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Donnerstagnacht. Die Uhr des nächsten Kirchturms hatte gerade die zweite Stunde geschlagen. Es war Neumond, so dass die schmale Seitenstraße im Würzburger Stadtteil Frauenland nur vom Schein der in Abständen aufgestellten Bogenlampen einigermaßen erhellt wurde. Ihr weißliches Neonlicht hatte Mühe, das dichte Blätterdach der dicht belaubten, alten Ahornbäume zu durchdringen, die links und rechts entlang des Gehsteigs standen.

Die Haustür des leicht zurückgesetzten Einfamilienhauses öffnete sich langsam, fast zögernd. Das Licht des Flures fiel nach draußen und riss einen Streifen ungepflegter Beete aus der Dunkelheit, unterbrochen durch den verzerrten Schatten einer von hinten angestrahlten, hoch gewachsenen, leicht gebeugten Gestalt. Der nur mit einem blauweiß gestreiften Schlafanzug gekleidete Mann hatte offensichtlich Mühe, seine Bewegungen zu koordinieren. Einerseits versuchte er, die Haustür aufzuhalten, andererseits wollte er mit einem Rollator die Türschwelle überschreiten. Mit den kurzen, tippelnden Schritten eines gehbehinderten, älteren Menschen schaffte er es schließlich und bewegte sich nun über die flache, behindertengerechte Steinrampe in Richtung der Vorgartentür. Der Mann war barfuß, doch das schien ihn nicht zu stören. Es war ja Sommer und nachts herrschten angenehme Temperaturen. Auch dass die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, schien er nicht zur Kenntnis zu nehmen. Der kurze Weg zum Tor war rechts und links mit LED-Leuchten erhellt, die mit einem Bewegungsschalter ausgestattet waren.

Der Mann war in Panik. Seine dünnen, schlohweißen Haare standen wirr von seinem Kopf ab. Die Augen hatte er vor Erregung weit aufgerissen. Sein Sehvermögen war besonders in der Nacht stark eingeschränkt, und seine Brille lag drinnen auf dem Nachttisch.

Er suchte nach seinem Jungen.

Der Anrufer hatte ihn aus dem Tiefschlaf gerissen und ihm mit eindringlicher Stimme erklärt, er müsse sofort vor das Haus kommen, weil Michael, sein Sohn, von einem Auto angefahren worden sei. Er läge schwer verletzt direkt vor dem Grundstück.

Mit zitternder Hand ließ der alte Mann den Griff des Rollators los und zog die Gartentür auf. Dabei taumelte er etwas, weil ihm leicht schwindelig wurde. Sein Kreislauf war durch das hektische Aufstehen völlig durcheinander. Die Aufregung ließ seinen Puls rasen. Er passierte die Tür und trat auf den Gehsteig hinaus. Die grobe Körnung des Asphalts stach ihn in die weichen Fußsohlen. Er registrierte es kaum. Verwirrt suchte er die Straße ab. »Michael«, rief er dann mit brüchiger Stimme, die kaum ein paar Meter weit trug. Noch einmal: »Michael!« Aber da war nichts.

Er schob seine Gehhilfe über den auf Höhe des Eingangs abgesenkten Bordstein auf die Straße. Etwas verloren stand er mitten auf der nächtlichen Fahrbahn und stammelte den Namen seines Sohnes. Keiner hörte seine schwache Stimme. Alle Häuser dieser Wohnstraße lagen in Dunkelheit. Die Bewohner schliefen.

Keiner sah das unbeleuchtete schwarze Auto, das sich einen guten Steinwurf weit entfernt vom Bordstein löste und sich langsam rollend, fast schleichend der einsamen Gestalt näherte. Etwa sechzig Meter vor dem Mann heulte der Motor plötzlich auf, und der Wagen fuhr mit voller Beschleunigung auf den Alten zu. Als der frontal angebrachte Rammbügel des massigen Geländefahrzeugs auf den mageren Körper des alten Mannes traf, gab es ein klatschendes Geräusch. In hohem Bogen wurde er über die Kühlerhaube nach oben geschleudert. Hart schlug er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe des Fahrzeugs, das ungebremst weiterfuhr. Das Sicherheitsglas erhielt sternförmige Risse, die vom zentralen Auftreffpunkt des Schädels ausgingen. Ein deutlich sichtbarer Blutfleck im Zentrum des Aufschlages zeugte von der Wucht des Zusammenpralls. Der Körper des Mannes wurde seitlich von der Motorhaube geschleudert und schlug hart gegen den Bordstein. Der völlig deformierte Rollator landete ein Stück weit entfernt im Rinnstein.

Erst ein Stück hinter der Kollisionsstelle bremste der Wagen abrupt ab. Grell durchschnitten die glutroten Bremsleuchten die Nacht. Die Fahrertür wurde aufgerissen, eine Gestalt sprang heraus und näherte sich dem gestürzten Greis. Die Pistole mit Schalldämpfer zuckte zweimal in ihrer Hand, dann hastete sie wieder zum Wagen zurück. Mit durchdrehenden Reifen preschte das Fahrzeug die Straße entlang. Erst an der nächsten Kurve wurde das Fahrlicht eingeschaltet.

Ein Bewohner aus einem der Nachbarhäuser, der einen leichten Schlaf hatte, wurde von dem Schlag der Kollision und dem späteren Quietschen der Reifen aufgeweckt. Schlaftrunken erhob er sich und sah von seinem Schlafzimmerfenster aus auf die Straße. Er fragte sich erbost, welcher rücksichtslose Mensch mitten in der Nacht einen derartigen Lärm verursachte. Verärgert wollte er sich schon wieder zurück ins Bett legen, als er die bewegungslose Gestalt im gestreiften Schlafanzug im Rinnstein liegen sah. Schlagartig war er wach. Er schlüpfte in seine Hose und rannte hinaus. Mit Entsetzen erkannte er unter der blutigen Maske das Gesicht seines Nachbarn.

Wenig später konnte der herbeigerufene Notarzt nur noch den Tod Dr. Wilhelm Kürschners, des pensionierten Vorsitzenden Richters des Landgerichts Würzburg, feststellen. Der Aufprall hatte ihm das Genick gebrochen und der Bordstein den Schädel eingeschlagen. Die beiden Schüsse in seine Augen wären gar nicht mehr erforderlich gewesen. Der Täter hatte die Augenhöhlen in zwei blutige Seen verwandelt. Das Blut verschwand als schmales Rinnsal im zwei Meter entfernten Gully. Der Notarzt alarmierte die Einsatzzentrale der Polizei. Wenig später traf die Mordkommission ein und verwandelte die stille Seitenstraße in einen emsigen Ameisenhaufen.

Das letzte Schwurgericht

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