Читать книгу Die Chinesische Mauer - Günter Billy Hollenbach - Страница 24
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Оглавление„Dein Vater, gefangen genommen? Wie das?“
Nancy schließt das Album, schaut mich lange an.
Beneidenswert, diese glatte, samtige Gesichtshaut, darin allenfalls winzige Spuren einzelner Falten. Doch um ihre Augen herum und in den Mundwinkeln zeigt es sich. Nancy kämpft mit heftigen Gefühlen. Schließlich erklärt sie mit leichtem Zittern in der Stimme:
„Weil er den Fehler beginn, nach Las Vegas zu fahren. Eines Abends im „Gold Dust Casino“, noch vor dem großen Umbau, traf er eine junge Frau, Lorna Sunflower Hogan. Reinrassige Cheyenne, bildschön, anmutig, sauber und blitzgescheit. Das Mädchen kam aus einem winzigen Kaff mit dem bezeichnenden Namen Kit Carson nahe Sand Creek im östlichen Colorado. Sie war dem Elend ihres Dorfes entflohen, wollte die Welt erobern.“
Nancys Augen werden groß und glänzen feucht.
„In Vegas hat sie einen Poker-Tisch gemacht. Sie war gerade zwanzig, mein Vater immerhin schon siebenunddreißig. Als er fragte, was er tun müsste, um mit ihr ausgehen zu dürfen, soll sie geantwortet haben, sie sei weder dumm noch käuflich. Als er nicht locker ließ, hat sie spöttisch gemeint, er müsste den ganzen Laden kaufen. Dann wäre er zumindest ihr Boss, aber mehr nicht.“
Wie in einer Kitsch-Romanze, denke ich.
Nancy ergänzt trocken:
„Drei Tage später war Vater Eigentümer des Casinos.“
Oh Mann, der alte Wong muss damals schon reichlich Geld und Beziehungen gehabt haben. Seine Tochter sitzt jetzt neben mir. Ich kann sie nur schweigend ansehen, warte, was sie als Nächstes sagt. Bin sicher, es ist wenig romantisch.
Nancy schluckt heftig, eine Träne kriecht ihre Wange hinab.
„Las Vegas-Story. Und das Schicksal nahm seinen Lauf. Zwei Fehlgeburten in kurzer Folge, dann kam ich. Meine Mutter war eine Wucht; stolz, hübsch, klug und gnadenlos aufrichtig. Und trotzdem dumm.“
„Sie war?“
„Ja, sie war. Bis vor siebzehn Jahren. Da war sie tot.“
„Oh nein! Das tut mir leid. Was geschah damals?“
„Berkamp, Robert, bitte versteh’, es fällt mir schwer ... Schau ...“
Sie nimmt das Album wieder auf, blättert hastig durch mehrere Seiten.
„Hier. Darf ich vorstellen – meine geliebte Mammi Lorna.“
Es gelingt Nancy nicht, weitere Tränen zu unterdrücken.
„Hast Du noch mein Taschentuch? Entschuldige.“
„Ja, Augenblick, hier. Nichts zu entschuldigen.“
Während sie ihre Augen abwischt, fährt sie fort:
„Ich war damals gerade Fünfzehn.“
Als sie das Album in meine Richtung neigt, erschrecke ich ein wenig. Angesichts der großen Ähnlichkeit. Erst bei genauerem Hinsehen erkenne ich kleine Unterschiede. Die Frau auf dem Foto hat – abgesehen von dem längeren, tiefschwarzen Haar mit Mittelscheitel – einen etwas breiteren Mund und ein kräftigeres Kinn; eine hinreißende Schönheit mit einem bezaubernden Lächeln.
„Mann, da kann man deinen Vater verstehen.“
„Gefällt sie dir?“
„Es ist nur ihr Bild. Aber es zeigt eine ungewöhnlich hübsche, bestimmt sehr charmante Frau.“
„Das war sie. Stolz und eigensinnig. Sie hat ziemlich schnell mitbekommen, welche Art Geschäfte meinen Vater reich gemacht haben.“
„Und, wie fand sie das?“
„Unerträglich. Kompromisslos unerträglich.“
„Oh. Und dein Vater ... hat sie ihm das gesagt?
„Knallhart und unerbittlich. Hat er selbst zugegeben. Sie hat von Anfang an alles daran gesetzt, ihn zu gesetzestreuem Handeln zu veranlassen. Deshalb sind sie von Seattle hierher gezogen. Lorna war geradezu besessen von dem Gedanken, ein anständiges Leben zu führen. Das wurde ihr zum Verhängnis.“
„Ernsthaft?! Wieso das denn?“
„Berkamp, bitte, lass es. Ich weiß selbst nicht, was ich glauben soll.“
Sie starrt auf das Foto, presst die Lippen zusammen, fährt dann aber leise fort:
„Mammi hat immer gesagt: Ihr Volk hat unter den Lügen, dem Raub und dem Morden der Weißen erbärmlich genug gelitten. Sie vergisst dabei gern, dass die Cheyenne anderen Indianervölkern nicht gerade friedfertig begegnet sind. Die hatten das Kämpfen im Blut. Egal. Sie hatte gehofft, in Vater einen besseren, einen reichen, aber ehrlichen Mann zu finden. Die beiden haben sich bestimmt geliebt; wir hatten ein sehr gutes Leben und einen liebevollen Alltag. Nur was die Geschäfte anging, gab es nach wenigen Jahren Streit. Immer öfter und immer lauter. Ihre Drohung war einfach: Entweder, oder sie geht. Mit mir natürlich.“
Nancy sitzt da, schaut mit nassen Augen auf das Foto ihrer Mutter und sieht wie ein kleines Mädchen aus. Ich versuche mir die Eltern miteinander vorzustellen, entdecke jedoch nur grauen Nebel im Kopf und Unbehagen im Bauch. Viel leichter kann ich mir ausmalen, wie sie ihn mit bissigen Fragen und heftigen Vorwürfen gereizt hat. Aber das Bild der schönen Frau, trotz der verblassten Farben, will nicht recht passen zu bitterem Ehekrach.
„Wie ging es weiter? Mit deinen Eltern?“
Nancy schnieft mehrmals und sagt leise:
„Mein Vater ... wusste immer, ... wie man mit sauberen Händen dasteht. Sie wurde erschossen ... aus einem vorbeifahrenden Auto heraus ... durch die Scheibe des Küchenfensters. Da haben wir noch hinten in der Balboa-Straße gewohnt. Ich war in der Schule. Er behauptet, sein Geschäftsführer, sein engster Vertrauter, hat es getan.“
Ihr kommen erneut die Tränen.
„Aus Angst um seine eigenen, miesen Geschäfte, die nicht mehr liefen, wenn Vater anständig wird.“
„Gott, ist das traurig,“ sage ich leise.
Sehe vor mir das Gesicht der Mutter, teilweise wie ein Foto, von Kugeln durchlöchert und mit Blut bespritzt. Sehe in der nächsten Sekunde den strahlenden „Star“ aus dem edlen Mercedes steigen.
So kläglich wie sie klingt, so kummervoll sieht sie jetzt aus.
Wer hätte das gedacht?
Ich lege meinen rechten Arm um ihre Schultern, ziehe sie sanft seitlich an mich; fühle: „meine“ Nancy, Mädchen.
Sie wischt sich die Augen ab. Ich lasse meinen Arm an ihrem Rücken hinabsinken.
„Hat er es zugegeben, der Geschäftsführer?“
„In den Kreisen herrschen andere Gesetze. Fragen kann ihn keiner mehr. Am nächsten Tag verschwand er. Angeblich verreist, nach Seattle. Dort hat ihn sicher ein böses Erwachen erwartet ...“
Sie fährt sich mit dem Taschentuch erneut über die Augen, drückt es unter die Nasenflügel.
„Dir ist klar, Nancy, dass ich deinem Vater morgen Abend nicht mehr unbefangen begegnen kann?“
„Absolut!“
Mir läuft eine Schauer über den Rücken, eine merkwürdige Mischung aus Überraschung und Gewissheit. Nancy spricht mit mir so offen wie vielleicht mit der wirklich besten Freundin; über Dinge, die sie ihren eigenen Kindern wahrscheinlich nur in geschönter Form erklärt.
Sie legt ihre linke Hand in meine rechte.
„Deswegen zeige und sage ich es dir. Seitdem ist mein Vater für mich ein fremder Mann. Ich verachte ihn nicht, ehrlich. Er schwört, er hat Mammi nicht getötet. Das ist mir vollkommen egal. Er ist Weltmeister im eiskalten Lügen. Man kann auch schießen, ohne selbst einen Finger zu krümmen. Er ist schuld; durch ihn musste ich ohne meine liebe Mammi aufwachsen. Das allein zählt für mich.“
Den Mann sollen wir morgen besuchen?
„Das ist tragisch. Wirklich keine schöne Jugend.“
Wir sitzen da und schweigen. Ich bin gerührt, froh über die Stille. Spüre das Vertrauen zwischen uns weiter wachsen.
„Was ich am schlimmsten finde?,“ sagt Nancy zu sich selbst; „ich frage mich manchmal, ob ich mehr von ihm abbekommen habe, als mir lieb ist. Du lernst, dich innerlich abzuschotten.“
Ich ziehe das Album etwas näher, betrachte erneut das Bild ihrer attraktiven Mutter.
Nancy lehnt ihren Kopf gegen meine Schulter, lächelt bittersüß.
„Tja, Robert, mein Schlafzimmer hat es in sich.“
„Verrückt, ohne seine Geschäfte hätte er deine Mutter nie getroffen.“
„Und mich gäbe es nicht. Tatsächlich reichlich irre! Und, wie gesagt, sehr amerikanisch.“
Sie bringt ein kurzes, unglücklich-tapferes Lachen hervor.
„Komm, ich zeige dir Bilder meiner Kinder. Die es dann auch nicht gegeben hätte. Die beiden. Ihre schwarzen Augen haben sie von meinem Mann. Aber von mir haben sie den Willen und das Wesen. Warte, ich zeige dir meinen Mann.“
„Entschuldige, Nancy. Aber das wird mir langsam zuviel, ehrlich.“
„Hey, Du kannst hier schlafen. Wir haben zwei Gästezimmer.“
„Nein, vielen Dank. Ich muss mich bewegen und möchte allein sein.“
„Du willst zurück in dieses ... Hotel? ... Komm, ich fahre dich.“
„Absolut nein, Nancy. Danke dir, ich laufe.“
„Du spinnst, mitten in der Nacht.“
„Kein Problem. Habe ich schon öfter gemacht. Die Gegend ist sicher.“
„Gewiss doch, das haben wir heute bewiesen bekommen!“
„Ich passe schon auf.“