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7 Revolution I: „Oh, wenn ich itzt Franzose wäre“

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Am 11. Juli 1789 begeht Ludwig XVI. eine große Torheit. Der 62. König von Frankreich, ein gutmütiger Mann von mittlerer Intelligenz, jedoch als Herrscher eine krasse Fehlbesetzung, entlässt den populären Finanzminister Necker. Daraufhin brechen Unruhen aus. Am 14. Juli erstürmt eine aufgebrachte Volksmenge das Pariser Stadtgefängnis, die Bastille. Während sich der Quatorze juillet rasch als Quelldatum für die große Revolution durchsetzt, steht für den Korrespondenten der angesehenen Augspurgischen Ordinari-Postzeitung bereits am 11. fest, dass die alte Ordnung perdu ist. „Die Miene ist endlich gesprungen, und das Feuer eines bürgerlichen Kriegs in Paris ausgebrochen.“ Zehn Tage später ordnet der Berichterstatter die Ereignisse historisch ein: „Wir haben kein Beyspiel in der Geschichte, daß eine Staatsveränderung in so kurzer Zeit zu Stande gebracht worden sey, als unsere gegenwärtige, wobey allein die Hauptstadt das Schicksal einer ganzen Nation mag entschieden haben. Die Engelländer haben Jahrhunderte an ihrer Freyheit gearbeitet, und es hat über eine Million Menschen gekostet; wir keine 8 Tage mit wenigem Blut.“

Das Erdbeben in Frankreich hat von Anfang an den Charakter eines Weltschauspiels. Die Bühne ist Paris und das Stück ein Nervenkitzel, der auch und gerade in Deutschland elektrisiert. Am liebsten würde man sich an den Ort des Geschehens zaubern, so aber dauert es eine Woche oder länger, bis der neueste Nachrichtenstoff eintrifft. Nicht immer sind die Zeitungsleser gleich im Bilde. Die Zeitung steckt noch in den Kinderschuhen; Schlagzeilen, die das Wichtigste hervorheben, sind unbekannt. Mitunter enthält eine Ausgabe zum selben Thema mehrere Artikel, die aber nicht dieselbe Aktualität haben. Das ist verwirrend, denn die Handlung auf der Bühne rast. Im Stakkato wechseln die grellsten Bilder, Unerhörtes wird am Stück geboten. Die Revolution scheint keinen Stillstand zu kennen. Sie zerstört und ordnet, zerstört wieder, schafft neu und versetzt die Zuschauer in einen Rauschzustand.

Nirgendwo in Europa sei die Anteilnahme am Revolutionsgeschehen „so lebhaft, so warm und so allgemein“ wie in Deutschland, findet der in Weimar lebende Christoph Martin Wieland.43 Wir werden dem scharfsinnigen Chronisten noch häufiger begegnen, tun allerdings gut daran, genau hinzuhören, wenn er von „allgemein“ spricht. Die Allgemeinheit ist für Wieland die Gemeinschaft der Gebildeten. Wenn es um Weltgegebenheiten geht, zählen Bauern, Tagelöhner oder Handwerker nicht. Sie sind Kinder, die erst durch Bildungsvermittlung erwachsen gemacht werden müssen. In diesem Punkt sind sich die Lumières, die Aufklärer und die Aufgeklärten, einig. Sie wünschen keine aktive politische Beteiligung des Volkes, allein der Gedanke daran bereitet ihnen Schrecken. Denn wenn die, denen ein Stück Speck in der Suppe mehr wert ist als die geheiligte Freiheit, das Heft in die Hand nehmen, droht Anarchie.

Zugegeben, auch für den Historiker stellt „das Volk“ ein Problem dar. Wie denken „die Deutschen“ oder „die Franzosen“ über die Revolution? Die kleinen Leute sind stumm, sie hinterlassen kaum schriftliche Spuren, und es wäre anmaßend, über ihre Ansichten mehr als Vermutungen anzustellen. Ausdrucksfähig ist nur das Bürgertum, genauer gesagt, das Bildungsbürgertum. Es hält sich für die Schicht im Kommen und drängt nach politischer Teilhabe. In der Gesellschaft gibt es schon den Ton an. Bürger sind Buchverleger, Drucker und Zeitungsredakteure. Sie beherrschen das meinungsbildende Zeitschriftenwesen. Sie sind Universitätsprofessoren und Entdecker. Sie lesen dieselben Schriftsteller und huldigen derselben Leidenschaft – sie schreiben Briefe ohne Ende, tauschen Standpunkte aus und beichten ihre Gefühle. Die Schicht, die sie bilden, ist überschaubar, aber bestens vernetzt. Philosophieren ist ihre Passion. Ihre Wegweiser in der Lehre vom Staat sind die Franzosen Montesquieu oder Rousseau und neuerdings der Königsberger Immanuel Kant. Ihr Label ist die Aufgeklärtheit, das heißt, sie glauben, dass die Vernunft, ist sie erst Leitschnur der Staatskunst, das Menschengeschlecht ganz von selbst in eine strahlende Zukunft führen werde. Von den revolutionären Losungen schätzt man die égalité, weil sie verspricht, endlich auf gleicher Stufe mit dem beneideten Adel zu stehen. Noch wichtiger ist den Bürgern die liberté, womit sie die Freiheit des Räsonierens und nicht zuletzt des Eigentums meinen. Was den Gottglauben angeht, gehört die Verachtung des „Papismus“ zum guten Ton. Der Zeitgeist präferiert individuelle metaphysische Zugänge. Hoch im Kurs stehen Freimaurer und Illuminaten, wie überhaupt geheime Zirkel und Bruderschaften großen Reiz ausüben.

In Frankreich hat sich das Bürgertum, der Dritte Stand, zur politischen Nation erklärt und damit die Revolution eingeläutet. Im staatlich zerklüfteten Deutschland beansprucht das Bürgertum, wenigstens die geistige Nation zu sein. Aus derselben philosophischen Quelle schöpfend wie die französischen Protagonisten, fühlt man sich gleichsam als Miturheber der Revolution. Es ist vor allem der gelehrte Nachwuchs, der am Umsturz der Verhältnisse im Nachbarland „lebhaft und warm“ Anteil nimmt. Der junge Georg Wilhelm Friedrich Hegel überschlägt sich vor Begeisterung: „So lange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut.“44 Hegel ist Student am Tübinger Stift, wo eigentlich Theologie gelehrt wird. Aber die Theologie hat gegen den angesagten Vernunftglauben einen schweren Stand. Die neue Welt entsteht nach dem Bauplan der Philosophie. Davon sind Hegel und seinesgleichen überzeugt. Welch ein Triumph des schöpferischen Menschen! Am Stift sorgen Hegel und seine Studenten-Freunde Friedrich Hölderlin und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling für einen Skandal. Sie tanzen um einen Freiheitsbaum und singen revolutionäre Lieder. Freiheitsbäume, die mit allerlei symbolischem Lametta behängt werden, sind eine Mode, die von Amerika und jetzt von Frankreich herübergeschwappt ist. Vollkommen harmlos sind die Freudentänze nicht: Am ersten Freiheitsbaum, einer Ulme in Boston, um die sich Siedler 1765 aus Protest gegen die von der britischen Kolonialmacht verhängte Stempelsteuer versammelten, baumelten zwei Strohpuppen.

Die Angst vor der Anarchie ist bei den deutschen Bürgern, die jetzt ihr Fernrohr auf Frankreich richten, von Anfang an vorhanden. Man klopft auf Holz wie der eingangs zitierte Augsburger Zeitungskorrespondent, der den Umstürzlern bescheinigt, „mit wenigem Blut“ ausgekommen zu sein. Aber ist die Messe schon gelesen, oder steht das dicke Ende noch bevor? Die Zeichen sind uneindeutig. Gleich am 14. Juli hat man dem Marquis de Launay, Gourverneur der Bastille, den Kopf abgeschlagen und auf eine Pike gespießt – eine unschöne Trophäenschau, die man am liebsten vergessen möchte. Ein paar Tage später massakriert die Volksmenge auf dem Vorplatz des Pariser Rathauses den Intendanten der Hauptstadt, Bertier de Sauvigny, und seinen Schwiegervater Foullon de Doué. Beide sollen mit Getreide spekuliert haben und für den steigenden Brotpreis verantwortlich sein. Dann, am 20. Juli, bricht wie ein Sturm aus heiterem Himmel die Grande Peur aus, die „Große Angst“. Im ganzen Land fallen Bauern plündernd und brandschatzend über Schlösser und Herrensitze her, Zollhäuser werden zerstört, Teiche leer gefischt. Niemand hat die Ausschreitungen angestachelt, keine Hand Regie geführt. Höchstwahrscheinlich wurde die Welle des Vandalismus durch ein plötzlich aufploppendes Gerücht ausgelöst, Räuberbanden im Sold der Aristokraten wollten die Ernte zerstören. Drei Wochen wütet der Bauernaufstand, dann ist die Paranoia verweht. Es bleibt die verstörende Erfahrung, dass das Volk hochgradig anfällig ist für Verschwörungstheorien. Revolutionsführer wie Robespierre oder Danton werden sich das Gelernte beizeiten zunutze machen.

Beruhigend findet das Bürgertum, was sich in der Nacht vom 4. auf den 5. August ereignet. Die Nationalversammlung beschließt die Abschaffung des Feudalsystems. Den Antrag stellt der Vicomte de Noailles, und das ist eine echte Sensation. Denn der Vicomte gehört zum Hochadel. Die Begünstigten der Ungleichheit verlangen die Einführung der Gleichheit! Kann es einen strahlenderen Beweis dafür geben, dass die Veredelung des Menschen der gewaltsamen Nachhilfe nicht bedarf, sondern durch Einsicht möglich ist? Denen, die die Revolution mit Sympathie, aber auch mit Bangigkeit verfolgen, geht das Herz auf. Wieland staunt. Den flatterhaften Franzosen hätte er am Letzten zugetraut, die Freiheit zu erobern und sie mit so viel Weisheit zu gebrauchen. „Dies hat die Welt noch nie gesehen, und der Ruhm, ein solches Beispiel zu geben, scheint der französischen Nation aufbehalten zu sein.“45

Angesichts der mustergültigen Aufführung werden die gewohnten Franzosen-Klischees von Leichtsinn und Sittenlosigkeit eilig ausrangiert, als hätte es sie nie gegeben. Der Oldenburger Jurist und Dichter Gerhard Anton von Halem, der 1790 Frankreich bereist, schwelgt in den höchsten Tönen: „Was ist doch alles, so die Völkergeschichte bisher uns zeigte in Vergleichung mit dem Schauspiele, das uns jetzt Gallien gibt? Hundert Schlachten und Siege und Bündnisse änderten für’s Menschengeschlecht nichts; denn was interessiert es die Menschheit, ob ein Stück Landes unter den Auspizien des einköpfigen oder zweiköpfigen Adlers seine Abgaben zahlt? … Wie viel interessanter für den Freund der Menschheit ist denn nicht der Anblick eines Volks, das durch Gesetzgebung sein inneres Wohlsein zu vermehren sucht!“46 Der Schwabe Karl Friedrich Reinhard erlebt den Ausbruch der Revolution in Bordeaux. Im Schwäbischen Archiv fordert er seine Landsleute in der Heimat auf, alle Ansichten über Frankreich schleunigst zu revidieren. „Wenn ehmals die Welt jene französische Anmassung lächerlich fand, die Erste Nation der Welt zu seyn, so wird nun allgemeines Zujauchzen diesem edlen Volke die Palme weih’n, die es aus bescheidnem Selbstgefühl verweigern wird. England selbst wird sich mit der Ehre begnügen, ein Jahrhundert gesezmäßiger Freiheit in seinen Annalen voraus zu haben, und wird ohne Eifersucht seine Nebenbuhlerin betrachten, wie sie zu gleicher Zeit sein Beispiel befolgt und übertroffen hat. Und unsre Deutschen Dichter werden nicht mehr singen: ‚Wer des Rheines Gabe hasset, trinkʼ als Knecht am Marne Strand.‘“47

Statt wie gewohnt über die bedenkliche Moralität der Franzosen die Nase zu rümpfen, verneigt man sich nun vor der Kraft und der Kreativität, mit der die Nachbarn zur Sache gehen. Friedrich Gottlieb Klopstock attestiert ihnen eine Wiedergeburt auf höherer Stufe: „Frankreich schuf sich frei.“48 Der sehr viel jüngere Dichter-Kollege Ludwig Tieck ist plötzlich ganz unglücklich, als Deutscher geboren zu sein: „Oh, wenn ich itzt ein Franzose wäre!“49 Auch der Publizist Christian Friedrich Daniel Schubart leidet unter seinem Deutschsein. Wegen angeblich aufrührerischer Schriften hat er gerade eine zehnjährige Kerkerstrafe auf dem Hohenasperg hinter sich und ist auf seine Landsleute nicht gut zu sprechen. „Mein Gott, was für eine armselige Figur machen krumme und gedrückte Deutsche – jetzt gegen die Franzosen.“50 Ein Preislied, gesungen in Hamburg zum ersten Jahrestag des Bastille-Sturms, erhebt das früher oft geschmähte Frankreich zum Vorbild des Menschengeschlechts (an dem Fest nimmt der alte Klopstock als Ehrengast teil):

Freye Deutsche, singt die Stunde

Die der Knechtschaft Kette brach

Schwöret treu dem großen Bunde

Unsrer Schwester Frankreich nach

Chor: Laßt uns großer That uns freuen

Frey!Frey!Frey! und reinen Herzens sein.51

Ex occidente lux. Im hellen Licht des Anfangs gibt die Revolution eine makellose Figur ab. Ihr Führungspersonal denkt man sich so wie Jacques-Louis David 1784 die eidablegenden Horatier gemalt hat, mannhaft und prinzipienfest. Paris ist die Hauptstadt der Welt. Ein Revolutionstourismus setzt ein. Man möchte die Helden aus der Nähe sehen. Wie die biblischen Magier strömen Neugierige ins Land der Verheißung, Engländer, Amerikaner und vor allem Deutsche. Zu den ersten Schlachtenbummlern gehört Joachim Heinrich Campe. Wer den Prototyp des aufgeklärten Bildungsbürgers sucht, findet ihn in dem 1746 bei Holzminden als Sohn eines Kaufmanns geborenen Schriftsteller und Pädagogen. Campe studiert zunächst evangelische Theologie. Seinen Eigensinn und die Entschlossenheit, nicht mehr zu scheinen als zu sein, hat er vom Vater geerbt, der sein Adelsprädikat ablegte, weil ihm der Dünkel der Standesgenossen gegen den Strich ging. Eine Weile verdient Campe als Feldprediger sein Brot, doch die Kanzel ist ihm auf die Dauer ein zu enges Gehäuse. Neugier treibt ihn in Freimaurerlogen. Freigeist ist Zeitgeist für eine Generation, die allen Glauben in die Kraft des Verstandes setzt. Bald wirft sich Campe auf die neue Wissenschaft der Pädagogik, die die Lumières für den Schlüssel zur Hebung der Gattung halten. Alles, was er anfängt, ist von der Absicht getragen, zu wirken. Er arbeitet als Hauslehrer; seine prominentesten Zöglinge sind die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt. Er gründet eine Erziehungsanstalt, schreibt Jugendbücher und gründet einen Verlag. Mit führenden Aufklärern wie Friedrich Gottlieb Klopstock und Gotthold Ephraim Lessing steht er in engem Austausch. Als die Revolution ausbricht, hält Campe nichts mehr in der Heimat. Er will rechtzeitig in Paris sein, „um dem Leichenbegräbnis des französischen Despotismus beizuwohnen“,52 und macht sich mit zwei Begleitern, wovon einer der junge Wilhelm von Humboldt ist, kurz entschlossen auf den Weg. Am 3. August erreicht er sein Ziel.

„Ob es wirklich wahr ist, mein lieber T*, daß ich in Paris bin?“, schreibt Campe am Tag nach der Ankunft. „Daß die neuen Griechen und Römer, die ich hier und neben mir zu sehen glaube, wirklich vor einer Wochen noch – Franzosen waren? Daß die großen, wunderbaren Schauspiele, die in diesen Tagen hier aufgeführt worden sind und noch täglich aufgeführt werden, keine Geschöpfe meiner Phantasie, kein Traum, sondern Thatsachen sind.“53 Der Tourist aus Deutschland glaubt sich im Wunderland. Das Gefühl der Brüderlichkeit wärmt seine Seele. Er ist Gleicher unter Gleichen. „Alle Nationalunterschiede, alle Nationalvorurtheile schwanden dahin“, versichert er seinem fiktiven Briefpartner.54 Im Hôtel de Moscovie in der Rue des petits Augustins, wo er sich einquartiert hat, verbringt er nur die notwendigsten Erholungsstunden. Das „Rauschen des Menschenstroms“ dringt durch sein Fenster, es zieht ihn immerfort in das Gewimmel der Straßen. Die „neuen Griechen und Römer“ verursachen beträchtlichen Lärm. Kolporteure schreien die neuesten Nachrichten heraus. Überall wird eifrig diskutiert. Campe ist unentwegt auf den Beinen, keine Sekunde möchte er versäumen. Einer der ersten Erkundungsgänge führt ihn zur Bastille, der zum Monument der Befreiung gewordenen Zwingburg des erledigten Systems. Er durchstreift den „menschlichen Ocean“ des Palais Royal mit seinen Lustdirnen und Volksrednern. Dort frequentiert er ein Café, in dem es deutsche Zeitungen zu lesen gibt. Er besucht die Nationalbibliothek und das Zentralmuseum und ist von der Demokratisierung der Kunst angetan. „Daß man all diese Schätze, so oft man will, ganz unentgeltlich genießen kann“, ist ihm ein weiterer Beweis für die Wohltaten des Umbruchs. Ehrfurchtsvoll wallt er nach Ermenonville zum Grab Rousseaus. Von Mirabeau lässt er sich in die Nationalversammlung nach Versailles einladen. Der rednerische Tumult, den er dort erlebt, verwirrt ihn. Besser gefallen ihm die neuen Bürger-Soldaten, noch besser die Trödelweiber, die Blumensträußchen auf Flintenläufe stecken.

Campe singt das Lied vom friedvollen Modus der Revolution. Dass es hier und da zu Übergriffen gekommen ist, verschweigt er in seinen Berichten nicht, rechtfertigt sie aber als Antwort auf größere Grausamkeiten der Vergangenheit. Und wirklich bewegt sich die Revolution ja noch in ihrer Unschuldsphase. Von organisiertem Terror kann keine Rede sein; kein Gedanke, dass schon bald die Guillotine, das „nationale Rasiermesser“, der „beleidigten Volkssouveränität“ Genugtuung verschaffen wird. Für diesen Zweck genügt einstweilen eine Straßenlaterne an der Place de Grève, dem Rathausvorplatz. Campes Schilderung ist frei von Mitgefühl für die Gehenkten: „Die berüchtigte Laterne, welche in diesen Tagen in allen Zeitungen durch ganz Europa genannt ward, ist nichts anders, als eine, in Form eines Kniegalgens an einem Eckhause dieses Platzes – worin Schokolade verkauft wird – befestigte eiserne Stange, an welcher ein Lichtscheinwerfer (eine Reverbere) hängt.“55 Tyrannei ist ein Wort, das für die finstere, alte Zeit reserviert ist. Campe beschreibt eine Messe in der Kirche Saint-Roch, die eines nicht näher bezeichneten Opfers dieser Tyrannei gedenkt. „Es waren Aristokraten, die den Sohn Gottes gekreuzigt haben“, erklärt der Priester auf der Kanzel.56 Für diese Neudeutung des Karfreitagsgeschehens erhält der Geistliche das Lob des deutschen Zuhörers.

Die Relativierung von Gewalt läuft durch alle Berichte der frühen deutschen Revolutionstouristen wie ein roter Faden. Ein anderer Refrain ist das Staunen über die Art und Weise, in welcher sich die französischen Nachbarn insgesamt präsentieren. Campe: „Waren die pfeifenden, trillernden, hüpfenden und schnatternden Gecken, waren die luftigen, windigen, aufgeblasenen und hirnlosen Prahlhänse, die wir wol ehemals über den Rhein kommen, und mitten in Deutschland über alles, was deutsch war, die Nase rümpfen sahen“, nur Ausnahmen? Das will Campe nicht gelten lassen. Es gab sie wirklich, die windigen Franzosen, aber das war einmal. Inzwischen habe der Triumph der Freiheit beim Nachbarvolk eine „Umschmelzung und Läuterung seines Nationalcharacters“ bewirkt, urteilt Campe.57 Bei einem Pädagogen, der um das Schneckentempo der Bildungsarbeit weiß, muss dieser Optimismus verwundern.

Noch keinen Monat ist Campe in Frankreich, da tritt er schon die Rückreise an. Er ist begierig darauf, das Erlebte der Heimat mitzuteilen. Bereits im Oktober erscheinen seine Briefe aus Paris im Braunschweigischen Journal, ein paar Monate später in Buchform. Campe schreibt zupackend und anschaulich. Auch deshalb sind seine Briefe mitprägend für das Bild, das sich die Deutschen von den Anfängen der Revolution machen.

Einer, der sich von Campes Berichten anstecken lässt, ist Johann Wilhelm Archenholz (1745–1812). Hinter dem aus hannoverschem Adel stammenden Publizisten liegt eine bewegte Vergangenheit. Als preußischer Offizier hat er unter Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg gedient, ohne sich besonders hervorzutun.58 Nach dem Hubertusburger Frieden erhält er im Range eines Hauptmanns einen ehrenvollen Abschied, womit er Glück hat, denn Archenholzʼ Spielleidenschaft ist notorisch und sein Ruf nicht der beste. Es folgt ein unsteter Lebensabschnitt. Der ehemalige Offizier reist viel. In Rom stürzt er vom Pferd und wird zum Invaliden. Er beginnt eine zweite Karriere als Historiker, schreibt über den Siebenjährigen Krieg, Gustav Vasa und die Verschwörung des Fiesco. Sechs Jahre hält er sich in England auf. Der Ertrag sind seine Annalen der britischen Geschichte, ein ausuferndes Werk von zwanzig Bänden. Archenholz ist Anhänger der britishness. Er preist die (ungeschriebene) englische Verfassung, als deren freiheitssichernde Grundlage er die Gewaltenteilung erkennt. Nun aber entzündet ihn Frankreich. Er wolle die „politischen Wunder in der Nähe anschauen“,59 schreibt er Campe und begibt sich im Sommer 1791 auf den Weg. Die Familie nimmt er gleich mit. Er denkt an einen Daueraufenthalt in Paris und macht sich über den Lebensunterhalt keine Sorgen. Dort, wo das Herz der Welt schlage, werde dem historischen Schriftsteller der Stoff wohl nicht ausgehen.

Politisch ist Archenholz eindeutig positioniert. Euphorisch nennt er die Bastille-Eroberung „den ewig denkwürdigen Tumult, wo Freiheit die Volkslosung war, da dieses Götterwort in die Bastillezellen drang“.60 Auf der Anreise im September 1791 erlebt er, wie die Straßburger die Annahme der Konstitution feiern, und ist entzückt. „Am Abend sah man die Stadt erleuchtet, wobey auf Kosten der Stadt Volksbälle gegeben wurden. Eine dieser Tanzörter war der prachtvoll illuminierte Pallast des entwichenen Cardinals von Rohan; man tanzte in den großen Sälen, so wie auch auf der vor dem Palast befindlichen Terrasse unter freyem Himmel, und zwar sahe man hier den Pöbel mit feinen Leuten vermischt. Ueberhaupt wurde das Fest zwar nicht mit dem lange genährten brittischen Freyheitsgefühl, aber doch mit einer Herzlichkeit begangen, die über die Stimmung des hiesigen Volks keinen Zweifel übrig ließ.“61 Viel Gelegenheit zum Feiern bleibt den Straßburgern übrigens nicht. Schon bald wird der Terror in die Stadt einziehen und ein Mann den Ton angeben, dem ein Menschenleben nichts gilt: Eulogius Schneider, ein deutscher Ex-Mönch.

Als Archenholz in Paris eintrifft, hat die Revolution viel erreicht, aber auch ihre beste Zeit hinter sich. Die Verfassung ist verabschiedet, Frankreich, seit Ludwig XIV. Hort und Muster unumschränkter Königsgewalt, ist jetzt konstitutionelle Monarchie. Die Nationalversammlung hat sich verabschiedet, ein fataler Fehler. Denn der nachfolgenden Assemblée Législative fehlen die großen Namen der ersten Stunde, weil törichterweise die Mitglieder der alten Versammlung von den Neuwahlen ausgeschlossen waren. Die Debatten in der Manège, der ehemaligen königlichen Reithalle und aktuellem Parlamentssitz, haben jetzt ein beklagenswertes Niveau. Archenholzʼ Berichte zeigen erste Spuren der Ernüchterung. Nicht, dass der deutsche Beobachter von den revolutionären Ursprungsideen Abstand nähme; was ihm dämmert, ist die Gefahr der Selbstzerstörung, die der Revolution bei zunehmender Beschleunigung droht. Er nimmt die einflussreiche Fraktion der Jakobiner unter die Lupe und ist schockiert. Um eine „scheußliche Societät“ handele es sich, liest man in der Zeitschrift Minerva, die er inzwischen gegründet hat.62 Besonders unangenehm fällt ihm der Abgeordnete Maximilien Robespierre auf, der mit „Freiheitsfloskeln und Schimpfreden“ den Pöbel aufhetze. Archenholzʼ Freimut eckt bei den Unduldsamen an, die unter dem neuen Grundrecht der Meinungsfreiheit nur die Freiheit verstehen, die jakobinischen Parolen nachzubeten. Es ist der deutschstämmige Abgeordnete Anacharsis Cloots, ein Radikaler, der anklagend auf den Landsmann zeigt. Archenholz fühlt sein Leben bedroht. Im Juni 1792 verlässt er Paris Hals über Kopf. Seine Prognose für das Land der Revolution ist mit Skepsis getränkt: „Über die bevorstehenden nahen Schicksale dieses Reichs liegt ein Schleier.“63

Wie alle, die als Schlachtenbummler an den Spielort der Revolution geströmt sind, fordert die Begegnung mit dem vor Selbstbewusstsein strotzenden Nachbarvolk auch Archenholz zum Vergleich mit der Heimat heraus. „Wie äußerst gering ist die Zahl der deutschen Fürsten, die auf den deutschen Namen stolz sind“, bemerkt er.64 Mag sein, dass er dabei an Friedrich II. von Preußen denkt, dem tatsächlich das Nationale so fern gewesen war wie den vielen Klein- und Kleinstsouveränen, die Deutschland parzellieren. Sie alle waren und sind nur auf das Wohlergehen ihrer Dynastien bedacht und betrachten schon den Gedanken an einen Gesamtstaat als Aufruhr. Dabei müssten sich die Deutschen nicht hinter dem der Franzosen verstecken. Nähme man einen „gerechten Nationalstolz“ an, ermutigt er seine Leser, „gestützt auf unsere Erfolge in der Literatur, Kunst und Technik“, würden die anderen die Deutschen schon achten.65

Eine Anlaufstelle haben die transrhenanischen Revolutionstouristen im „Deutschen Klub“ von Paris. Gegründet hat ihn der Maler Füssli 1790, ein Schweizer. Das Klublokal besteht aus ein paar Zimmern im Hôtel de la Marine. Hier, in der Rue des petits champs, kann man Landsleute treffen, Zeitungen aus der Heimat lesen, Kontakte knüpfen und notfalls etwas zum Beißen finden. Die meisten Paris-Pilgrime sind knapp bei Kasse. Etwa dreißig Mitglieder hat der Klub, sie zahlen erschwingliche sechs Francs Gebühr pro Monat.66 Auch Archenholz gehört dem Klub an. Im Hôtel de la Marine lernt er u. a. Karl Friedrich Reinhard und Konrad Engelbert Oelsner kennen, Gerhard Anton von Halem, Georg Kerner und Justus Bollmann. Mittelpunkt der Vereinigung ist Gustav Graf Schlabrendorf.

Der in Schlesien groß gewordene Schlabrendorf (1750–1824) ist ein Unikum. Er logiert im Hôtel des deux Siciles, einem heruntergekommenen Mietshaus in der Rue de Richelieu. Sein eineinhalb Zimmer kleines Appartement, das immer unverschlossen ist, quillt über von Büchern und Zetteln. Sie liegen verstreut auf dem Boden herum, auf altersschwachen Möbeln und einem wurmstichigen Schreibtisch, hinter dem Schlabrendorf die meiste Zeit verbringt und seine Gäste empfängt. Sein Äußeres ist bizarr. Er ist angetan mit einem abgetragenen schwarzen Kittel, der Bart fließt über die offene Brust bis zum Gürtel.

Wer Schlabrendorf gegenübertritt, denkt an alles Mögliche, nur nicht an einen Grafen. Das hat seine Vorteile, denn den ci-devants, wie man ehemalige Aristokraten nennt, sitzt der Kopf inzwischen sehr locker auf dem Hals. Allerdings würde man Schlabrendorf Unrecht tun, hielte man ihn für einen Opportunisten. Er behält sein sansculottisches Outfit auch dann noch bei, als die „Hosenlosen“ selbst zu „Weilanden“ (die wunderbare Übersetzung von ci-devants stammt von Campe) geworden sind und die Noblesse durch die Hintertür wieder in ihre alten Stadtpaläste eingezogen ist.

Schlabrendorf kommt bereits im Mai 1789 nach Paris, als hätte er den bevorstehenden Vulkanausbruch gerochen. Er ist somit Platzhirsch für die, die nach ihm kommen. Freiheit ist ihm ein geheiligtes Wort. Was wird aus Frankreich werden? „Wir werden ein Land sehen“, erklärt er dem fragenden Wilhelm von Humboldt, „worin die Rechte, die Gedanken, die Person jedes einzelnen unverletzlich und geschützt sind; in dem die Äußerung der Gedanken durch Worte, Schriften und Taten völlig frei und keinem Spruch unterworfen werden, keine Unterdrückung mehr stattfinden kann, da alle Bürger zu jedem Amte durch Verdienst fähig sind und sich nur durch Tugend und Kenntnisse einen Vorteil verschaffen können“.67 Schlabrendorf bleibt bis zu seinem Tod 1824 in Paris. Wer besuchte ihn nicht alles in der Rue des Deux-Siciles: Heinrich von Kleist, Achim von Arnim, Ludwig Uhland, Zacharias Werner, Karl August Varnhagen von Ense, Joseph von Eichendorff, Hermann Graf von Pückler und viele andere. 1814, als die Spitzen der europäischen Anti-Napoleon-Koalition in Paris einrücken, suchen ihn der preußische Staatskanzler Karl August von Hardenberg und Blüchers Stabschef August Neidhard von Gneisenau in seiner Einsiedlerklause auf. Schlabrendorf ist versponnen und rätselhaft und gerade deshalb eine Zelebrität. Unentwegt sitzt der „Diogenes von Paris“, wie er sich selbst nennt, hinter seinem Schreibtisch, nur wollen seine Gedanken und Beobachtungen nicht aufs Papier. Einzig ein ziemlich vernichtendes Napoleon-Porträt ist von ihm überliefert (1803). In dem fragmentarisch erhaltenen Buch prangert er den Korsen als kruden Autokraten an. Für das Reformwerk des Konsuls Bonaparte ist er blind. Der kauzige Mann bleibt ein Theoretiker. Seine Sphäre ist entschieden das „Luftreich der Träume“, jenes Reich, in dem nach Heinrich Heine die Deutschen konkurrenzlos sind. Die deutsche Kolonie hat in Schlabrendorf einen verlässlichen Anker. Finanziell ist er dank einer beträchtlichen Erbschaft unabhängig. Das können nicht viele von sich sagen. Schlabrendorf gibt gern. Einer, der von seiner Großzügigkeit profitiert, ist Konrad Engelbert Oelsner.

Oelsner (1764–1828) trifft am 5. Juli 1790 in Paris ein. Der abgebrochene Jura-Student ist fest entschlossen, nunmehr die Revolution zu studieren.68 Seine Beobachtungen erscheinen 1792 und 1793 in der Minerva. Seinen eigenen Standpunkt verbirgt Oelsner, der ein ebenso guter Reporter wie Analytiker ist, nicht: „Ich liebe die Freiheit, weil ich das Vergnügen liebe. Niemand wird dem anderen mehr von Geburts wegen auf den Nacken treten, alle werden aufrecht gehen, keiner mehr gezwungen kriechen.“69

Auf die Verfassung kommt es an. Sie muss Rechtsgleichheit garantieren, die Erziehung zur Sache des Staates machen und den Bürgern die Gesetzgebung übertragen. Die Bürger, das sind die Wohlhabenden; Oelsner geht wie selbstverständlich vom Zensuswahlrecht aus. Der König kann bleiben, solange er sich an die Verfassung hält. Diese Eckpunkte würden wohl die meisten Mitglieder des Deutschen Klubs von Paris unterschreiben. Sie sind Konstitutionalisten, und Mirabeau ist ihre Leitfigur. Aus ihrer Sicht könnte nach der Verabschiedung der Verfassung im Spätsommer 1791 der Vorhang des Revolutionstheaters fallen, aber es kommt anders. Mirabeau stirbt – eines natürlichen Todes, was nur wenigen Revolutionsführern beschieden ist –, der König kompromittiert sich, und es beginnt Teil zwei der Umwälzung.

Oelsner bemerkt die schleichende Radikalisierung schon beim ersten Jahrestag des Föderationsfestes am 14. Juli 1791. Die Premiere im Vorjahr war eine imposante Manifestation des nationalen Gemeinwillens: 300 000 Menschen auf dem Marsfeld; Talleyrand, der unfromme, hinkende Ex-Bischof von Autun, der Zelebrant am „Altar des Vaterlandes“, Lafayette, der Eidnehmer der „Föderierten“, auf einem Schimmel sitzend. Damals konnte selbst der strömende Regen die patriotische Ergriffenheit nicht beeinträchtigen. „Wie vermag ich all jene freudigen Gesichter zu beschreiben, die vor Stolz leuchteten“, hatte Campe seinerzeit festgehalten. „Ich wünschte, den ersten Menschen, dem ich begegnete in die Arme zu schließen … Alle nationalen Unterschiede waren verschwunden, alle Vorurteile entflohen.“70 Jetzt hat die Freiheit ein sorgenzerfurchtes Gesicht. Oelsner vergleicht: „Damals war die Gesichtsfarbe der Freiheit lachend und rosenfarb, Zutrauen und Liebe, die Herzogin mit der Näherin umschlangen sich und tanzten Hand in Hand, von den Pyrenäen zu den Alpen, von dem mittelländischen Meere bis zum Ozean. Nie, so weit der Erdball, und so lange ihn die Sonne erleuchtet, hat eine große Nation so reich und allgemein, das Bild brüderlicher Saturnalien geliefert. Jetzt fingen Schatten an sich ins Gemälde zu werfen. Die Physiognomien waren brütender, und die Aussicht mit einigen Ungewißheiten verschattet.“71

Verschattet ist vor allem die Zukunft des Königs. Längst ist Ludwig XVI. nicht mehr Herr im Hause. Am 20. Juni versucht er, zusammen mit seiner Familie nach Belgien zu entkommen. Die dilettantisch durchgeführte Flucht endet kläglich im Dörfchen Varennes in den Argonnen. Ein Postbeamter entlarvt die verkleideten Majestäten. Unter Bewachung wird der Monarch nach Paris zwangsretourniert. Was wird mit ihm geschehen? Rechtlich mag er (noch) unantastbar sein, aber politisch steht seit Varennes die Monarchie zur Abschaffung an. Oelsner erkennt das genau: „Die Flucht des Königs hat seinen Kredit zu Grunde gerichtet … Sein Meineid macht ihn unfähig ferner zu regieren; das ist die herrschende Meinung der Hauptstadt und der Provinzen.“72

Stärker als das Schicksal Ludwigs XVI. beschäftigt Oelsner die Beobachtung, dass in Paris Kräfte an Boden gewinnen, die immer weniger zimperlich in der Wahl der Mittel sind. Aus Deutschland ist Oelsner nur mit Kleinstadtmilieus vertraut. Er braucht eine Weile, um zu entdecken, wie unberechenbar die Massen einer Metropole sind. Ist das Volk am Ende doch nicht von Natur aus gut und unfehlbar, wie Rousseau gepredigt hat? Der „große Haufen“ ist unberechenbar und gewalttätig, wenn er nur entsprechend manipuliert wird. Genau das geschieht. Ein Brandstifter par excellence ist Jean Paul Marat. Von Haus aus Arzt, gibt Marat die Zeitung Ami du peuple heraus, die fast täglich nach weiteren Hinrichtungen schreit. Der Volksfreund zieht keineswegs nur gegen Priester oder Aristokraten vom Leder, also die üblichen Verdächtigen, sondern zunehmend auch gegen die Volksvertretung. Nicht weniger hetzerisch als Marats „berüchtigtes Mordblatt“ (Oelsner) ist Jacques-René Héberts Le Père Duchesne aufgestellt. Die Agitation dieser Blätter trägt dazu bei, dass der Assemblée in Gestalt der Pariser Stadtverwaltung und ihrer Sektionen eine gefährliche Machtkonkurrenz erwächst. Für Robespierre hat Oelsner so wenig Sympathie übrig wie Archenholz. Der künftige Tugenddiktator spielt mit den Volksmassen Pingpong, ohne dass der „große Haufen“ es merkt. Oelsner: „Robespierre’s peuple ist Pöbel. Er will das Gesetz nicht nur für Schuhputzer, sondern von Schuhputzern gegeben wissen, um an ihrer Stelle zu herrschen.“73

Das Drehmoment der Revolution wird immer höher. Seit April 1792 herrscht Krieg zwischen Frankreich auf der einen, Österreich und Preußen auf der anderen Seite. Die Lunte ist in Paris gelegt worden. Gewiss, auch die beiden Alt-Mächte lassen die Muskeln spielen. Den ungewaschenen Taugenichtsen, die in Frankreich alles durcheinandergebracht haben, wollen sie endlich das Handwerk legen. Das glaubt man in Wien und Berlin dem Prinzip der Legitimität und außerdem dem französischen Königspaar schuldig zu sein, immerhin war die Königin Marie-Antoinette eine habsburgische Prinzessin, ehe sie den saft- und kraftlosen Ludwig XVI. heiratete. Unter dem Strich aber ist die Kriegsbegeisterung bei den Verbündeten ziemlich lau. Ganz anders stehen die Dinge in Paris. König und Regierung, sonst wie Hund und Katze, wollen beide den Krieg, wenn auch aus gegensätzlichen Motiven. Im königlichen Lager kann man sich gar nichts anderes vorstellen als einen schnellen Sieg der Alliierten, der dann dem revolutionären „Spuk“ unfehlbar das Ende bereiten werde. Auch die Regierung – sie wird im Augenblick von den Girondisten gestellt – verspricht sich vom Krieg ein reinigendes Gewitter, dem allerdings der König zum Opfer fallen soll. Nicht zuletzt soll die militärische Kraftanstrengung von den aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten ablenken. Schon im November 1791 hat Brissot, der führende Politiker der Girondisten, erklärt: „Der Krieg ist eine nationale Wohltat; das einzige Unglück wäre, keinen Krieg zu haben.“74 In dieser Partie konträrer Berechnungen ist es wieder einmal Ludwig XVI., der sich verrechnet. Bei Valmy erringen die blau-weiß-roten Armeen einen Achtungserfolg. Fortan plätschert der Krieg nur noch so dahin. Die Regierung nutzt eiskalt die von außen drohende Gefahr, um die Monarchie in Misskredit zu bringen. Gerüchte werden in Umlauf gebracht, die besagen, der Feind sei mitten in Paris, ein „österreichisches Komitee“ arbeite dem Feind in die Hände. Am 10. August bedroht eine aufgebrachte Menschenmenge im Garten der Tuilerien die königliche Familie, die Schweizergarde wird brutal niedergemetzelt, das Schloss geplündert. Oelsner ist Augenzeuge:

„Achtzig Mann, unter denen, wie sich nachher gezeigt, die meisten keine Schweizer waren, hatten nach einem hartnäckigen Kampfe die Waffen niedergeworfen. Vor das Stadthaus geführt, stehen sie der Entscheidung ihres Verhängnisses harrend. Derjenige Teil der Nationalgarde, dessen Äußeres durch Erziehung veredelte Menschlichkeit verspricht, wacht um sie. Schon sind sie der versprochenen Gnade gewiß, ein Kommissar der Munizipalität verkündet den Befehl, sie in die Abtei zu führen. Aber das war es nicht, was die wütende Menge erwartete, was die ergrimmte, blutdürstige Brut des Pöbels wollte. Nein! Nein! Keine Gnade! Brüllt es über den ganzen Grève-Platz; ein Todesurteil! Verräter müssen sterben! Schießt sie nieder, rasen die Weiber, in schäumende Furien verwandelt … Alles wird unbarmherzig niedergemacht. Mein blutendes Herz erlaubt mir nicht, die scheußliche Szene auszumalen. – Das Jauchzen der Weiber bedeckt die Wehklagen der Todesangst; sie schlürfen, die Weiber schlürfen mit brutaler Wollust das Stöhnen der Sterbenden ein, und des Höllenpfuhls Trunkenheit höhnt aus ihrem Munde die letzten Zuckungen der Agonie.“75 Die besondere Brutalität von Frauen während der Revolution ist vielfach bezeugt. Sie fällt auch dem jungen Napoleon Bonaparte auf. „Ich habe gut gekleidete Frauen gesehen, die sich zu unaussprechlichen Unanständigkeiten an den toten Schweizern hergegeben haben.“76 Napoleon beobachtet das Massaker wie Oelsner aus der Nähe. Er wird den Horror vor der Blutgier des entfesselten Mobs nie loswerden.

Es soll noch schlimmer kommen. Am Nachmittag des 2. September wird in Paris die Sturmglocke geläutet. Der hysterisierte Mob knöpft sich die überfüllten Gefängnisse vor. Am Anfang lässt die Wahl der Opfer noch ein gewisses revolutionäres Muster erkennen, das heißt, man erschlägt, ersticht oder erdrosselt zunächst Priester, Nonnen, Mönche und die, die aussehen wie Aristokraten. „Das Wort ‚der Herr mit der zarten Haut‘ war schon ein Todesurteil“, schreibt der Historiker Michelet.77 Die Prinzessin Lamballe, eine Freundin Marie-Antoinettes, wird ermordet, dann ihre Leiche abscheulich verstümmelt. Je länger der apokalyptische Tanz dauert, desto unterschiedsloser wüten die Täter. Sie massakrieren alles, was ihnen in den Weg kommt, Diebe und Dirnen, auch Kinder werden nicht geschont. Die Bilanz des Blutrauschs: 1200 Tote, darunter 115 Priester.

Oelsner lässt sich nicht irreführen. Der Würgeengel ist nicht zufällig über Paris gekommen. Die „Kopfabsäbler“ (Oelsner) sind von ruchlosen Manipulatoren in Stellung gebracht worden, die Angst und Misstrauen des Volkes bis zum Siedepunkt hochgeheizt haben. Aber mit welchem Ziel? Oelsner weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass führende Köpfe der Jakobiner den Mob eigentlich auf die rivalisierenden Girondisten hetzen wollten, ist aber überzeugt, dass „blutige Staatsarglist“ zu den Massakern geführt hat. Das teilt er seinen deutschen Lesern in einem Brief vom 7. September mit.78 Zwölf Tage später, am 19. September, nennt er die Verantwortlichen: „Nein! Eine Nation ist nicht frei, bei der sich nicht Männer gefunden haben, mit dem Tyrannenhasse, Robespierre, Danton und Marat zu ermorden, und in deren Senate diese Bösewichte, diese Bluthunde sitzen dürfen.“79 So schnell findet sich jedoch niemand für den Tyrannenmord, zu dem Oelsner hier aus Verzweiflung über die Selbstbeschmutzung der Revolution aufruft. Und als es so weit kommt, ist es eine Frau, die Ernst macht und Marat ersticht. Zuvor vollendet sich das Schicksal Ludwigs XVI., der nie ein Tyrann war.

Beste Feinde

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