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Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen. Die grausige Szenerie im Wald wurde von mehreren Scheinwerfern beleuchtet, die die Männer der Mordkommission und der mittlerweile eingetroffenen Spurensicherung rund um den Tatort aufgestellt hatten. Ein langes Stromkabel führte zu einem etwas entfernter stehenden Kleinbus, in dem der Motor eines leistungsfähigen Aggregats zu hören war.

Die vier Personen aus dem Reiterclub, die den Toten gefunden hatten, hielten sich ein Stück abseits auf. Der Horror stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Ihre beiden Pferde waren an Bäumen angebunden. Ein Kriminalbeamter nahm gerade ihre Personalien auf.

Der Rechtsmediziner hatte bereits seine Untersuchung abgeschlossen. Seiner Meinung nach lag der ungefähre Todeszeitpunkt weniger als zwei Stunden zurück. Er stellte fest, dass die beiden Schüsse durch die Augen in den Kopf den Mann auf jeden Fall getötet hatten. »Ohne dem Ergebnis der Obduktion vorgreifen zu wollen, liegt hier ohne Zweifel ein Tötungsdelikt vor«, erklärte er und zog seine Gummihandschuhe aus. »Herr Brunner, wenn Sie mit der Leiche fertig sind, kann sie in die Rechtsmedizin abtransportiert werden.« Er grüßte und verließ den Tatort.

Kriminalhauptkommissar Brunner beugte sich über den Toten und untersuchte die Taschen seiner Reithose und seiner Jeansjacke. Außer einigen Münzen und einem Schlüsselbund fand er jedoch nichts, was die Identität des Mannes erklärt hätte.

Dr. Merker, der Arzt und Reitkollege, der den Toten als Erster untersucht hatte, kam ein paar Schritte näher.

Brunner sah ihn an. »Der Tote ist ein Reitkamerad von Ihnen? Können Sie mir sagen, wer das ist?«

Merker nickte. »Das ist Manfred Großberger. Soweit ich weiß, ist er Richter hier am Gericht in Würzburg. Ich kenne ihn aber nicht näher. Nur so, wie man halt einen Reiterkollegen kennt, den man beim Sport trifft. Er war ein angenehmer, recht geselliger Zeitgenosse. Dieser Unfall ist einfach schrecklich! So wie es aussieht, hat ihn seine Stute ein ganzes Stück weit hinter sich her gezerrt. Wahrscheinlich ist er im Steigbügel hängen geblieben. Dabei müssen sich Äste in seine Augen gebohrt haben. Schlimm! Hoffentlich hat er es nicht mehr gespürt.«

Brunner ließ ein Brummen hören, das alles Mögliche bedeuten konnte. Dass es sich um Schussverletzungen handelte, erwähnte er nicht.

»Was ist mit dem Pferd geschehen, nachdem es zum Stall zurückgekommen war?«

»Die Pferdepfleger haben es sicher abgesattelt und herumgeführt, bis es wieder trocken war. Das ist das übliche Prozedere. Genau kann ich es aber nicht sagen, weil wir ja sofort losgefahren sind, um Herrn Großberger zu suchen.«

»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, entgegnete Brunner ohne weiteren Kommentar, »bitte kommen Sie in den nächsten Tagen ins Kommissariat, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können.«

Kaum hatte sich der Arzt abgewandt, winkte Brunner einen uniformierten Polizisten zu sich. »Fahren Sie bitte in den Reitstall und stellen Sie den Sattel und das Zaumzeug von Großbergers Pferd sicher. Fragen Sie die Pferdepfleger, ob sie an den Sachen etwas verändert haben. Dann bringen Sie das Zeug in die Kriminaltechnik.« Der Beamte nickte und entfernte sich eilig.

Brunner sah nachdenklich auf die mittlerweile mit einer Papierdecke verhüllte Gestalt des Toten. An der Stelle, wo sich die blutigen Augenhöhlen befanden, tränkten zwei blutrot verlaufende Punkte das Papier. Der Kriminalbeamte war sehr nachdenklich. Offenbar handelte es sich hier um einen eiskalten Mord. Die Parallelen zu dem Fall von Dr. Kürschner waren unübersehbar. Brunner rieb sich das unrasierte Kinn. Wie es aussah, handelte es sich in beiden Fällen um denselben Täter. Zweimal Schüsse in die Augen. Der Begriff Ritual drängte sich auf. Er atmete schwer ein. Serientäter!, schlich sich in seine Gedanken. Brunner würde das sicher nicht laut aussprechen, weil er damit, falls es bekannt würde, einen Pressesturm auslösen würde. Er zwang sich zur Vernunft: Zwei Leichen machten noch keinen Serientäter. Aber sicher war hier ein Psychopath am Werk … oder es sollte zumindest so aussehen. Wenn seine geheimen Befürchtungen zutrafen, musste man mit weiteren Morden dieser Art rechnen. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, dass in seiner Stadt ein Serienkiller sein Unwesen trieb! Das Problem war, dass er noch keinerlei Vorstellung hatte, welches Motiv hinter diesen Taten steckte.

In diesem Augenblick wurde er von Kriminalhauptmeister Siebert, einem seiner Assistenten, angesprochen, der auf ihn zugelaufen kam. »Herr Brunner, Sie müssten mal mitkommen. Ich habe die Strecke zurückverfolgt, die der Tote von seinem Pferd geschleppt wurde. Dort vorne steht mitten auf dem Waldweg ein verlassener Geländewagen.«

Alarmiert eilte Brunner hinter seinem Mitarbeiter her. Da das Licht der Scheinwerfer nicht so weit reichte, waren sie auf Taschenlampen angewiesen. In ihrem Schein konnten sie im weichen Waldboden eine deutliche Schleifspur erkennen. Seitlich des Weges waren vom Unterwuchs Blätter und Äste abgerissen. Eine Strecke weiter tauchten aus der Dunkelheit die reflektierten Frontscheinwerfer eines Autos auf. Brunner und sein Kollege umrundeten das Fahrzeug und leuchteten ins Innere. Sofort fiel ihnen das Gewehr auf, das im Fußraum des Beifahrersitzes stand, mit dem Lauf gegen die Sitzfläche gelehnt. Im Kofferraum befanden sich verschiedene Jagdutensilien. Eindeutig das Auto eines Jägers. Vom Fahrer war allerdings keine Spur zu sehen. Brunner, der noch immer Gummihandschuhe trug, betätigte den Türgriff. Das Fahrzeug war überraschenderweise nicht abgeschlossen, es ließ sich unproblematisch öffnen.

»Siebert, holen Sie bitte die Spurensicherung her. Das Fahrzeug und insbesondere die Waffe müssen sichergestellt und untersucht werden. Und dann nehmen Sie sich zwei Männer und suchen nach dem Fahrer. Der Wagen hat sich ja nicht allein hierhergefahren. Ein Jäger wird wohl kaum seine Waffe im unverschlossenen Auto mitten im Wald stehen lassen.«

Kriminalkommissar Siebert nickte, griff zum Mobiltelefon und gab eine Reihe von Anweisungen.

Brunner untersuchte währenddessen die Spuren am Boden. So wie es aussah, überlappten die Reifenspuren eine ganze Strecke die Schleifspuren des abgeworfenen Reiters. Das konnte bedeuten, dass das Fahrzeug hierhergefahren wurde, nachdem der Reiter hier vorbeigezerrt worden war. Es war aber auch nicht auszuschließen, dass das Pferd womöglich vom Geländewagen gejagt worden war. Das wiederum würde bedeuten, der Sturz des Reiters war beabsichtigt gewesen.

Plötzlich hörte Brunner aus dem Dunkel des Waldes, von dort, wo sich der Waldweg in der Finsternis verlor, das laute Geräusch eines brechenden Astes. Der Kriminalbeamte fuhr herum und richtete den Strahl seiner Taschenlampe in die Nacht. Gleichzeitig zog er seine Dienstwaffe aus dem Gürtelholster. Im Lichtkegel der starken Lampe zeichnete sich die Gestalt eines Mannes mittleren Alters ab, der sich leicht schwankend am Stamm einer jungen Birke abstützte und mit der anderen Hand seine Augen vor der Blendwirkung des Lichts schützte.

Brunner erfasste sofort, dass der Mann Jagdkleidung trug. Offensichtlich handelte es sich um den Besitzer des Geländewagens. Der Mann verhielt sich auffällig, entweder war er betrunken oder verletzt. Jedenfalls hatte er sichtlich Mühe sich auf den Beinen zu halten.

»Brunner, Kriminalpolizei«, rief ihm Brunner entgegen und senkte etwas den Lichtstrahl, um die Blendwirkung abzuschwächen.

Siebert näherte sich dem Mann von schräg vorn. »Bleiben Sie bitte stehen und lassen Sie mich Ihre Hände sehen«, forderte der Kriminalbeamte in scharfem Ton, wobei er den Mann keine Sekunde aus den Augen ließ.

Der Unbekannte gab plötzlich einen unverständlichen Laut von sich, dann brach er mitten auf dem Waldweg zusammen. Brunner und Siebert sahen sich an.

»Rufen Sie den Arzt, der sich bei den Reitern befindet. Er soll herkommen und sich den Mann ansehen.« befahl Brunner, und Siebert griff zum Mobiltelefon.

Brunner kniete sich neben den Liegenden und tastete ihn schnell nach Waffen ab. In einer Lederscheide am Gürtel steckte ein feststehendes Jagdmesser. Brunner nahm es ihm ab. Ansonsten war er unbewaffnet. In der Oberschenkeltasche seiner Jagdhose steckte eine Lederhülle. Darin befand sich ein Dienstausweis. Der Mann hieß Bruno Müller und war Förster. Der Forstmann war nicht völlig weggetreten. Mit rollenden Augen gab er mehr oder weniger verständliche Laute von sich. Der Kriminalbeamte kniete sich neben dem Mann nieder und beugte sich zu seinem Mund herab.

»Pfeil … betäubt«, waren die einzigen Worte, die er mit viel Geduld aus dem Gestammel herausfiltern konnte. Plötzlich begann der Mann zu würgen. Brunner drehte ihn schnell auf die Seite und hielt ihm den Kopf. Gurgelnd erbrach er sich.

In diesem Augenblick traf der Mediziner ein. Brunner schilderte ihm kurz, was in den letzten Minuten geschehen war. »Er hat etwas von einem Pfeil und einer Betäubung gesagt. Wenigstens habe ich das so verstanden.«

Der Arzt holte ein Blutdruckmessgerät aus seiner Tasche und legte dem Liegenden die Manschette um den Oberarm. Kurz darauf verkündete er: »Der Mann muss sofort ins Krankenhaus, sein Blutdruck ist extrem niedrig.«

»Wir veranlassen das Nötige«, erwiderte Brunner und gab seinem Assistenten ein Zeichen. Siebert nickte und forderte über die Einsatzzentrale einen Rettungswagen an.

Einer der Männer der Spurensicherung, die den Geländewagen untersucht hatten, kam zu Brunner. Er hielt das Jagdgewehr in der Hand, das in einer transparenten Plastikhülle steckte.

»Aus dem Gewehr wurde vor kurzem geschossen«, stellte der Beamte fest. »Im Fahrzeug liegt auch eine leere Patronenhülse. Es handelt sich eindeutig um eine gebräuchliche Jagdwaffe in einem gängigen Kaliber. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass die Schüsse in die Augen des Toten mit dieser Waffe abgegeben wurden. Bei der Größe des Kalibers wäre vom Kopf des Mannes definitiv nicht mehr viel übrig geblieben.«

Brunner bedankte sich und ordnete an, die Waffe und das Fahrzeug in die Kriminaltechnik zu transportieren, damit man sie dort gründlich untersuchen konnte. Nachdenklich betrachtete er den am Boden liegenden Mann. Er war noch immer nicht bei klarem Verstand, also nicht vernehmungsfähig. Brunner erhoffte sich von seiner Aussage, etwas Licht ins Dunkel dieser Tat zu bringen. Er musste so schnell wie möglich vernommen werden. Zehn Minuten später näherte sich ein großes Fahrzeug über den Waldweg. Seine Scheinwerfer bohrten sich durch die Dunkelheit. Ein Stück entfernt musste es stehen bleiben, weil es nicht mehr weiter kam. Es handelte sich um das angeforderte Rettungsfahrzeug. Eine Minute später beugten sich die Sanitäter über den Förster.

Das letzte Schwurgericht

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