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2 Der Türke: „Erbfeind der Christenheit“
ОглавлениеMit Maximilian I. geht das Mittelalter zu Ende. Der „letzte Ritter“, wie er genannt wird, war wohl der erste, der den Franzosen das Etikett „Erbfeind“ aufklebte. 1498 begründet er seine Forderung an die vorderösterreichischen Stände, ihn gegen Frankreich zu unterstützen, mit der Behauptung, dieses sei „uwer rechter nattürlicher vynd“. 1513 spitzt er seine Feind-Rhetorik zu. Frankreich gilt ihm jetzt nicht mehr nur als der natürliche Feind. Es ist nun schlechterdings der „Erbfeind, der gegen den Rhein steht“.5 Die Absicht des Habsburgers ist leicht zu durchschauen. Sein Haus wetteifert mit der französischen Valois-Dynastie um die Vorherrschaft in Europa. Er braucht Geld und Truppen und bekniet die Reichsstände, die sich aber zieren. Mit der Tätowierung Frankreichs als Feind der besonderen Art will er den Druck auf die Reichsstände erhöhen. Ein paar Jahre später kommt der „Erbfeind“ wieder zum Einsatz, allerdings unter anderen Vorzeichen. 1529 stehen die Türken vor Wien, der „Erbfeind der Christenheit“.
Im Abendland hat man von den Türken keine genaue Vorstellung. Nur so viel glaubt man zu wissen, dass überall dort, wo sie ihren Halbmond aufpflanzen, es mit der Herrschaft des Kreuzes vorbei sei. Außerdem geht ihnen der Ruf voraus, beispiellos blutrünstig zu sein. Es heißt, sie vergewaltigten christliche Frauen und töteten oder versklavten Kinder. Über jeden Zweifel erhaben sind ihr kriegerischer Mut und ihre militärischen Fertigkeiten. Von ihren Reitern sagt man, sie könnten ihren kleinen Bogen sogar im Galopp als todbringende Waffe einsetzen. Das Unheimliche, das die Eroberer mit dem Zeichen des Halbmonds umgibt, sorgt dafür, dass „der Türke“ von den Christen als der Schrecklichste der Schrecken wahrgenommen wird, vergleichbar einer Seuche oder einer Naturkatastrophe.
Angefangen hat alles 1453. In diesem Jahr erobert Sultan Mehmed II. Konstantinopel und macht aus der ehrwürdigen Hagia Sophia, dem Parthenon des byzantinischen Christentums, eine Moschee. In der Folge unterwerfen die Türken den gesamten östlichen Mittelmeerraum. 1480 fallen sie in Kärnten und der Steiermark ein. 1521 kassieren sie Belgrad, 1526 (Schlacht bei Mohács) reißen sie Ungarn an sich. Und nun, 1529, tauchen die Janitscharen Süleymans des Prächtigen vor den Toren Wiens auf, wild entschlossen, den „Goldenen Apfel“, wie sie die Stadt nennen, in ihre Hand zu bekommen.
Mit seiner fünf Kilometer langen und sechs Meter hohen Ringmauer macht Wien auf den ersten Blick den Eindruck einer vorzüglich geschützten Stadt. In Wirklichkeit sind die Verteidigungsanlagen ziemlich marode, sodass eine zur Überprüfung eingesetzte Kommission rät, die Stadt anzuzünden und dem Feind preiszugeben. Das allerdings lehnt Erzherzog Ferdinand, der Enkel Maximilians und Herrscher in den österreichischen Erblanden, entschieden ab. Schanzarbeiten werden angeordnet und Söldner angeworben, um die städtische Miliz zu verstärken. Die erhoffte Befreiungsoffensive aus dem Reich bleibt allerdings aus. Dafür, dass in Wien das Schicksal der Christenheit auf dem Spiel steht, sind die 1600 Reiter, die der Reichstag bewilligt, keine große Sache. Zu allem Überfluss kommt das Ersatzheer zu spät an, um in die Kämpfe einzugreifen.
Als die Türken am 27. September den Belagerungsring um Wien schließen, haben die meisten Einwohner die Flucht ergriffen, allen voran die Wohlhabenden und auch etliche Ratsherren. Mitverantwortlich für den Massenexodus waren Horrornachrichten aus dem ungarischen Ofen. Die Türken hatten Ofen auf ihrem Vormarsch erfolgreich belagert. Doch statt den Verteidigern, wie versprochen, freien Abzug zu gewähren, machten sie die Besiegten nach der Kapitulation nieder. Die Nachricht von dem Massaker löste in Wien Panik aus.6
Die ersten Feinde, die die Eingeschlossenen zu sehen bekommen, sind die berüchtigten Akindschi, berittene Bogenschützen, die wegen ihrer nachgewiesenen Grausamkeit auch als „Renner und Brenner“ bezeichnet werden. Die Avantgarde Süleymans wird ihrem Ruf gerecht. Die Akindschi machen in der Umgebung Wiens alles nieder, was ihnen in die Quere kommt. Ein österreichischer Chronist berichtet: „Die Weiber und Kinder sind den mehreren Teil in der Türken Hand gekommen, und so tyrannisch und erbärmlich mit ihnen gehandelt worden, das es nicht wohl auszusprechen und zu beschreiben ist, welcher große Jammer einem jeglichen Christenmenschen wohl zu beherzigen ist.“7
An Zahl sind die Angreifer den Verteidigern turmhoch überlegen. Intra muros erwarten 17 000 Kämpfer den Ansturm von 110 000 Türken. Die Streiter Süleymans des Prächtigen müssen freilich mit zwei Problemen fertigwerden. Erstens funktioniert der Nachschub nicht, was konkret bedeutet, dass eine sich hinziehende Belagerung keine Option ist. Der Sultan braucht also den raschen Erfolg. Das zweite Problem: Die schweren, mauerbrechenden Kanonen sind im sumpfigen Aufmarschgebiet stecken geblieben. Als Ersatzlösung bietet sich an, den Ringwall, der den „Goldenen Apfel“ umschließt, zu unterminieren. Dementsprechend zerfällt der Kampf in einen ober- und in einen unterirdischen Teil. Oben lösen Attacken der Angreifer und Ausfälle der Verteidiger einander ab; unten treiben die Türken immer neue Stollen, die sie mit Schießpulver zustopfen. Das Schicksal der Wiener hängt davon ab, dass sie die Wühlarbeit des Feindes antizipieren und rechtzeitig durchkreuzen. Zum Glück verfügen sie in ihren Reihen über eine Anzahl Tiroler Bergleute, die für den Untertagekrieg prädestiniert sind.
Am 9. Oktober tritt der Kampf in die entscheidende Phase. Die Türken, allen voran die Kernmannschaft der Janitscharen, konzentrieren ihre Attacken auf den Bereich rechts und links des Kärntnertores, wo sie den Schwachpunkt der Verteidiger vermuten. Am 12. Oktober reißen Minenexplosionen eine große Bresche in die Ummauerung. Doch der folgende Sturmangriff wird zurückgeschlagen. Derselbe Ablauf wiederholt sich am 14. Oktober. Wieder misslingt es den Türken, ihren Vorteil zu nutzen. Einen Tag später erteilt Süleyman den Befehl zum Abzug. Der Proviant geht zu Ende, die Disziplin im Heer lässt nach. Angesichts des herannahenden Winters kommt eine Fortsetzung der Belagerung nicht infrage. Wien ist gerettet.
Trotz des Fehlschlags schreiben die Osmanen den Gewinn des „Goldenen Apfels“ nicht ab. In den nächsten Jahrzehnten dringen sie wiederholt nach Norden vor, allerdings ohne den Kaiser in seinen österreichischen Erblanden ernsthaft zu gefährden. Erst 1683 tauchen die Türken wieder vor Wien auf. Die Belagerung der Stadt scheitert jedoch wie 150 Jahre zuvor. Das Heer des Großwesirs Kara Mustafa Pascha wird in der Schlacht am Kahlenberg von einer deutsch-polnischen Truppenallianz unter dem polnischen König Jan Sobieski schwer geschlagen. Den Schlussstrich unter das osmanische Expansionsstreben zieht Prinz Eugen mit seinem Sieg bei Peterwardein 1716.
Die mehrere Generationen andauernde Türkenangst brennt sich tief in die Seele der damaligen Christenheit ein. Äußere Zeichen halten das Bewusstsein wach, am Abgrund zu stehen. Bereits 1456 ordnet Papst Calixt III. ein regelmäßiges Mittagsläuten der Kirchenglocken an. Die „Türkenglocke“ ist ein Warnsignal und ruft zugleich zum Kreuzzug wider den unheimlichen Feind auf. Beispielhaft für den langen Nachhall historischer Erschütterungen steht die „Türkenglocke“ der Kirche von Maria Gail bei Villach. Erstmalig tritt sie 1478 in Aktion, als türkische Reiterscharen sengend und plündernd Kärnten durchstreifen. Von da an läutete sie jeden Tag pünktlich um 15 Uhr, bis jetzt summa summarum 1,9 Millionen Mal, wie ein Lokalhistoriker berechnet hat. Geblieben ist die Übung, geändert hat sich im Lauf der Zeit der Grund: Längst ruft die Glocke nicht mehr zum Kampf gegen „den Türken“, sondern zu dörflichen Festlichkeiten.8
Die „Türkenglocke“ ist nur ein Mittel unter anderen, welche Kirche und weltliche Obrigkeit einsetzen, damit den Menschen die türkische Bedrohung so präsent bleibt wie die Angst vor dem Jüngsten Tag. „Türkenpredigten“ mahnen die Gläubigen zur Wachsamkeit, „Türkenkollekten“ in den Kirchen sammeln Geld ein wie die „Türkensteuern“, die der Kaiser erhebt, um damit Feldzüge gegen die Verderber der Christenheit zu finanzieren. Eine erhebliche Breitenwirkung erzielen „Türkendrucke“. Flugschriften sind seit der Reformation in Mode, sie agitieren mehr als sie informieren. Die bebilderten „Türkendrucke“ sollen auch die des Lesens Unkundigen schockieren. Beliebte Abbildungen zeigen, wie vierschrötige Krieger mit Turban und Krummsäbel Kleinkinder zweiteilen oder auf Speere spießen.9
Das Abendland atmete auf. Die Türken, „Erbfeinde der Christenheit“, wurden 1683 bei der Schlacht am Kahlenberg von einem Heer unter Jan Sobieski schwer geschlagen. Gemälde, um 1688, von Franz Geffels.
Zweifellos war die Türkengefahr kein Hirngespinst. Hätte Süleyman 1529 den „Goldenen Apfel“ gepflückt, wäre der Landhunger der Osmanen wohl kaum gestillt gewesen. Die Geschichte des Abendlandes hätte einen anderen Verlauf genommen. Zweihundert Jahre lang fielen die Türken wie Heuschreckenschwärme über den Südosten Europas her. Schon aufgrund der schieren Dauer der Plage sahen die Christen in ihnen den hostis sempiternus, den ewigen Feind. Freilich, um vom Erzfeind zum Erbfeind zu avancieren, bedurfte es mehr als eines Komparativs. Das Wort ist in einer anderen Verständniszone angesiedelt. Im Erbfeind (mittelhochdeutsch erbe-vint) schwingt die Erbsünde mit. Als Erbfeind der Christenheit ist „der Türke“ eine Kreatur des Teufels und gleichzeitig Gottes Strafe für die Sünden der Christen. In diesem Sinne tauchen die Türken immer wieder in der zeitgenössischen Literatur auf. Wahrhaftige Beschreybung des glücklichen Friedenreichen Waffensiegs, so die Christenheit hat an dem türkischen Erbfeind, ist eine Schrift aus dem 16. Jahrhundert tituliert. In einem Volkslied aus demselben zeitlichen Umfeld heißt es: „Das der Türk jetzt zu dieser Frist/der allen Christen Erbfeind ist“. 1683, wenige Wochen vor der Schlacht am Kahlenberg, behauptet ein Edikt des Domkapitels Münster, es sei „leyder jedermänniglichen bekandt/was gestalt der Erb-Feynd des christlichen Nahmens der Groß-Türck/mit erschrecklicher Kriegs-Macht/fornemblich dem lieben Teutsch-Landt“ antue.10 Luther spricht nicht ausdrücklich vom Erbfeind, bedient sich aber in seinen Schriften Vom Kriege gegen die Türken und der Heerpredigt wider die Türken der satanischen Konnotation: „Der Türke ist unsers Herr Gotts zornige Ruthe und des wütenden Teufels Knecht.“11
Vom solidarischen Weltanschauungskrieg gegen den „Erb-Feynd des christlichen Nahmens“ wollten jedoch nicht alle christlichen Fürsten etwas wissen. Wenn es darauf ankam, ließen viele den Kaiser im Stich, und die „Türkenglocke“ läutete vergebens. Besonders nonchalant verhielten sich die gekrönten Häupter Frankreichs. Verbissen in die Konkurrenz mit den Habsburgern, handelten sie nach der Devise, der Feind meines Feindes ist mein Freund. 1529 stärkte Franz I. Süleyman den Rücken; Ludwig XIV. tat es ihm 1683 gleich, indem er Mehmet IV. glauben ließ, er habe für den Sturm auf Wien seine Unterstützung. Für Könige Frankreichs, die sich nach alter Sitte mit dem Ehrentitel des „allerchristlichsten Königs“ schmückten, war das jeweils ein starkes Stück – ein Stück vormoderner Realpolitik.