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Es war später Nachmittag. Der Reiter war vor zehn Minuten am Stall des Würzburger Reitvereins losgeritten und hatte nun, aus Richtung Sebastian-Kneipp-Steg kommend, die Fußgängerampel an der Mergentheimer Straße erreicht. Der Mann stieg vom Pferd, hielt es fest am Zügel und drückte den Ampelknopf. Mit leiser Stimme beruhigte er die braune Stute, die sichtlich nervös neben ihm auf der Stelle tänzelte. Die Ohren angelegt, beobachtete sie misstrauisch den vorbeisausenden Strom der Fahrzeuge. Der ungewohnte Motorenlärm weckte ihren Fluchtinstinkt. Nur das Vertrauen in den Reiter hinderte sie daran, auszubrechen. Es war erst der fünfte Ausritt dieser Art, den er allein mit der unerfahrenen Stute unternahm. Zuvor war er nur in der Gruppe ausgeritten. Leila hatte einen gehörigen Schuss Araberblut in den Adern, was eine gewisse Sensibilität zur Folge hatte. Auf der anderen Seite schätzte der Reiter ihre Ausdauer, Schnelligkeit und Wendigkeit. Sie würde sich schon an den Verkehr gewöhnen.

Die Ampel schaltete von Rot auf Grün. Mit beruhigender Stimme führte er Leila über die Straße. Wenige Meter weiter erreichten sie den Reitweg, der parallel zur Straße ins Steinbachtal durch das Grün des Guttenberger Forstes führte. Der Mann tätschelte kurz den Hals der Stute, dann schwang er sich in den Sattel. Geschickt glich er einen kleinen, übermütigen Bocksprung des jungen Pferdes aus. Man konnte sehen, dass er ein erfahrener Reiter war. Mit sanftem Schenkeldruck und mit relativ langen Zügeln veranlasste er die Stute, im Schritt anzutreten. Gekonnt passte er seine Bewegungen dem schwingenden Pferderücken an.

»Brave Leila«, sagte er leise, beugte sich nach vorne und tätschelte ihr lobend den Hals. Ohne sein Zutun fiel das Pferd plötzlich in einen munteren Trab. Als die Stute kurz darauf vom Trab in den Galopp sprang, ließ er sie gewähren.

Am Wendeplatz der Buslinie 8 im hinteren Steinbachtal angekommen, lenkte er Leila auf einen Waldweg, der in der Verlängerung nach etwa drei Kilometern auf das Forsthaus Guttenberg traf.

Nach etwa einem Drittel der Strecke verließ der ausgeschilderte Reitpfad den breiten Weg und mündete in einen schmaleren Waldpfad. Der Reiter zügelte sein Pferd in den Schritt. Der niedere Unterwuchs, der beidseitig des Pfads wuchs streifte an den Flanken der Stute entlang und berührte die Stiefelschäfte des Reiters. Hier war das Blätterdach sehr dicht, und das Licht, das durch den Schirm der majestätischen Altbuchen drang, hatte nur noch die Intensität einer beginnenden Dämmerung.

Bruno Müller stellte seinen kleinen japanischen Geländewagen mit der Vorderfront in einen Weg am Hang der Forstabteilung Hohenkamm und stieg aus. Der Forstbeamte beabsichtigte, sich ein paar ruhige Stunden auf der Jagd zu gönnen. Dabei kam es ihm gar nicht so sehr darauf an, Beute zu machen. Nach einem stressigen Tag stand für ihn die Erholung im Vordergrund. Selbstverständlich hatte er trotzdem seine Jagdwaffe dabei. Im Wald wusste man nie, ob man nicht auf Wild traf, das zu erlegen war.

Müller warf von seinem erhöhten Standort einen Blick hinunter auf die viel begangene Forststraße, die parallel zum Weg verlief, an dem er parkte. Als er von der Bundesstraße in den Wald abgebogen war, hatte er einen Augenblick lang gedacht, es sei ihm ein Fahrzeug gefolgt. In Stadtnähe war es kein ungewöhnlicher Vorgang, wenn Menschen Forstwege als Abkürzung benutzten. Das war natürlich verboten, aber Müller hatte im Augenblick absolut keine Lust, den Waldsheriff zu spielen und sich mit irgendwelchen Leuten anzulegen. Daher ging er der Sache nicht weiter nach.

Er schnappte sich seinen Rucksack und sein Gewehr, schloss den Wagen ab und marschierte in Richtung Hochsitz. Er war nur gute hundertfünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo er sein Fahrzeug abgestellt hatte.

Die Stille des Waldes wurde nur durch das gelegentliche Rufen vereinzelter Ringeltauben und dem Zwitschern von Vögel unterbrochen. Müller merkte, wie er langsam ruhiger wurde und der Stress des Tages von ihm abfiel.

Plötzlich fühlte er einen recht schmerzhaften Stich am Oberarm. Er zuckte zusammen und griff instinktiv an die Stelle. Seine Hand traf auf einen länglichen Gegenstand. Der Forstbeamte blieb stehen. Verstört betrachtete er eine Art Pfeil, der tief in der Muskulatur seines Arms steckte. Ehe er diesen jedoch entfernen konnte, überfiel ihn schlagartig eine lähmende Müdigkeit, die jegliche Entschlusskraft zum Erliegen brachte. Fast übergangslos schwanden ihm die Sinne, und er brach auf dem Trampelpfad zusammen.

Einige Minuten später löste sich ein Mann in einem Tarnanzug aus dem Schatten einer Fichte. Während er sich dem betäubten Förster näherte, zerlegte er das zusammenschraubbare Blasrohr und schob es in seinen Rucksack. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck betrachtete er sein Opfer, dann zog er Müller den Betäubungspfeil aus dem Arm und ließ ihn dem Blasrohr folgen. Der Angreifer tastete den Jäger nach Waffen ab. Seine Hände waren dabei mit dünnen Lederhandschuhen geschützt, denn Spuren wollte er keine hinterlassen. Das Messer am Gürtel ließ er an Ort und Stelle. Er wusste, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Das Mittel war, natürlich in entsprechend höherer Dosierung, in der Lage, Elefanten zu betäuben. Dieser Förster würde für geraume Zeit ausgeschaltet sein. Er durchsuchte seine Taschen nach Autoschlüsseln und wurde fündig. Dann griff er sich das Gewehr. Routiniert öffnete er das Patronenlager der Waffe und überzeugte sich davon, dass sie geladen war; dann warf er sie sich mit dem Gewehrriemen über den Rücken und marschierte davon.

Als der Pfad nach zehn Minuten wieder in einen etwas breiteren Waldweg mündete, schnalzte der Reiter leise mit der Zunge und presste die Absätze gefühlvoll gegen Leilas Flanken. Die sensible Stute reagierte freudig auf die Ermunterung und sprang in Galopp. Das Tempo ließ er sie selbst bestimmen.

Durch das dumpfe Trommeln der Pferdehufe auf dem Waldboden hörte der Reiter das Motorengeräusch ziemlich spät. Plötzlich, wie aus dem Nichts, schoss nur einen Steinwurf entfernt ein Geländewagen hinter einer dichten Fichtenkultur hervor, lenkte mit durchdrehenden Reifen auf den Waldweg und raste frontal auf Pferd und Reiter zu. Instinktiv ließ sich der Mann auf dem Pferderücken nach hinten in den Sattel fallen und riss heftig am Zügel. Die harte Parade übertrug sich schmerzhaft auf das Pferdemaul. Mit einem lauten, panischen Wiehern sackte die Stute auf die Hinterläufe herunter und rutschte ein Stück schlitternd über den Waldboden. Der Fahrer war mittlerweile nur noch wenige Meter entfernt. Plötzlich ertönte die Hupe des Geländewagens, und das Fahrzeug wurde abgebremst.

Das war zu viel für Leila. Sie stieg vorne steil in die Höhe und schlug mit den Vorderhufen in die Luft. Ihre Ohren waren furchtsam angelegt, ihre Augen traten erregt aus den Höhlen. Da ertönte der Knall eines Schusses. Nun verlor der Reiter endgültig die Kontrolle. Wie eine Katze warf sich die Stute fast auf der Stelle auf der Hinterhand herum und stürmte panisch auf dem Waldweg davon. Der Reiter wurde seitlich aus dem Sattel geschleudert, blieb aber fatalerweise mit einem Stiefel im Steigbügel hängen. Wie eine Puppe wurde er von dem Pferd seitlich mitgezerrt, wodurch Leila noch kopfloser wurde. Mit schrecklicher Wucht knallte der Reiter gegen Baumstämme und Holzstümpfe, die den Weg säumten, und wurde durch Dornengestrüpp gerissen. Schon nach wenigen Metern schlug er mit dem Kopf gegen eine an der Seite liegende gefällte Eiche und wurde ohnmächtig. Er verlor den letzten Halt und wurde wie eine menschliche Marionette unter die Hufe der Stute geschleudert. Das massive Hufeisen der linken Hinterhand traf seinen Körper und zerschmetterte dabei seinen Hüftknochen. Durch den hierdurch ausgelösten Ruck wurde der Stiefel aus dem Steigbügel gerissen, und der Mann blieb nach wenigen Metern regungslos auf dem Waldweg liegen. Leila galoppierte, von ihrer Last befreit, noch schneller davon. Ihr Fluchtinstinkt würde sie nicht eher anhalten lassen, bis sie den Reiterhof erreicht hatte.

Der Mann im Tarnanzug war mit dem Erfolg des in die Erde abgegebenen Schusses zufrieden. Er hatte die Reaktion des Pferdes richtig eingeschätzt. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte er die Flucht des Tieres und die menschliche Last, die es hinter sich herzerrte. Langsam legte er den Gang ein und folgte dem davonstürmenden Tier. Früher oder später würde es seinen Ballast abschütteln. Er sollte recht behalten. Gute hundert Meter weiter sah er die verkrümmte menschliche Gestalt auf dem Waldweg liegen. Langsam stieg er aus und trat an den wie leblos erscheinenden Mann heran. Dessen Gesicht war von Dornen blutig gezeichnet. Aus einer großen Platzwunde an der Stirn strömte reichlich Blut. Bei genauem Hinsehen konnte man erkennen, dass sich der Brustkorb des Verletzten leicht hob und senkte. Er lebte also noch. Der Mann zog eine Pistole mit Schalldämpfer aus dem Holster am Gürtel, entsicherte sie und gab ohne Zögern zwei Schüsse ab. Nachdem er alles Notwendige erledigt hatte, entfernte er sich. Den Geländewagen und die Jagdwaffe ließ er an Ort und Stelle stehen. Verwertbare Spuren hatte er keine hinterlassen.

Mit herabhängenden Zügeln und lose pendelnden Steigbügeln galoppierte Leila zwanzig Minuten später auf den Reiterhof in der Mergentheimer Straße. Mit Schaum vor den Nüstern und bebenden, schweißnassen Flanken blieb die Stute schließlich vor dem Eingang zu den Stallungen stehen. Sofort liefen mehrere Mitglieder des Reitstalles und zwei Pferdepfleger zusammen. Einer der Männer fing die Stute ein. Selbstverständlich hatte sich ihr Besitzer abgemeldet, als er den Ausritt antrat. Leila musste ihrem Reiter irgendwie ausgebüxt sein. Da aber auch ein Unfall die Ursache sein konnte, musste man nachsehen. Da die Strecke bekannt war, eilten zwei Reiter in den Stall und sattelten die zwei schnellsten Pferde. Sie würden den Reitweg absuchen. Wahrscheinlich war der Reiter zu Fuß auf dem Heimweg. Zwei weitere Mitglieder des Reitvereins, einer davon Arzt, setzten sich ins Auto des Mediziners und fuhren die Strecke auf der Straße ins Steinbachtal ab. Für alle Fälle! Man wollte sich über Handys verständigen. Die Zeit drängte, denn langsam stellte sich die Dämmerung ein.

Nachdem die berittenen Helfer den Reitweg jenseits der Mergentheimer Straße erreicht hatten, spornten sie ihre Pferde sofort zum Galopp an. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Das Auto begleitete sie parallel auf der Straße.

Nach weniger als einer halben Stunde hatten sie den Gestürzten erreicht. Nur unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung behielten sie beim Anblick der schrecklichen Verletzungen die Nerven. Sofort informierten sie ihre Kollegen im Wagen, die daraufhin, so weit es vom Weg her möglich war, mit dem Auto in den Wald fuhren. Den Rest des Weges legten sie rennend zu Fuß zurück.

Der Arzt sah in die zwei dunklen Blutseen, die dort standen, wo sich die Augen seines Reitkameraden befunden hatten. Es war klar, hier kam jede Hilfe zu spät. Dies war eindeutig ein Fall für die Polizei. Mühsam zwang er sich zur Professionalität und wählte die 110, die Notrufnummer der Polizeieinsatzzentrale.

Das letzte Schwurgericht

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