaten Workshop Kurzvorträge hält und Übungen begleitet.
Dank meiner guten Tat.
Ich bin ein amtlicher Vorgang, der in die Kriminalstatistik der Stadt einfließt. Über der gewohnten Landkarte der Stadt breitet sich eine neue, fremdartige Ebene aus. Die vertrauten Häuser, Straßen und Plätze verblassen darunter werden zu bedeutungslosen Randerscheinungen. Die neue Ebene teilt, im Denken und Fühlen, die Stadt in zwei gegensätzliche Kraftfelder.
Zwischen denen ich – teils ratlos, teils verwundert – hänge. Von beiden Feldern ahne ich die Umrisse und was sie antreibt. Die Gesetzeshüter und ihre Arbeit gegen die Übel des Organisierten Verbrechens kennzeichnen das eine Kraftfeld. Das andere erscheint beängstigender. Zugleich faszinierender. Beherrscht von einer jungen Frau mit der wilden, traurigen, selten erzählten Geschichte ihrer Familie. Deren Wohlstand unsauberen Geschäften entsprungen sein kann – oder auch nicht; jedenfalls mit einem ehemaligen Gangsterboss als Vater. Die aus einem trügerischen Alltagsfrieden gerissen wurde.
Durch einen Mann, der seinen Auftrag nicht ausgeführt hat.
Der mich dafür hasst, dass ich dazwischenkam.
Auch wegen seiner kaputten Nase. Der keine Ruhe geben wird.