Читать книгу Die Chinesische Mauer - Günter Billy Hollenbach - Страница 32
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ОглавлениеIn der Eingangshalle erklärt Miriam Jennings knapp:
„Mal sehen, was die Abendnachrichten bringen.“
Ohne sich zu verabschieden steigt sie mit durchgedrücktem Rücken die Marmortreppe hinauf.
Durch einen offenen Türspalt zu einem abgedunkelten Raum gegenüber dem Speisesaal sind mehrere übereinander gestapelte Bildschirme zu erkennen. In das leise Summen von Ventilatoren mischen sich Geräusche, die vom Hantieren einer Person herrühren. Die Videokameras sind also in Betrieb, Haus und Garten werden überwacht.
Charles Wong führt uns am Treppenaufgang vorbei zum nächsten Zimmer. Ein mehrstufiger Rahmen, dickes Innenfutter aus Metall und aufgesetzte Holzverkleidungen verraten eine massive Sicherheitstür. Der mittelgroße Raum ist fensterlos und spürbar klimatisiert. Vom Boden bis zur Zimmerdecke füllen schwere Holzregale randvoll mit Büchern die Wände. Drei zweisitzige dunkelgrüne Ledersofas mit hohen Rückenlehnen und wulstigen Steppnähten gruppieren sich u-förmig um einen flachen quadratischen Tisch. In den Winkeln zwischen den Sofas stehen kleine quadratische Kommoden, in der Mitte darauf fest montiert jeweils eine Messingleuchte mit beweglichem Lampenschirm. Ringsum über den Bücherregalen sind schmale Bänder mit Leuchtdioden in die Zimmerdecke eingelassen, die den Raum in ein helles, angenehmes Licht tauchen. Der Stil englischer Lesezimmer der 1930-er Jahre lässt grüßen.
„Bitte, nehmt Platz,“ erklärt Herr Wong und geht weiter zu einer Tür unter dem linken Treppenflügel. „Ich bin sofort zurück.“
Meine übliche Ehrfurcht für Bücher, zumal in großen Ledereinbänden mit Goldprägung, weicht bei genauerem Hinsehen der Ernüchterung. Fast alle Regalfächer sind dekorative Fassaden ohne jeden intellektuellen oder literarischen Gehalt.
Typisch neureich.
Nancy tritt neben mich und belehrt mich eines Besseren.
„Toll, diese Beweise des gebildeten Geistes, nicht wahr?! Mein Vater liest tatsächlich viel. Aber nicht hier. Alles reine Tarnung; das hier ist der Panik-Raum, ein Bunker. Hinter der Verkleidung rechts gibt es eine Toilette, links eine Waschgelegenheit, dazwischen Vorratsregale. Ich möchte nicht wissen, wie viele Waffen sich hinter harmlosen Buchtiteln verbergen.“
Sie kichert in sich hinein.
„Wenn die Hunnen oder Taliban über uns herfallen, ...“
„Was ist mit Abhörwanzen und Videokameras?,“ frage ich leise.
Nancy reckt sich seitwärts an mein Ohr, flüstert mit warmem Atem: „Selbstverständlich. Heute Abend völlig überflüssig. Miriam Jennings ist längst davon überzeugt, dass wir zwei es miteinander treiben. Wahrscheinlich hetzt sie Daddy gerade gegen mich auf.“
Wunderbar!, denke ich. Alles im Preis inbegriffen. Ich flüstere zurück:
„Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Außerdem solltest Du mich nicht auf solche Gedanken bringen, Nancy.“
Sie bleibt dicht neben mir stehen. Einige Sekunden lang empfinde ich die gleiche Aufregung wie damals in der Tanzschule. Wenn es mir gelang, das Mädchen aufzufordern, auf das ich ein Auge geworfen hatte. Ohne viel Überlegung umfasse ich Nancys schlanke Hüfte und drücke sie an mich. Sie bedankt sich mit Siegerlächeln und einem Kniff in meine Seite.
Als die Tür wieder aufgeht, sitzen wir artig in den Ecken zweier gegenüberliegender Ledersofas.
Der alte Wong setzt sich auf die mittlere Couch der Tür gegenüber.
Er schaut mich nicht an. Doch es wird schnell klar, wen er anspricht.
„Ich bin von meiner Tochter eine scharfe Zunge und kratzbürstiges Verhalten gewöhnt. Es mag verwundern, trotzdem vertraue ich ihrem Geschäftssinn und ihrer Menschenkenntnis. Nur ein Dummkopf kann annehmen, dass die Polizei Sie, junger Freund, nicht über den Ruf meiner Familie ins Bild gesetzt hat.“
Ich schaue aufmerksam durch ihn hindurch, nicke leicht, unterdrücke den Wunsch zu lächeln. Ich bin informiert. Nur dass Contreras’ Vortrag zu dem Thema deutlich weniger anrührend war als das Fotoalbum und Nancys Schilderungen am Fußende des Himmelbetts.
„Dass Sie unserer Einladung gefolgt sind,“ fährt Vater Wong ruhig fort, „sagt viel über Sie aus. Meine Tochter zieht daraus eigene Schlüsse. Das ist unübersehbar. Was mich betrifft, wird es wenig überraschen; was die Polizei über mich denkt, ist mir gleichgültig.“
Er sitzt aufrecht und beherrscht da; im Bewusstsein unserer Aufmerksamkeit – und seiner Macht; schaut weiter nur geradeaus.
„Jedoch, überhaupt nicht gleichgültig ist mir das Verhalten der Polizei. Was dies betrifft, hege ich Zweifel an der Entschlossenheit, das Geschehen um mein geliebtes Enkeltöchterchen schnell und gründlich aufzuklären. Deshalb halte ich es für dringend geboten, eigene Anstrengungen zu unternehmen. Ich bin sicher, Du bist der gleichen Meinung, mein Mädchen.“
„Ohne jede Einschränkung, Daddy.“
„Gut, dann wird alles Erforderliche veranlasst. Gleich morgen werde ich einige Telefongespräche führen. Ich halte mich an die harten Tatsachen. Sie, junger Freund, sind mehr als ein Zeuge. Sie haben den Angriff vereitelt. Wir sind Ihnen dankbar dafür. In den Augen des Verursachers dagegen haben Sie sich schuldig gemacht. Der Angreifer wird Sie suchen und wiedererkennen. Stimmst Du mir in diesem Punkt zu, mein Mädchen?“
„Absolut, Daddy.“
Mir kriecht eine Gänsehaut über den Rücken. Wenn sich einer in diesen Dingen auskennt, dann Wong.
Er spricht mit ruhiger Sachlichkeit weiter.
„Dann stellen wir fest: Es besteht eine Gefährdungslage fort, die sich gegen mehrere Personen richtet, in erster Linie meine Enkelkinder und Sie, junger Freund. Nur ein kompletter Idiot vertraut darauf, dass die Polizei den gebotenen Schutz gewährleistet. Zudem dürfen wir annehmen, dass die gefährdeten Personen selbst wenig befähigt sind, sich wirkungsvoll zu schützen oder gar zu verteidigen, falls sie erneut angegriffen werden. Daraus ist zu schließen, wir treffen eigene Vorkehrungen. Damit ist klar, welches die unmittelbar wichtigsten Aufgaben sind, nicht wahr, mein Mädchen.“
„Völlig einer Meinung, Daddy.“
„Wir werden unverzüglich ein Gespräch mit der Schulleitung führen. Um ihr die Angst vor dem Personenschutz für Brian und Janey zu nehmen.“
„Sehr richtig, Daddy.“
„Lebt ihr Vater noch, junger Freund?“
„Nein, er kam über Vietnam zu Tode.“
„Aber Sie sind amerikanischer Staatsbürger?“
„Nein, ich bin Deutscher, meine Mutter hat darauf bestanden.“
„Unsere Staatsbürgerschaft wäre jetzt in mancher Hinsicht hilfreich. Nun gut. Die Stadt hat die Verpflichtung, Sie als Zeuge zu schützen. Angesichts einer erkennbaren Gefahr können Sie sich selbstverständlich einfach ins Flugzeug setzen und abreisen, zu Ihrer Tochter nach Phoenix oder zurück nach Deutschland.“
Er sieht mich erstmals hier direkt an, wenn auch nur kurz.
„Uns wäre damit nicht gedient.“
„Mister Wong, um das zu entscheiden, war die Zeit zu kurz. Eigentlich wollte ich meine Workshop-Verpflichtung erfüllen.“
„Recht so. Stecken Sie den Kopf nicht in den Sand, junger Freund! Sie benötigen Schutz.“
Er macht eine Pause, wohlüberlegt.
„Am Ende brauchen Sie sogar Schutz vor Polizisten. Nicht jeder in deren Reihen wird Ihren Beitrag an der Verhinderung dieser Kindesentführung angemessen würdigen.“
Der Mann weiß besser, wovon er redet, hat gründlicher darüber nachgedacht, als ich mir hätte träumen lassen. Und er spricht offen.
„Nicht gerade beruhigend, was Sie sagen, Mr. Wong.“
Er lehnt sich zurück.
„In der Hinsicht sollten Sie mir den nötigen Sachverstand zutrauen, verehrter Gast.“
Es klingt frei von Überheblichkeit.
Nancy hat mir das Unbehagen angesehen.
„Robert, ich teile Daddys Einschätzung der Lage in jedem Punkt. Aber sei unbesorgt; wir werden Vorkehrungen treffen.“
Ihr Vater, die umsichtige Entschiedenheit in Person, fügt hinzu:
„Ich bin der Letzte, der Dummheit als Heldentum anpreist. Niemand wird es Ihnen übel nehmen, falls Sie morgen abreisen. Allerdings: Wie einer, der beim ersten Windstoß davonrennt, wirken Sie nicht auf mich. Ich kann also nur eine Bitte äußern. Ich würde es außerordentlich begrüßen, wenn Sie in der Stadt bleiben, wie Sie es geplant haben. Bis dahin ist der Angreifer hoffentlich gefasst, und die Hintergründe der Tat sind geklärt. Wir werden zu Ihrer Sicherheit beitragen, nicht wahr, mein Mädchen?!“
„Davon kannst Du ausgehen, Daddy.“
Nancys selbstbewusster Ton macht mich hellhörig.
Er triff die Entscheidungen, und sie stimmt folgsam zu?
Hast du gedacht, Robert.
In Wahrheit läuft es genau anders herum. Dessen bin ich mir plötzlich sicher. Alles, was hier besprochen wird, hat Nancy vorgegeben. Die beiden haben beraten, die fälligen Schritte vorab geklärt, und sie ist bereits tätig geworden. Jetzt muss ich nur noch schonend – auf gut chinesische Art – davon in Kenntnis gesetzt werden. Sie gehen wie eingespielte Überzeugungskünstler vor, die mich auf den richtigen – ihren – Weg führen.
Ob ich wirklich gefährdet bin – können die zwei das beurteilen?
Vielleicht und noch mal vielleicht.
Sicher ziehen sie mich fürsorglich auf ihre Seite. Ich werfe Nancy einen Blick zu – und finde Gefallen an der Vorstellung.
Und es hat noch etwas Gutes. Erinnere dich an Santa Cruz. Letztlich bringen sie mich dazu, meine aufgekeimten Ängste ernst zunehmen. Obendrein stacheln sie meinen Widerstandswillen an. Mit einer angesprochenen Bedrohung und einem unausgesprochenen Versprechen. Morgen abreisen und Nancy nicht mehr sehen – der Gedanke missfällt mir sehr. Ich möchte mehr mit ihr zutun haben, sie besser kennen lernen, auch ohne einen weiteren Abstecher in ihr Badezimmer.
Nebenbei; dem Workshop-Veranstalter gegenüber vertragsbrüchig zu werden – so gefährdet fühle ich mich jedenfalls noch nicht. Wohl auch dank der Unterredung hier.
„Ich gebe zu, Mr. Wong, seit gestern bin ich nicht mehr unbelastet. Wie gefährdet ich wirklich bin – ich denke, Sie können das besser beurteilen als ich. Ich bin vor allem froh, dass uns, Janey, Brian und mir, nicht mehr geschehen ist. Ich fürchte, ich muss in der Hinsicht dazulernen.“
Charles Wong versteht es, Eindruck zu machen.
„Was diesen Punkt angeht,“ beugt er sich vor und sieht mich eindringlich an, „will ich nicht den Eindruck erwecken, Worte könnten meine Dankbarkeit und Anerkennung für das, was Sie getan haben, angemessen ausdrücken. Sicher verstehen Sie, wenn ich dies betone und es dabei belasse. Im Übrigen gestatte ich mir, Ihnen eine bescheidene Beihilfe zur Ihren Aufenthaltskosten und einer angemessenen, sicheren Unterkunft in der Stadt zukommen zu lassen. Darüber hinaus erlauben Sie mir, Ihnen ein Geschenk zu machen, dessen praktischer und mehr noch ideeller Wert nicht mit Geld aufgewogen werden kann. Dies werden Sie sicher erkennen, sobald Sie sich zur Annahme entschließen. Lassen Sie mich abschließend betonen, dass Sie in diesem Haus jederzeit willkommen sind, sehr gern auch in Begleitung Ihrer Frau, sofern sie in der Stadt weilt.“
Ich empfinde tatsächlich ein wenig Rührung. Welch ein Unterschied zu der rauen, beinahe herablassenden Behandlung durch Contreras. Hier werden Sachverhalte zwar ebenfalls unumwunden angesprochen und entschieden, ohne viel mit mir zu diskutieren. Doch – erkennbar chinesicher Etikette geschuldet – zwischen der etwas steifen Höflichkeit des alten Wong schimmern viel Verständnis und Wohlwollen für meine Person durch. Das tut mir gut.
„Ebenfalls kurz, aber herzlich, ... ich danke Ihnen. Es ist mir eine Freude, Sie getroffen zu haben. Danke für Ihre Gastfreundschaft, für das Angebot Ihres Geschenks, welches mich jetzt natürlich neugierig gemacht hat. Vor allem danke ich Ihnen für das, was Sie zu unserem Schutz und zur Aufklärung des Geschehens tun werden. Ich wünsche uns allen Sicherheit und gute Gesundheit und ein baldiges Ende der Gefährdung.“
„Wie aus meinem Herzen gesprochen, junger Freund.“
Damit erhebt sich der alte Wong. Er begleitet uns zur Haustür, schüttelt uns kurz die Hand: „Seid vorsichtig und kommt gut heim.“