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Seit Simon Kerner zum Direktor des Amtsgerichts Gemünden am Main ernannt worden war, nahm er sich an einem Tag in der Woche nachmittags Akten mit nach Hause, um dort zu arbeiten. Dabei wählte er Tage, an denen er keine Strafsitzungen leiten musste und seine Abwesenheit vom Büro vertretbar war. An diesen Tagen zog er es vor, im angenehmen Ambiente seiner Jagdhütte zu arbeiten. Hier in der freien Natur war das Studium der Unterlagen fast schon erholsam. Zuvor fuhr er jedoch nach Lohr in ein Studio für Kampfsport, um sich körperlich fit zu halten. Danach erst setzte er sich vor die Jagdhütte und arbeitete. Kurz bevor die Dämmerung hereinbrach, vertauschte er dann das Diktiergerät mit dem Jagdgewehr und ging auf die Pirsch.

Heute war Donnerstag, und er hatte sitzungsfrei. Es war ein heißer Sommertag mit Temperaturen, bei denen in der Stadt der Asphalt schmolz. Das Training war heute besonders anstrengend gewesen. Zum Glück wehte hier auf der Spessarthöhe eine leichte Brise, so dass die Hitze zu ertragen war. Steffi, seine Lebensgefährtin, beneidete ihn dafür, dass es ihm die Unabhängigkeit des Richteramtes ermöglichte, einen Teil seiner Arbeit auch zu Hause zu erledigen. Sie musste es hingegen in der Hitze der Physiopraxis aushalten.

Seit Kerner in seiner vorherigen beruflichen Position als Oberstaatsanwalt gegen den Emolino-Klan ermittelt hatte, waren mittlerweile mehr als drei Jahre vergangen. Nach dem Tod Don Emolinos hatten die Ermittler des Landeskriminalamtes den Fall übernommen und dem Nachfolger des Mafiapaten systematisch das Handwerk gelegt. Don Trospanini war in die Netze der Steuerfahndung geraten und zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nachdem die Strukturen des Emolino-Klans zerschlagen waren, verschwand er sang- und klanglos aus Gemünden.

Kerner gab sich natürlich nicht der irrigen Illusion hin, damit das organisierte Verbrechen aus Main-Spessart verbannt zu haben. Sicher nicht. Die Mafia hatte allerdings einen harten Schlag erhalten, von dem sie sich so schnell nicht wieder erholen würde.

Er warf einen Blick zum Himmel. Die Sonne war dem Horizont ein ganzes Stück näher gekommen. Seine Armbanduhr ermahnte ihn, sich für die Jagd fertig zu machen. Kerner klappte die Akte zu, die er gerade bearbeitete, schaltete das Diktiergerät aus und erhob sich. In einem Zug trank er das Glas Wasser leer, das auf der Platte des grob behauenen Tisches stand, dann packte er seine Arbeitsutensilien in einen geräumigen Aktenkoffer und stellte diesen im Inneren neben der Tür unter die Garderobe. Nach kurzem Nachdenken entschied er sich, die Shorts gegen eine lange Jagdhose zu tauschen. Selbst wenn die Tage sehr warm waren, konnten die Abende hier im Wald recht frisch werden. Außerdem schützte sie vor den allgegenwärtigen Zecken.

Bevor er sich auf den Weg zum Hochsitz machte, wollte er noch kurz die Toilette aufsuchen. Das Häuschen mit dem Herzen in der Tür befand sich etwa vierzig Meter von der Hütte entfernt. Es war über einen schmalen Trampelpfad, der vom Haus aus nicht eingesehen werden konnte, zu erreichen.

Simon Kerner war in Gedanken noch bei dem Urteilstext, den er gerade diktiert hatte, und achtete nicht sonderlich auf seine Umgebung. Als er das Toilettenhäuschen erreichte und die Hand nach der Tür ausstreckte, wurde er heftig aus seinen Überlegungen gerissen. Abrupt blieb er stehen und gab einen Laut der Verwunderung von sich. Das Holz der Tür war im Laufe der Jahre stark nachgedunkelt. Daher hob sich der tote, schwarze Vogel auf den ersten Blick kaum davon ab. Das Makabre an der Situation war aber die Tatsache, dass jemand das Tier mit Reißzwecken an die Bretter geheftet hatte.

»Verdammt«, stieß Kerner hervor, »was ist denn das für eine Schweinerei?« Er betrachtete den Vogel genauer. Es handelte sich eindeutig um eine Rabenkrähe.

Mit ausgebreiteten Schwingen hing sie mit dem Rücken zum Holz. Ihr Kopf baumelte haltlos nach vorne auf die Brust. Schockierend war, dass man der Krähe beide Augen ausgestochen hatte. Einzelne Blutstropfen hingen wie kleine Tränen am Schnabel. Das Brustgefieder war blutig, und man konnte ein kleines Loch erkennen. Offenbar eine Schussverletzung. Instinktiv musterte Kerner die Umgebung um die Toilette. Hier, unter dem Dach alter Buchen, war in den letzten Jahren dichter Unterwuchs hochgekommen, der sein Blickfeld stark einschränkte. Es war weit und breit niemand zu sehen. Kerner wandte sich wieder dem Vogel zu. Vorsichtig berührte er mit der Fingerspitze einen Blutstropfen. Die Flüssigkeit war noch nicht vollständig geronnen. Sein Finger wurde rot. Kerner wusste, was das bedeutete. Diese Erkenntnis trieb ihm einen leichten Schauer über den Rücken. Er hatte sich ungefähr drei Stunden an der Jagdhütte aufgehalten. Da das Blut der Krähe noch nicht geronnen war, musste der Vogel während seiner Anwesenheit hier aufgehängt worden sein. Kerner hatte keinerlei Geräusche gehört. Wenn ihm der Urheber dieser mysteriösen Inszenierung auflauern wollten, hätte er dies ohne Problem tun können. Für Kerner stand fest: Damit wurde ihm eine Botschaft übermittelt. Eine Nachricht, deren Sinn sich ihm allerdings nicht erschloss. Mit der Spitze seines Jagdmessers zog er die Reißzwecken aus dem Holz und nahm die Krähe in die Hand. Sie war noch nicht steif, konnte also noch nicht lange tot sein. Kerner drehte den Körper in der Hand. Der Einschuss stammte vermutlich von einer Kleinkaliberwaffe. Der Ausschuss war kalibergroß, also vermutlich ein Vollmantelgeschoss.

Simon Kerner kehrte zur Hütte zurück. Die Jagd war ihm heute vergällt, und so ließ er sich auf der Eckbank, die in den Winkel zwischen zwei Fenstern eingepasst war, nieder. Die tote Krähe legte er auf den Tisch, mit einer alten Zeitung als Unterlage. Nachdenklich betrachtete er das auch im Tod noch glänzende Gefieder.

Kerner lebte schon lange genug im ländlichen Bereich des Spessarts, um zu wissen, dass das Annageln einer toten Rabenkrähe nicht von ungefähr kam, sondern eine tiefere Bedeutung hatte. Er wusste um die Praxis mancher Bauern, tote Krähen auf dem Feld an Stangen anzunageln, um Artgenossen fernzuhalten. Große Schwärme von Saatkrähen konnten auf frisch angesäten Feldern enorme Schäden anrichten. Es gab aber noch eine ganz andere Bedeutung solcher Handlungen, die ins Mystische gingen und einem tief verwurzelten Aberglauben entsprangen: Rabenvögel galten als Boten des Todes! Kerner hatte keine Ahnung, was der Verursacher mit seiner morbiden Handlung bezweckte. Sollte das eine Mahnung oder gar eine Drohung sein? Der nächstliegende Gedanke führte natürlich zu seinem Beruf als Richter. Der Vogel war erschossen worden, was aber sicher keinen Hinweis auf eine konkrete Täterschaft ermöglichte. In der ländlichen Bevölkerung des Spessarts gab es mit Sicherheit noch eine ganze Anzahl unregistrierter Schusswaffen, insbesondere Kleinkalibergewehre. Seit Generationen wurde mit solchen Waffen dem Ungeziefer auf den Höfen der Garaus gemacht – was auch immer man darunter verstand.

Kerner betrachtete den Vogel nochmals eingehend, dann wickelte er den Kadaver in die Zeitung und erhob sich. Aus dem an die Hütte angebauten Werkzeugraum holte er einen Spaten und vergrub das Tier ein Stück von der Hütte entfernt im Wald. Er war sich zwar sicher, dass der Fuchs den Kadaver in der Nacht ausgraben würde, trotzdem widerstrebte es ihm, das Tier einfach in den Wald zu werfen.

Wenig später, die Dämmerung war nun schon stark fortgeschritten, verschloss er die Jagdhütte, legte sein Jagdgewehr und die anderen Utensilien nebst seiner Aktentasche in seinen Defender und fuhr nach Hause. Kerner hatte keine Ahnung, dass ihn dabei zwei Augen durch ein Fernglas aufmerksam beobachteten.

Nachdem sich die Scheinwerfer des Geländewagens im Wald verloren hatten, verließ eine hochgewachsene männliche Gestalt im Tarnanzug ihren Platz zwischen mehreren dicht stehenden Fichten und näherte sich der Hütte. Mit wenigen Schritten war der Mann an der Stelle, wo Kerner die Krähe vergraben hatte, und lockerte mit einem trockenen Ast das lose Erdreich. Kerner hatte die Erde nur dürftig festgetreten. Nachdem er den Kadaver in Händen hielt, schob er das kleine Erdloch mit den Schuhen wieder zu. Der Mann säuberte das Gefieder der Krähe nur notdürftig, dann fasste er den Vogel bei den Krallen und marschierte durch die Dunkelheit davon. Das Tier wurde noch gebraucht. Ein Grinsen überzog sein Gesicht.

Das letzte Schwurgericht

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