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Erster Kriminalhauptkommissar Eberhard Brunner hob sein Weinglas und prostete seinem Gegenüber zu.

»Zum Wohl, Simon, schön, dass du wieder einmal einen gemeinsamen Schoppenabend ermöglichen konntest. Seitdem du in Gemünden die höheren Weihen eines Amtsgerichtsdirektors erhalten hast, sehen wir uns ja kaum noch.«

In der Zeit, als Simon Kerner in seiner Funktion als Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Würzburg das große Ermittlungsverfahren gegen die Mafia-Familie Emolino im Landkreis Main-Spessart durchführte, war Brunner der Leiter der mit den Ermittlungen beauftragten Sonderkommission Spessartblues. Nach Beendigung des Verfahrens und der Auflösung der Sonderkommission hatte man Brunner zum Leiter des Kommissariats 1 der Würzburger Mordkommission ernannt.

Simon Kerner trank, dann setzte er sein Glas langsam wieder ab. »Da kann ich dir nur beipflichten. Weißt du, für mich besteht im Grunde eigentlich keine Notwendigkeit mehr, nach Würzburg zu fahren. Mal abgesehen von jährlich ein bis zwei Dienstbesprechungen am Landgericht. Ich pendle zwischen meiner Wohnung in Partenstein und dem Gericht in Gemünden hin und her und wenn Steffi und ich etwas einkaufen wollen, fahren wir nach Lohr oder Karlstadt. Das sind für uns die kürzesten Wege. Da bekommen wir eigentlich alles, was wir so benötigen, und haben nicht den Stress wie in der Großstadt.«

Die beiden, die seit der gemeinsamen Ermittlungsarbeit im Emolinofall Freunde geworden waren, saßen in der Weinstube Johanniterbäck und genossen einen fruchtigen Silvaner. Gerne hatte Kerner Brunners Einladung angenommen, die Nacht bei ihm im Gästezimmer zu verbringen. So konnte er ohne Rücksicht auf Promillegrenzen zusammen mit dem Freund den Abend genießen und sich ein paar Schoppen gönnen. Morgen war Samstag, und er musste nicht ins Büro.

Durch das Gespräch schweiften Kerners Gedanken für einen Moment in die Vergangenheit zurück. Er war damals hart an die Grenzen seiner Integrität gestoßen, weil er lange Zeit geglaubt hatte, durch einen schrecklichen Zufall auf der Jagd den Sohn des Mafiabosses, gegen den er ermittelte, erschossen zu haben. Die Mafia entführte daraufhin seine Freundin und drohte ihm mit deren Tod. Unter diesem Zwang hatte sich Kerner nach schwersten inneren Kämpfen einige Zeit in der Grauzone des Gesetzes bewegt. Dank seiner Fähigkeiten, die er sich als Offizier einer Elitekampftruppe der Bundeswehr angeeignet hatte, gelang es ihm schließlich, Steffi zu befreien. Der Hinrichtung durch die Mafia waren Steffi und er nur knapp entgangen. Kerner würde niemals vergessen, dass er in diesem Kampf in die Abgründe seines eigenen Ichs geblickt hatte. Noch heute setzte er sich immer wieder mit der Tatsache auseinander, dass durch ihn Menschen zu Tode gekommen waren. Es war für ihn noch immer erschütternd, wenn er sich bewusst machte, wie fragil auch bei ihm die Zivilisationsschicht war. Seitdem beurteilte er die Verfehlungen der Menschen, die vor ihm als Richter standen, aus einem erweiterten Blickwinkel.

Brunner bemerkte, dass sein Freund kurze Zeit geistesabwesend war. Der Kripobeamte konnte sich denken, wohin Kerners Gedanken abgeglitten waren. Auch Brunner war in dem damaligen Fall hart an die Grenzen seiner Loyalität gegenüber dem Gesetz einerseits und dem Freund andererseits gestoßen. Beide wussten, dass durch dieses Kapitel ihres Lebens ein schwarzer Schatten auf ihre ansonsten weißen Westen gefallen war.

Brunner hielt einen abrupten Themenwechsel für angebracht.

»Hast du übrigens mitbekommen, dass vor zwei Tagen Dr. Kürschner verstorben ist? Dr. Wilhelm Kürschner, du kannst dich doch an ihn erinnern? Er war lange Zeit beim Landgericht Würzburg der Vorsitzende des Schwurgerichts. Ein harter Knochen, bei dem die Angeklagten nichts zu lachen hatten.«

Kerner hatte den plötzlichen Themenwechsel noch nicht ganz nachvollzogen. Es dauerte einen Augenblick, bis er aus seiner Gedankenwelt in die Gegenwart zurückgekehrt war und Brunners Worte verinnerlicht hatte. Zustimmend nickte er.

»Natürlich erinnere ich mich an Dr. Kürschner. Wir haben ihn damals bei der Staatsanwaltschaft hinter vorgehaltener Hand Dr. Gnadenlos genannt. Ein äußerst fähiger Jurist, aber wirklich knallhart in seinen Entscheidungen. Eine Anklage vor dem Schwurgericht endete fast zu hundert Prozent mit einer Verurteilung. Lass mich überlegen, so alt dürfte er doch noch gar nicht gewesen sein. Es stand gar nichts in der Zeitung.«

»Es war kein natürlicher Tod. Eine äußerst unschöne Sache. Er wurde vor seinem Haus von einem Auto überfahren. Aus den Spuren zu schließen, vorsätzlich. Wir haben ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der Zusammenstoß war so stark, dass er an den Folgen sofort verstorben ist. Damit hat sich der Täter aber nicht zufrieden gegeben. Nach der Kollision ist der Fahrer oder Beifahrer ausgestiegen, zu dem alten Mann hingegangen und hat ihm gezielt aus nächster Nähe in beide Augen geschossen.«

»Das ist ja total pervers! Das sieht ja fast so aus, als wollte der Täter eine Botschaft hinterlassen. Riecht irgendwie nach einer Rachehandlung oder einem Ritualmord.«

»Wir tappen im Augenblick noch völlig im Dunkeln. Laut Aussage der Nachbarn war Dr. Kürschner ziemlich dement. Wieso er mitten in der Nacht auf die Straße gelaufen ist, ist noch rätselhaft. Ein paar Kilometer entfernt, in der Nähe des Hubland-Campus haben wir das Tatfahrzeug gefunden. Die Spuren am Fahrzeug waren eindeutig. Es war gestohlen. Der Eigentümer hatte den Diebstahl schon angezeigt. Im Fahrzeug fanden wir keine verwertbaren Spuren, die auf den Täter hindeuteten. Wir ermitteln in Kürschners privatem und in seinem früheren beruflichen Umfeld. Aus ermittlungstechnischen Gründen ging noch nichts an die Presse hinaus. Deshalb konntest du auch noch nichts darüber in der Zeitung lesen.«

Kerner malte nachdenklich mit dem Zeigefinger Striche an sein beschlagenes Weinglas.

»Es würde mich nicht wundern, wenn der oder die Täter in seiner beruflichen Vergangenheit zu finden wären. Dr. Kürschner war wirklich ein knallharter Richter, der keine Kompromisse machte.«

Brunner sah ihn zweifelnd an. »Bei einem Schwurgerichtsprozess entscheiden doch fünf Richter, drei Berufsrichter und zwei Schöffen, über das Urteil. Kann da wirklich der Vorsitzende eine so dominante Rolle spielen?«

»Prinzipiell ist das schon richtig. Die Berufsrichter und die Schöffen stimmen in geheimer Beratung über das Urteil ab, wobei jede Stimme gleichwertig ist. Eigentlich dürfte über die Beratungen nichts nach außen dringen, aber unter Kollegen ist dann hin und wieder mal durchgesickert, dass es keinen Fall gab, bei dem letztlich etwas anderes herausgekommen ist, als sich Dr. Kürschner vorgestellt hatte. Er muss, gelinde gesagt, bei den Urteilsberatungen eine starke Überzeugungskraft gehabt haben. Es war ein offenes Geheimnis, dass Kürschner eine gewisse Affinität zur Todesstrafe hatte und bedauerte, dass man sie in Deutschland abgeschafft hatte. Man kann das ja sogar nachlesen. Er hat sich in seiner Freizeit literarisch mit den teilweise martialischen Strafen früherer Jahrhunderte auseinandergesetzt. Sein Standardwerk über die Hinrichtungsstätten in Würzburg zu Zeiten der Fürstbischöfe und deren Rechtsprechung hat ja in einschlägigen wissenschaftlichen Kreisen durchaus Anerkennung erfahren. Insgesamt betrachtet, war der Kollege schon eine etwas schillernde Juristenpersönlichkeit, was man aber höheren Orts aufgrund seiner fachlichen Fähigkeiten hinnahm.«

»Naja, für uns war es natürlich eine Genugtuung, wenn er einen Straftäter, dem wir mühsam ein Verbrechen nachgewiesen haben, dann auch tatsächlich hinter Gitter geschickt hat. Und das oft auch lebenslänglich.«

Kerner nickte. »Kann ich gut verstehen. Uns Staatsanwälten ging es ja nicht anders. Ich habe damals als Oberstaatsanwalt in zahlreichen Prozessen die Anklage vor dem Schwurgericht vertreten. Ich kann dir sagen, Kürschner hätte in seinen Verhandlungen eigentlich gar keinen Staatsanwalt gebraucht. Da ging es wirklich hart zur Sache. Dabei ist er immer völlig ruhig und freundlich geblieben. Das hat viele Angeklagte und ihre Verteidiger eingelullt. Wenn er dann das Urteil verkündete, hat es manchem Angeklagten regelrecht den Boden unter den Füßen weggezogen.

Ich erinnere mich noch gut an den letzten Prozess, den er als Vorsitzender des Schwurgerichts geleitet hat. Ich habe damals in diesem Verfahren die Anklage vertreten. Es war zufällig auch meine letzte Verhandlung vor dem Schwurgericht, bevor ich dann die Ermittlungen gegen die Main-Spessart-Mafia übertragen bekommen habe. Es ging um einen ziemlich verzwickten Mordfall, letztlich ein Indizienprozess, der hinsichtlich der Beweislage auf etwas tönernen Füßen stand. Da ich von der Täterschaft absolut überzeugt war, habe ich natürlich alles darangesetzt, um eine Verurteilung zu erreichen.«

»War das nicht die Sache mit diesem Winzer, diesem Thannenberger? Er hatte seine schwangere Freundin im Schlaf mit dem Kissen erstickt.«

Kerner nickte.

Brunner erinnerte sich. »Ich war damals nicht mehr bei der Mordkommission, sondern bereits mit der Gründung der Sonderkommission Spessartblues beschäftigt. Aber wir haben uns natürlich unter Kollegen darüber unterhalten. Wie ich hörte, war die Beweislage wirklich ausgesprochen schwierig. Thannenberger hat ja dann auch bis zum Schluss die Tat geleugnet.«

»Ja. Es gab keine Zeugen, lediglich den Ehemann der Ermordeten, der sich zum Todeszeitpunkt seinerseits bei einer Geliebten aufhielt. Die Ehe war, wie er aussagte, total zerrüttet. Als er am Morgen nach Hause zurückkam, fand er seine Frau tot vor. Er hat dann sofort die Polizei verständigt. Am Anfang galt er ja als Hauptverdächtiger, aber seine Freundin verschaffte ihm ein wasserdichtes Alibi. Sie sagte aus, dass er die ganze Nacht bei ihr gewesen sei.

Thannenberger gab schließlich zu, dass er bei der Ehefrau gewesen war, er habe sie aber weit vor dem festgestellten Todeszeitpunkt wieder verlassen. Bei der Obduktion wurde dann festgestellt, dass die Tote im vierten Monat schwanger war und an diesem Abend mit Thannenberger Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Das Kind stammte allerdings, wie die spätere Untersuchung ergab, von ihrem Ehemann.

Nachbarn sagten aus, dass sie am späteren Abend aus der Wohnung Streit vernommen hätten. Diese Zeugen bestätigten, dass es sich dabei nicht um die Stimme des Ehemannes gehandelt hatte. Blieb nur Thannenberger. Das Gericht kam zu der Überzeugung, dass die Ermordete wegen des Kindes die Beziehung zu Thannenberger beenden und zu ihrem Mann zurückkehren wollte. Bei dem dadurch ausgelösten Streit sei Thannenberger ausgerastet und habe in dessen Verlauf seine Geliebte mit dem Kissen erstickt. In der Lunge der Toten fand man Stoffpartikel, die mit dem Kissen übereinstimmten. Das Problem Thannenbergers war, dass man unter den Fingernägeln der Frau Hautmaterial von ihm sicherstellen konnte. Thannenberger hatte entsprechende Kratzspuren am Rücken. Er behauptete zwar, diese Spuren seien während des Liebesspiels entstanden. Wir gingen hingegen davon aus, dass sie sich im Todeskampf heftig gewehrt haben musste. Im Laufe des Prozesses hat er dann den Streit zugegeben, erklärte aber, er sei irgendwann im Zorn gegangen. Zu diesem Zeitpunkt habe die Frau noch gelebt. Das Schwurgericht hat diese Aussage als Schutzbehauptung eingestuft und ihm nicht geglaubt. Erschwerend für den Angeklagten kam hinzu, dass er einen schlechten Pflichtverteidiger hatte, einen Anfänger ohne Erfahrung. Dr. Kürschner hat meiner Meinung nach solche grünen Burschen bewusst ausgesucht, damit er sie beim Prozess ohne Salz und Pfeffer zum Frühstück verzehren konnte. Die Prognose des Gutachters gab dem Angeklagten dann den Rest. Thannenberger war Jahre zuvor zweimal wegen Körperverletzung verurteilt worden. Im Gutachten wurde ihm daher eine grundsätzliche Bereitschaft attestiert, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Damit war die Sache gelaufen.«

Kerner nahm einen Schluck Wein.

»Das Schwurgericht hat seinen Unschuldsbeteuerungen nicht geglaubt, und Kürschner hat ihn zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verdonnert. Auch für mich persönlich war es durchaus ein gerechtes Urteil. Natürlich habe ich mich auch gefreut, dass ich meinen letzten Schwurgerichtsprozess nicht verloren habe.«

Es trat eine kleine Gesprächspause ein, weil die Bedienung an den Tisch trat und die beiden einen weiteren Schoppen bestellten.

Brunner wechselte das Thema. »Was macht denn die Jagd?«

Kerner ging gerne darauf ein. »Meine Position beim Amtsgericht Gemünden gibt mir natürlich auch für mein Hobby mehr Spielraum.«

Plötzlich huschte ein nachdenklicher Zug über Kerners Gesicht. Brunner bemerkte es sofort.

»Simon, hast du in irgendeiner Form ein Problem? Ich sehe doch, dass dich etwas beschäftigt.«

»Du hast recht. Es ist aber eigentlich nicht von Bedeutung. Mir ist nur vor ein paar Tagen etwas ganz Merkwürdiges passiert. Ich saß vor meiner Jagdhütte und habe gearbeitet. Anschließend wollte ich mich noch im Wald ansetzen …« Ausführlich schilderte er daraufhin Brunner das Erlebnis mit dem Rabenvogel.

»Der Täter hat den Raben nicht nur dort angenagelt, er hat ihm auch die Augen ausgestochen. Ich will dem Vorfall jetzt nicht so viel Bedeutung beimessen. Ich vermute, dass mich irgendjemand einschüchtern will. Vermutlich ein Mensch, den ich verurteilt habe.«

»Scheint mir so eine Art Spessartvoodoo zu sein«, kommentierte Brunner Kerners Bericht etwas scherzhaft. Er maß der Sache keine Bedeutung bei.

Kerner machte eine abschließende Handbewegung und stellte fest: »Jetzt sitzen wird doch wirklich sehr selten zusammen und was machen wir? Wir reden nur über dienstlichen Kram. Wir sind wirklich unverbesserlich.«

»Simon, du hast Recht, komm, erzähl mal, was macht die Liebe? Hält es deine Steffi noch immer mit dir aus?«

Kerner lachte. »Ich kann nicht klagen. Die Tatsache, dass ich nun jeden Abend ziemlich pünktlich nach Hause komme, hat unserer Beziehung sehr gut getan. Du weißt schon, regelmäßig essen, Gespräche … etc.« Er schmunzelte.

»Und, läuten irgendwann die Hochzeitsglocken? Ich war schon lange nicht mehr auf einer zünftigen Hochzeit.«

»Da wirst du dich wohl noch einige Zeit gedulden müssen«, gab Kerner zurück. »Es liegt wirklich nicht an mir. Ich hätte mich schon getraut, aber Steffi findet es schön, so wie es gerade ist. Sie sieht keinen Grund zur Eile.«

»Ja, ja, Steffi war schon immer eine sehr selbstbewusste, emanzipierte Frau. Pass bloß auf, dass sie dir kein anderer wegschnappt!«

Kerner machte eine wegwerfende Handbewegung.

Die beiden saßen noch einige Schoppen lang beisammen, ehe sie sich auf den Heimweg machten. Den Weg in die Sanderau zu Brunners Wohnung bewältigten sie zu Fuß. Dort nahmen sie noch einen letzten, einen allerletzten und einen allerallerletzten Absacker. Gegen drei Uhr morgens legten sie sich dann schlafen.

Mitten in der Nacht wachte Kerner auf, weil er auf die Toilette musste. Als er wieder im Bett lag, hatte er leichte Probleme, wieder in den Schlaf zu finden. Plötzlich fiel ihm der alte Richter ein, der einen derart grausamen Tod sterben musste. Er konnte sich noch gut an ein Gespräch erinnern, das er damals mit dem Leitenden Oberstaatsanwalt geführt hatte. Es war im Kollegenkreis allgemein aufgefallen, dass Dr. Kürschner seit etwa einem Jahr mehr oder weniger auffällige Verhaltensweisen zeigte. Seine Strenge, die ihm schon immer eigen gewesen war, bekam in den Verhandlungen einen immer mehr aggressiven Touch. Unter dem Gesichtspunkt, dass seine Pensionierung bevorstand, wurde über dieses Verhalten hinweggesehen.

Das letzte Schwurgericht

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