Читать книгу Die Chinesische Mauer - Günter Billy Hollenbach - Страница 29
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ОглавлениеKeine Frage: Ich sitze in der Klemme. Dank meiner beherzten Augenblicksentscheidung. Zwischen Leuten, die Recht und Gesetz durchsetzen sollen. Und Leuten, die darüber wenig erfreut sein dürften.
Als Ergebnis dieser Einsicht wird mein Unbehagen groß genug, dass es mich ärgert. Laufen hilft dagegen, in Grenzen. Menschen sind nun mal gemacht um sich zu bewegen.
Bis China-Town sind es zwanzig Minuten zügig zu Fuß. Hinter dem Stockton-Tunnel weitet sich die Straße mit zahllosen engen, teilweise mittelalterlich einfachen Gemüse-, Kräuter-, Fisch-, Haushaltswaren- oder Krimskramsläden zur wirtschaftlicher Hauptschlagader des chinesischen Stadtteils.
Wie an jedem Werktag drängen sich auf den klebrigen, schmutzigen Gehwegen fremdartige Wesen. Überwiegend ältere, kleine, rundliche oder mickrig schmale, ärmlich und altmodisch gekleidete Menschen. Sie scheinen mehr zu krabbeln als zu gehen. In die Motorengeräusche der Lieferwagen, Autos und Busse mischt sich ihr vielstimmiges Geschnatter, Gelächter, oder der wie Jammern klingende Singsang alter Frauen und Männer. Mit Gesichtszügen, die ich mit dem ländlichen China verbinde; viele auch, die für mich mongolisch aussehen, gerötet, derb, verschlossen. Mit ihren dünnen Plastiktüten oder zweirädrigen Gehhilfen und Einkaufskarren füllen sie die Gehsteige, zwingen mich mehrfach zum Ausweichen auf die Fahrbahn. Englische Sprache hört man hier selten; amerikanische Touristen wagen sich nur gelegentlich und meist in Grüppchen in das Gewusel.
An der Kreuzung zur Clay-Straße verstehe ich, was mich hierher treibt. Statt gleich ins Hotel zu gehen. Ich sehe die Umgebung mit anderen Augen, ohne das staunende Wohlwollen des fremdländischen Besuchers. Sich hier Nancy und ihre beiden blitzsauberen Kinder vorzustellen – unmöglich! Die drei trennen Welten von diesem Stadtteil, der nur wenige Straßenzüge von ihrem Haus entfernt ist. Für eine Frau wie Nancy Wong bietet die Gegend nichts Verlockendes, verkörpert nur die zähe Weigerung, im Amerika des 21. Jahrhunderts anzukommen. Wetten, von den Leuten hier kann fast keiner Englisch sprechen.
*
Vor gut vier Jahren der Trainingskurs „Krisen-Kommunikation“ an der Universität von Santa Cruz. Verhandeln in Grenzsituationen, etwa mit Geiselnehmern oder Leuten, die vom Dach springen wollen.
Zu dem Kurs gehörte ein dreitägiges Sicherheitstraining mit Polizeiausbildern aus Los Angeles. Neben Theorie und Grundregeln – „Der Angreifer hat fast immer einen Plan, das Opfer ist meist ahnungslos“ oder „Steige niemals freiwillig in ein fremdes Auto“ – wurden auch praktische Übungen durchgeführt.
An einem Nachmittag galt es, ungebetene Verfolger zu entdecken; unten in dem beschaulichen Städtchen Santa Cruz. Um die Erfahrung wirklichkeitsnah zu gestalten, hatte man für zehn Dollar Handgeld mehrere Studenten aus anderen Fachbereichen angeworben. Die mussten uns Teilnehmer zeitlich gestaffelt beschatten. Die Übung schien einfach und vergnüglich – bis mir beim Verlassen eines großen Buchladens eine junge Schwarze in grünem Polohemd und schwarzen Jeans vor der Tür ihren Zeigefinger in die Seite schob und mit bezauberndem Lächeln ,Peng, du bist tot,’ sagte.
An dem Abend habe ich lange wachgelegen.
Es brauchte gut einen Tag und wiederholt geduldiges Üben der wichtigsten Verhaltensregeln und Wahrnehmungsfähigkeiten, bis ich meinen Schrecken überwunden hatte.
Eine von Corinna gern gepredigte Regel für ihre Polizeiarbeit sagt:
Es gibt keine Zufälle.
Wieso kommt mir das damalige Training jetzt in den Sinn?
An sich kein Wunder bei dem, was seit gestern meine Gedanken beherrscht. Doch da ist mehr. Als ich meine Aufmerksamkeit auf den Nacken richte, erschrecke ich ein wenig. Ich spüre das typische Kribbeln. Wenn mich jemand von hinten anstarrt, meldet es sich zuverlässig. Wieso habe ich das nicht früher bemerkt? Das kommt davon. Wenn du über beängstigende Ereignisse und Leute grübelst. Statt auf die Umgebung zu achten. Oder einen möglichen Verfolger.
Na schön, das lässt sich herausfinden.
Kurz entschlossen wechsele ich die Straßenseite. Zwischen den kriechenden Autoströmen aus beiden Richtungen der breiten Stockton-Straße ist das zwar unschön, aber nicht wirklich gefährlich. Am Randstein gegenüber drehe ich mich um, schaue hin und her, tue so, als suche ich etwas, ein bestimmtes Haus, ein Straßenschild. Niemand läuft gleich nach mir über die Fahrbahn.
Zugleich suche ich den Gehweg gegenüber ab. Steht jemand an der Gehwegkante, bereit, auf meine Seite zu wechseln? Niemand, der hervorsticht. Wendet sich jemand ab, um nicht erkannt zu werden? Unmöglich zu sagen bei den vielen Menschen. Ist da eine Person, deren Anblick mir das Gefühl gibt: Die hast du schon vorher gesehen? Alles gute Mittel, sich selbst verrückt zu machen.
Drei Läden weiter drehe ich mich in eine offene Tür, beobachte aus dem Geschäft heraus, was durch die Schaufensterscheibe sichtbar ist. Dabei klickt es in mir. Eine junge schlanke Frau, schwarze kurze Haare, chinesische Gesichtszüge – welch eine Überraschung in dieser Gegend –, dunkelblaues Sweatshirt unter einem braunen Lederblouson, hellblaue Jeans, kommt seitlich näher, schlängelt sich zwischen zwei eng geparkten Autos auf den Fußweg rechts von mir. Sie trägt nichts bei sich, keine Tasche, keinen Beutel; scheint keine Eile zu haben. Sie kommt einige Schritte näher, schaut gelangweilt in den Laden, schielt zur Seite, geht schnell weiter. Ich warte drei Sekunden, spähe an der Tür nach links hinter ihr her. Sie steht unschlüssig ein paar Meter entfernt am Rinnstein.
Ich fühle mich bestätigt, bin hellwach.
Die Frau schaut auf die Fahrbahn, ich gehe eilig nach rechts und ducke mich in die Tür eines schmalen Eingangs vier Häuser weiter. Als die Frau wenig später vorbeieilt, bin ich sicher.
Ich werde beschattet.
Deutliches Herzklopfen. Und nun? Im Durchatmen sehe ich den Angreifer auf der Florence-Treppe vor mir. Ist die Frau eine Bekannte des Mannes? Wer sonst interessiert sich für mich, folgt mir heimlich durch die Stadt? Wo hat sie mich erwartet? Bereits an der „Hall of Justice“?
Da war noch kein Kribbeln im Nacken. Oder? Wie in einem geistigen Tunnel bin ich von der Polizei zum Lebensmittelmarkt gewandelt. Auch anschließend habe ich wenig Sinn für die Umgebung gehabt.
Was will die Frau?
Mich angreifen? Der Stockton-Tunnel, wo nur selten Fußgänger die engen Seitenwege benutzen, wäre dafür besser geeignet gewesen. Allerdings hängen dort mehrere Videokameras. Die Menschenmenge vor den Geschäften bietet ihr mehr Schutz und bessere Fluchtmöglichkeiten. Aber auch Leute, die sie aufhalten können. Die meisten Händler haben junge Männer vor ihren Läden stehen, die ein Auge auf Ladendiebe und Störenfriede werfen.
Sie will herausfinden, wo ich wohne. Das muss es sein. Anschließend informiert sie jemanden; wahrscheinlich den Mann mit der gebrochenen Nase. Keine schönen Aussichten. Dennoch, das Überdenken lässt mich ruhiger werden.
Ich muss meinen Schatten abhängen.
Ohne festen Plan folge ich dem engen Flur, in den ich mich hineingeduckt habe. Von der Straße her fällt schwächer werdendes Licht in den Gang. Es riecht aufdringlich nach Bohnerwachs, auch nach Ingwer. Ich schleiche unschlüssig weiter. Der Gang, von dem rechts ein steiles, dunkelbraunes Holztreppenhaus aufsteigt, endet an einer schmalen Tür mit einem kleinen Milchglasfenster in Augenhöhe. Während ich noch überlege, was sich dahinter befinden mag, geht die Tür auf. Ein gebeugter grauer Mann kommt mir entgegen. Er sagt zwei oder drei Worte, die für mich Chinesisch klingen, und hält mir im Weitergehen die Tür auf.
Beim Betreten des Raums schlagen mir das laute, näselnde Gegacker vieler chinesischer Männerstimmen und eine dichte hellgraue Wolke aus Tabakqualm und weniger erträglichen Gerüchen entgegen. An sieben oder acht kleinen Tischen hocken Gruppen von drei bis fünf Männern, die angestrengt oder erregt zwischen ihren Gegenübern und Spielbrettern mit Würfeln und weißen Spielknöpfen hin- und herschauen. An einem Tisch spielen nur Frauen.
Ich glaube es nicht, ein Hinterzimmer mit vermutlich illegalem Glücksspiel für kleine Leute?!
Die meisten Männer wirken alt und verbraucht; gebeugte, gebrechliche Gestalten mit eingefallenen Schultern, schütteren Haarsträhnen, hageren, zerfurchten Gesichtern, viele mit Ziegenbärten aus dünnen, weißen Haaren. Kaum einer schenkt mir Beachtung. Dann ruft doch irgendjemand etwas, mehrere der Männer schauen kurz in meine Richtung, lachen meckernd, spielen ungerührt weiter.
In der Wand gegenüber ist eine weitere Tür mit einer etwas größeren Scheibe. Ich schlängele mich an den Spieltischen vorbei. Die Tür ist unverschlossen. Unversehens stehe ich in einer schmalen, für Autos gesperrten Gasse unterhalb der Stockton-Straße. Fünf Kinder spielen johlend Fußball. Kupferne Metallbuchstaben im Straßenbeton erklären auf Englisch und Chinesisch, dies sei die Gasse der „wohlriechenden Kräuter“. Ich schaue mich um, atme kräftig durch, um den Gestank aus dem Raum loszuwerden.
Außer den spielenden Kindern ist niemand zu sehen. Mit etwas Glück habe ich meine Verfolgerin abgeschüttelt. Dennoch laufe ich mit schnellen Schritten – als lauert ihr Geist hinter mir – aus der Gasse hinaus zur Sacramento-Straße und hinab zur Grant-Avenue. Auf dem kurzen Weg bis zum Hotel schaue ich mich mehrmals um, kann die junge Frau aber nicht entdecken.
Als ich die Pine-Straße überquere und mich beim Öffnen der Hoteltür zur Seite drehe, durchfährt mich ein heißer Schreck. Schräg über die Kreuzung steht meine Verfolgerin ruhig neben dem Eingang eines Juwelierladens und schaut gelangweilt den vorbeifahrenden Autos nach.
Die Frau wird mir langsam unheimlich.
Im Treppenhaus des vierten Stocks peile ich durch das Fenster hinter dem Fahrstuhl nach unten. Die Frau ist verschwunden. Ich stehe mit pochendem Herzen in meinem Zimmer, gegen die Tür gelehnt und bemerke eine unwillkommene Empfindung.
Angst.
*
Um das ungute Gefühl loszuwerden, entschließe ich mich erst zu einem Tee, danach zu einer Meditation. Angst, erinnert mich meine Intuition, ist nicht nur ein Gefühl sondern auch ein Signal; ein Hinweis, auf etwas Bevorstehendes innerlich nicht vorbereitet zu sein. Leute, die ihren Stoff beherrschen, haben keine Angst vor einer Prüfung.
„Lehrbuchweisheit,“ stelle ich fest, die mir nicht viel nützt.
Weil ich nicht weiß, worauf ich mich vorbereiten soll.
Meine Intuition bleibt gelassen und schlägt vor, mich darauf einstellen, überrascht zu werden. Ansonsten soll ich den Abend mit Vater und Tochter Wong genießen. Die beiden wären Überraschung genug. Wie ein Schlusswort befindet Cassandra:
„Was wäre das Leben ohne Überraschungen, mein Lieber?!“
Wenn ich nicht immer wieder erlebte, wie klug und hilfreich meine Intuition ist ... ihre hintersinnigen Bemerkungen übersteigen manchmal mein Verständnis von Humor.