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1 Kaiser Ottos Waterloo

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Sie sind Nachbarn und obendrein nahe Verwandte. Dennoch leben Deutsche und Franzosen das ganze Mittelalter über friedlich nebeneinander. Ihre Erbfeinde sind andere. Die französischen Könige liegen mit den Engländern in Dauerfehde, die deutschen Könige mit den Päpsten. Nur einmal greifen die Nachbarn gegeneinander zu den Waffen. Dabei zieht Kaiser Otto IV. den Kürzeren.

Am 27. Juli des Jahres 1214 kommt es in der Ebene von Bouvines zu einer großen Feldschlacht. Ein deutsch-englisches Heer, angeführt von Kaiser Otto IV., trifft auf die Streitmacht des französischen Königs Philipp II. August. Bouvines, niederländisch Bovingen, liegt zwischen Lille und Tournai; heute ist es ein Dorf mit weniger als tausend Einwohnern. Fünf Stunden zieht sich das Ringen hin. Der Personaleinsatz ist mit 16 000 Rittern und Fußsoldaten für die Zeit außerordentlich hoch. Am Ende räumt Otto, der eigentlich über die stärkeren Bataillone verfügt, das Feld. Der Sieg im ersten militärischen Konflikt von Franzosen und Deutschen gehört dem Franzosenkönig.

Der Kampf steht von Anfang an unter schlechten Vorzeichen. Der 27. Juli ist ein Sonntag. Folglich dürfte gar nicht gekämpft werden, denn am Tag des Herrn ist christlichen Rittern nicht nur untersagt, der Fleischeslust zu frönen, verboten sind genauso Fehden und andere standesübliche Formen des Blutvergießens. Otto zögert denn auch, den Sonntagsfrieden zu brechen, lässt sich aber von einem gotteslästerlichen Bundesgenossen, dem Grafen Hugues de Boves, umstimmen. So erzählt uns jedenfalls ein zeitgenössischer Bericht. Musste Otto den Frevel mit seiner Niederlage büßen? Den Menschen des Mittelalters hätte die Erklärung eingeleuchtet. Sie waren daran gewöhnt, in allen außergewöhnlichen Ereignissen die lenkende Hand Gottes zu erkennen.

Die Schlacht entbrennt mittags um 12 und zieht sich bis 17 Uhr hin. Wilhelm Brito schildert sie in seiner Chronik wie einen Zweikampf. Zuerst gerät König Philipp ins Gedränge. Dann, nachdem tapfere Gefährten ihn vor Tod oder Gefangennahme bewahrt haben, schlägt das Pendel um. Nun ist Otto derjenige, der um sein Leben fürchten muss. In Britos Erzählung führt ein Ritter Girard mit dem Beinamen la Truie („das Schwein“) die Entscheidung herbei. Laut Brito stieß Girard „mit einem Messer nach des Kaisers Brust, und als er nicht durchkam, stieß er ein zweites Mal zu, um den Fehlschlag wettzumachen. Während er so auf Ottos Leib zielte, traf er den Kopf des sich aufbäumenden Pferdes, und das mit großem Geschick geworfene Messer drang diesem durch das Auge ins Gehirn. Das Pferd, das den heftigen Schlag wohl spürte, bekam es mit der Angst und wurde wild. Es wandte sich in die Richtung, aus der es gekommen war, so daß Otto unseren Rittern den Rücken zeigte und eiligst davonjagte.“2

Die einprägsame Darstellung entspricht dem Zeitbedürfnis, komplexe Ereignisse in Bildern und Personen zu vermitteln. Eins zu eins nehmen darf man sie nicht. Im Krieg hat die Wahrheit immer einen besonders schweren Stand, das war schon damals so. Als Philipps Kaplan ist es dem bretonischen Kleriker Brito vor allem darum zu tun, den Ruhm seines Königs zu mehren. Der erstrahlt umso heller, wenn die Gegenpartei als besonders furchterregend dargestellt wird. Daher hebt Brito den wilden Mut der Deutschen hervor. Doch selbst dieser Furor teutonicus, der schon römischen Schriftstellern an den Germanen auffiel, vermag König Philipp nicht zu bremsen. Otto, der eigentlich als Favorit gestartet war, verlässt die Walstatt als Geschlagener. Das Ausmaß der Niederlage unterstreicht der Verlust der Standarte. Der Reichsadler, dem während des Hauens und Stechens die Schwingen gebrochen sind, fällt Philipps Anhängern in die Hände. „Von dieser Zeit an“, urteilt ein anderer Chronist, der Deutsche Konrad von Lauterberg, „sank der Ruf der Deutschen bei den Welschen.“3

Bouvines gehört zweifellos zu den bedeutendsten Schlachten des Mittelalters, vergleichbar mit der auf dem Lechfeld 955. Mit maßvoller Zuspitzung lässt sich behaupten, dass die französische Nationalgeschichte ohne den Sonntag von Bouvines einen anderen und weniger glänzenden Verlauf genommen hätte. Unsinnig wäre es dagegen, das Geschehnis von 1214 als Flammenschrift an der Wand zu lesen, als Vorzeichen eines späteren, Epoche übergreifenden Völkerhasses. Den mittelalterlichen Kriegen ist der nationale Stachel noch vollkommen fremd, deutsch und französisch kennzeichnet Himmelsrichtungen, aus denen die Ritter kommen – und selbst das stimmt nur eingeschränkt: Bei Bouvines ficht in den Reihen Ottos neben sächsischen und niederlothringischen Rittern auch der Graf von Flandern, ein Vasall König Philipps. Philipp kann auf seinen Vetter zählen, den Grafen von Auxerre, nicht aber auf dessen Sohn, der für Otto und gegen die Krone Frankreichs das Schwert führt. Otto selbst ist, durch familiäre Fügung, Graf von Anjou und Herzog von Aquitanien.

Die mittelalterliche Welt ist kunterbunt wie ein Wimmelbild. Grenzen haben nur einen ungefähren Charakter. Sie verändern sich ständig und werden von der Siedlungsbevölkerung kaum wahrgenommen. Der Rhein stellt ein Hindernis dar, aber es dauert noch Jahrhunderte, bis er zum Zankapfel wird. Stärker als das Trennende ist das Bewusstsein gemeinsamer Wurzeln, das auch nach dem Zerfall des fränkischen Großreichs lebendig bleibt. Man spricht von sich selbst als West- oder als Ostfranken und verehrt in Karl dem Großen den Stammvater, der allen gleichermaßen gehört. Erst allmählich verblasst die Erinnerung und macht einer unterschiedlichen Eigensicht Platz. Im 11. Jahrhundert fangen die Ostfranken an, sich deutsch zu nennen. Den fränkischen Familienamen tragen jetzt allein die Franzosen. Für das beiderseitige Verhältnis hat das zunächst keine Folgen. Man lebt weiterhin in der res publica christiana. Das einende Band des Glaubens bedeutet viel. Die Kreuzzüge sind europäische Gemeinschaftsunternehmen, der kulturelle Austausch ist umfassend. Literarisch geben die Franzosen den Ton an. Der große Chrétien de Troyes, Schöpfer des höfischen Romans, beeinflusst Barden rechts des Rheins. Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach übertragen Chrétiens auf Altfranzösisch verfasste Erec und Yvain sowie Perceval in mittelhochdeutsche Verse. Umgekehrt lehrt der in Köln verehrte Dominikaner Albertus Magnus auch an der Pariser Sorbonne, wo er Studenten der ganzen Christenheit mit den Lehren des „heidnischen“ Aristoteles vertraut macht. Die bahnbrechende gotische Kirchenbaukunst wandert von West nach Ost. Denselben Weg nehmen die wirkmächtigen monastischen Reformbewegungen. Die besonders erfolgreichen Zisterzienser geben sich 1115 eine Verfassung, die durch ihre Modernität verblüfft: Ihre Klöster werden als selbstständige Wirtschaftseinheiten geführt. Die Geschicke des Ordens lenkt das Generalkapitel, ein aus allen Äbten bestehendes Kollegialorgan, das einmal pro Jahr im burgundischen Cîteaux zusammentritt und bindende Beschlüsse fasst. Wer nach den Ursprüngen subsidiären und demokratischen Denkens in Europa forscht, kommt an den Zisterziensern nicht vorbei. In Deutschland tragen sie viel zur Ostkolonisation bei, und da der Orden bald im ganzen Abendland Niederlassungen unterhält, ist Cîteaux der Ort, wo man über das, was Europa bewegt, besser informiert ist als an jedem Fürstenhof.

Es ist ein überwiegend friedvolles Nebeneinander, das franci und teutonici das ganze Mittelalter über pflegen. Einmal, 1124 rückt Heinrich V. gegen Ludwig VI. aus, der damals die französische Krone trägt. Aber Heinrich macht bei Metz kehrt, ohne dass man die Klingen gekreuzt hätte. So bleibt Bouvines die einzige kriegerische Ausnahme in einer erstaunlich langen Friedensperiode. Weshalb die Nachbarn sich nicht in die Quere kommen, liegt hauptsächlich daran, dass sie getrennte Wege gehen.

Die Auseinanderentwicklung setzt mit Otto dem Großen ein. Der Liudolfinger verschafft sich die Herrschaft auch über Italien. 962 lässt er sich in Rom vom Papst zum Kaiser krönen. Von da an verstehen sich die ostfränkischen Könige als römische Kaiser. Dieses Kaisertum ist zwiespältig. Einerseits sichert es Otto und seinen Nachfolgern die Vorrangstellung unter den Königen des Abendlandes. Andererseits bildet Deutschland /Ostfranken jetzt nur noch die Teilmenge einer Universalmonarchie, die neben Italien das frühere karolingische Zwischenreich Lotharingen und zeitweilig auch Burgund mit einschließt. Die Ottonen und mehr noch die Salier und Staufer sind Reisekaiser, die zur Aufrechterhaltung ihrer Stellung in Italien ständig unterwegs sind und deshalb die Herrschaftssicherung im Stammland vernachlässigen. Italienfeldzüge gehören für die deutschen Könige bis hinein ins 15. Jahrhundert zum Pflichtprogramm. Achtzehn Könige wagen die mühsame und gefahrvolle Alpenüberquerung, einige von ihnen mehrfach.4 Der Preis der ständigen Abwesenheit ist hoch, trotzdem halten die Kaiser am „Imperium Romanum“ fest, auch nachdem sich für das zwischenzeitlich geheiligte Römische Reich die Namensanfügung „deutscher Nation“ eingebürgert hat. Unbeirrt wehren die Kaiser jeden Versuch, sie in ihrem Selbstverständnis auf das „Regnum Teutonicum“ zu reduzieren, als Beleidigung und Angriff ab. So bleibt es beim „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ bis zu seinem Erlöschen im Jahr 1806. Den ersten deutschen Kaiser, der sich auch so nennt, bekommen die einstigen Ostfranken 1871 mit Wilhelm I.


Seit Otto I. verstanden sich die ostfränkischen Könige als römische Kaiser und die wahren Erben Karls des Großen. Den westfränkischen Vettern gefiel das wenig, aber sie hatten genug Ärger mit den Engländern. Otto I. und seine erste Frau Editha als Sitzstatuen am Magdeburger Dom.

Als imperiale Herrscher erheben die ostfränkischen Könige seit Otto dem Großen den Anspruch, die wahren und einzigen Erben Karls des Großen zu sein. Den westfränkischen Vettern gefällt das wenig. Der Usurpation entgegenzutreten, fehlen ihnen allerdings die Mittel. Die Schwäche der Capetinger rührt daher, dass sie ihre Vasallen nicht im Griff haben. Zeitweilig reicht ihre Autorität kaum über die Île de France, das heißt über das Umland von Paris hinaus. Die mächtigsten Vasallen kommen aus England. 1066 hat der Herzog der Normandie über den Ärmelkanal gesetzt und die Macht in England an sich gerissen. Aber die Heldentat Wilhelms des Eroberers, die auf dem 68 Meter langen Wandteppich von Bayeux monumental gefeiert wird, trägt dem französischen Königtum nur Schaden ein. Denn Wilhelm und die, die ihm auf dem Thron von England folgen, denken nicht daran, ihre kontinentalen Machtpositionen aufzugeben. Ihr angevinisches Reich umfasst um die Mitte des 12. Jahrhunderts neben der Normandie die Herzogtümer Bretagne, Aquitanien und Gascogne sowie die Grafschaften Anjou, Maine und Tourraine, ein Gebiet halb so groß wie das heutige Frankreich und bedeutend größer als das französische Krongut zu dieser Zeit. Bis zum Ende des Hundertjährigen Krieges können sich Frankreichs Könige ihres Thrones nicht sicher sein.

Der englisch-französische Zweikampf bildet auch das Layout für die Schlacht von Bouvines. Dem starken Capetinger Philipp II. Augustus ist es gelungen, den anglo-fränkischen Einfluss zurückzudrängen. Damit fordert er den englischen König Johann („Ohneland“) heraus. Johann schließt ein Bündnis mit Otto IV. Die Verbindung liegt nahe. Der Welfe Otto ist als Neffe von Richard Löwenherz dem englischen Königshaus eng verwandt und in England erzogen worden. Außerdem braucht Otto einen Befreiungsschlag in eigener Sache. Seine Krone wird ihm streitig gemacht vom Staufer Friedrich II., der seinerseits den Papst und den französischen König hinter sich hat. Ein Sieg über Philipp, so rechnet Otto, würde den Thronstreit mit einem Schlag zu seinen Gunsten entscheiden.

Der Ausgang der Schlacht, den wir kennen, hinterlässt tiefe Spuren in der europäischen Geschichte. Geschwächt durch die Niederlage, muss Johann den englischen Baronen in der Magna Charta von 1215 erhebliche Zugeständnisse machen. Otto wird seines Lebens nicht mehr froh. Er stirbt 1218 politisch isoliert auf der Harzburg. Friedrich II., dem Philipp nach dem Sieg den erbeuteten Reichsadler mit den gebrochenen Schwingen übersendet, ist nun unumstritten Kaiser, allerdings einer, der seinen Mittelpunkt in Italien hat und der durch sein universales Amtsverständnis das Siechtum des deutschen Königtums beschleunigt. Für Deutschland geht es nach Bouvines bergab, für Frankreich bergauf. Philipp II. Augustus gewinnt infolge des Sieges die Normandie und das Anjou. Es beginnt der allmähliche Aufstieg der Krone zur Zentralgewalt. Symptomatisch für die gegenläufige Entwicklung sind die Bestattungsorte Philipps und Friedrichs. Philipp findet seine letzte Ruhe in Saint-Denis bei Paris. Friedrichs Sarg steht nicht in Speyer, sondern im Dom von Palermo auf Sizilien.

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