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6 „Die Völker zum Weinen bringen“: Franzosen wüten in der Pfalz

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1688 fallen französische Truppen in die Rheinlande ein. Ludwig XIV. nutzt die Schwäche von Kaiser und Reich, um die Beute, die er zuvor im Elsass gemacht hat, abzusichern und die Ostgrenze Frankreichs an den Rhein vorzuschieben. Der Pfälzische Erbfolgekrieg wird mit großer Rücksichtslosigkeit geführt und gräbt sich tief in das kollektive Gedächtnis ein. Was die Zeitgenossen besonders erschüttert, ist die bewusst betriebene Terrorisierung der Zivilbevölkerung. Zum Mahnmal wird das Heidelberger Schloss, das ohne militärischen Zweck zur Ruine gemacht wird. Der französische Schriftsteller Victor Hugo besucht Heidelberg im Jahr 1840 und ist fassungslos. Er schreibt seinen Lesern daheim: „Sie können sich nicht vorstellen, mit welcher Wut die Franzosen insbesondere das Schloß zwischen 1689 und 1693 verwüstet haben …“34

Als die Not am größten und absehbar ist, dass weder von Kaiser noch Kurfürst Hilfe kommen wird, entsinnen sich die Heidelberger ihrer prominenten Landsfrau Liselotte. Die Prinzessin hat einst im Schloss über dem Neckar das Licht der Welt erblickt; jetzt ist sie Herzogin von Orléans und Schwägerin des französischen Königs. Wer wäre besser geeignet als sie, ihre Stadt vor dem Untergang zu bewahren? Also beschließt die Bürgerschaft, einen der Ihren nach Versailles zu entsenden. Die Wahl fällt auf Johannes Weingard, den Wirt des „König von Portugal“. Der kann Französisch, traut sich etwas und ist somit prädestiniert, der Stimme der Bedrängten Gehör zu verschaffen, mag es auch in der Höhle des Löwen sein. Es dauert etliche Tage, ehe Weingard in Versailles vorgelassen wird, Tage, die er wohl staunend vor den Toren des riesig-einschüchternden Palastes verbringt. Schließlich steht er vor der Herzogin. „Wie stehts in der armen Pfalz?“, empfängt sie Weingard. Dann bricht sie in Tränen aus. Sie weint so sehr, dass „ihme, Weingard“, angst und bange wird, „Madame würde keinen Athem mehr holen können, wobei dieselbe die Hand unter ihre Brust gelegt, sagend, wollte gern mein Blut und mein Leben aufopfern vor die arme Pfalz, wan ich sie damit kunnte glückselig machen“. So erzählt Weingard später im Rapport seiner Mission.35 Es war eine mission impossible für den Wirt des „König von Portugal“ wie für die Herzogin, die keine Gelegenheit erhält, Blut und Leben für die Rettung ihrer Heimatstadt aufzuopfern. Denn zum Zeitpunkt der Begegnung Ende November 1669 ist die Zerstörung Heidelbergs längst beschlossene Sache.

Warum Heidelberg, warum die Pfalz, warum überhaupt dieser Krieg, der doch gar kein Krieg ist, sondern die organisierte Heimsuchung einer Region und ihrer Bevölkerung? Die Zerstörungsaktion hat eine Vorgeschichte und die Vorgeschichte eine Reihe von Ursachen, von denen eine auf Grundgesetzlichkeiten der Politik verweist: Die meisten Untaten geschehen, wenn der Blick des Starken auf einen Schwachen fällt. Machtlosigkeit befördert Machtmissbrauch. Machtlos ist nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges das Reich in der Mitte Europas. Es ist, nach einem Wort des Universalgelehrten Leibniz, zum Kampfplatz herabgesunken, „darauf man um die Meisterschaft von Europa gefochten“. Ludwig XIV. zögert nicht lange, die Chance zu ergreifen. Die Einladung ist zu verlockend. Der Kaiser in Wien hat mit der Abwehr der Türken alle Hände voll zu tun. Hinzu kommt, dass wichtige Reichsfürsten – allen voran Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der Große Kurfürst – ihre Partikularinteressen verfolgen und sich den Teufel um die Reichseinheit scheren. So können die Heerscharen Ludwigs XIV. 1679 ganz entspannt ausschwärmen und Lothringen, die Franche-Comté und das Elsass besetzen (Reunionskrieg). Den Vorwand liefern unklare Rechtsbestimmungen des Friedensvertrags von Münster, die Ludwig zu seinen Gunsten auslegt. Die französische Diplomatie beweist, dass sie ihrer Zeit voraus ist. Sie arbeitet mit semantischen Tricks und stellt das aggressive Vorhaben Ludwigs unter den verharmlosenden Begriff einer „Reunion“ (Wiedervereinigung), die zusammenführen soll, was angeblich schon lange zu Frankreich gehört. Spezialgerichtshöfe, genannt „Reunionskammern“, sprechen Recht, wie man es in Versailles von ihren erwartet. Auf der Grundlage ihrer Urteile werden nicht weniger als sechshundert Orte im Elsass, in Lothringen und der Franche Comté einkassiert. Spektakulärster Akt ist die Einverleibung der freien Reichsstadt Straßburg 1681.

Doch Ludwig gibt sich damit nicht zufrieden. Gewiss, man hat, was man hat. Doch es fehlt dem Raubzug zum vollen Erfolg die endgültige Anerkennung der Beute durch Kaiser und Reich. Inzwischen ist die politische Großwetterlage umgeschlagen. Die Türken sind mit dem letzten Großangriff auf Wien gescheitert und befinden sich auf dem Rückzug. Damit hat der Kaiser Ressourcen frei, die es ihm erlauben, sich auf Frank reich zu konzentrieren. Außerdem ist Wilhelm von Oranien in England gelandet, Ludwigs aktivster Feind trägt jetzt die Krone des Inselreichs. Eine große europäische Koalition gegen Frankreich nimmt Form an. In dieser Situation entscheidet sich Ludwig zu einem Präventivschlag. Er nutzt den Tod des pfälzischen Kurfürsten Karl, um eine Erpressung ins Werk zu setzen. Als Hebel dient ausgerechnet Liselotte. Sie ist die Schwester des ohne Nachkommen abgegangenen Kurfürsten, und weil sie mit Ludwigs Bruder Philipp, dem Herzog von Orléans, verheiratet ist, verlangt der „Sonnenkönig“ für diesen das Herzogtum Simmern. Der Einmarsch in die Rheinlande im September 1688 soll der Forderung Nachdruck verleihen. Erst dann werde er seine Truppen zurückziehen, lässt Ludwig in einem Kriegsmanifest mitteilen, wenn Kaiser und Reich dem Ergebnis der Reunionen zugestimmt hätten.

Vermutlich wäre der Pfälzische Krieg eine historische Randnotiz, hätte Ludwigs Minister Louvois nicht zu Mitteln der Kriegführung gegriffen, die zu dieser Zeit ganz und gar unerhört waren. Um den Krieg zu verkürzen – Kriegführung ist teuer, und die Finanzen des französischen Königs nähern sich dem Bankrott –, wird die Zivilbevölkerung in die Mangel genommen. Man müsse das Volk nur genügend drangsalieren, das werde ihm jeden Gedanken an Widerstand für lange austreiben, meint Louvois. Die Methode tauft er faire crier les peuples. Die Völker sollten zum Weinen gebracht werden.36

Die Kampfhandlungen finden auf der rechten Rheinseite statt, marodierende Truppen stoßen bis nach Baden und Württemberg vor. Es dauert, bis der Kaiser Hilfstruppen schickt. Die Festungsstadt Philippsburg ergibt sich, eine Stadt nach der anderen folgt dem Beispiel. Zuerst konzentrieren sich die Franzosen darauf, Mauern und Schanzen zu schleifen. Aber bei der Politik der „Entfestigung“ (so der Historiker von Raumer) bleibt es nicht. Reihenweise werden Dörfer, die das Unglück haben, einer Stadt benachbart zu sein, in Schutt und Asche gelegt. Bald brennt die ganze Pfalz. Im Januar 1689 erlebt Heidelberg schreckliche Tage. Das Schloss auf der Höhe, Wahrzeichen der Stadt, wird gesprengt. Es folgen die Pfeiler der Neckarbrücke und die Stadtmauern. Trotzdem kommt die Stadt glimpflich davon (erst vier Jahre später wird das Zerstörungswerk vollendet). Umso schlimmer trifft es Handschuhsheim, einen Ort, wohin viele Heidelberger geflohen waren. Das Dorf wird gänzlich niedergebrannt. Der Pfarrer von Handschuhsheim muss 150 Menschen beerdigen. „Nit ist zu beschreiben“, klagt der Geistliche, „wie erbärmlich und erschröckhlich die arme unschuldige Menschen seindt … zerfetzt geweßen, theilns die Hände, Finger, Nasen, Ohrn undt andere Glüder abgeschnitten wahren …“37 Faire les peuples crier: Nächstes Opfer ist Mannheim, damals ein kulturelles Zentrum. Über Speyer und Worms steht der Rote Hahn am 31. Mai. Nüchtern meldet der französische Befehlshaber Vollzug: Oppenheim, Worms et Spire sont entièrement brûlés („Oppenheim, Worms und Speyer sind vollkommen niedergebrannt“).38 In Worms lassen Soldaten ihre Wut am romanischen Dom aus. In Speyer wird die Krypta mit der Grablege der salischen Kaiser verwüstet.

Das Ziel, das hinter den „Reunionen“ und dem darauf folgenden Pfälzischen Krieg steht, ist der Rhein. Ludwig XIV. ist nicht der Erste, der dieses Ziel anstrebt. Bereits Richelieu, der regieführende Minister Ludwigs XIII., strebte nach der „natürlichen Grenze“ im Osten. Das Prägende des Pfälzischen Krieges ist die angewandte Methode. Ludwig XIV. will östlich des Rheins ein Glacis schaffen, in welchem es keine funktionstüchtigen Fortifikationen mehr gibt und wo die Bevölkerung gelernt hat, dass die Begegnung mit Frankreichs Militärmacht tödlich ist. So werde sich der Rhein in Zukunft leicht verteidigen lassen. Jules Louis Bolé de Chamblay, Quartiermeister der Invasionstruppen und einflussreicher Militärberater Ludwigs XIV., befeuert den König und seinen Kriegsminister in dieser Absicht. Im Oktober 1699 schreibt er Louvois: „Zerstören Sie, demolieren Sie und setzen Sie sich dadurch in den Stand, die unbedingten Herrn des Rheins zu sein (,d’être absolument maîtres du Rhin‘), sodass das Land der vier rheinischen Kurfürsten die erste Beute Ihrer Truppen wird, wenn es wieder Krieg gibt.“39

Richelieu hätte diese Vorgehensweise kaum gut gefunden. Der kluge Kardinal war davon überzeugt, dass Frankreichs Rheinpolitik „viel Zeit, große Vorsicht und ein sanftes und verdecktes Verfahren“ brauche.40 Ludwig XIV. und sein Minister Louvois schlagen diesen Rat in den Wind. Das Resultat des Krieges fällt denn auch hinter die Ambitionen des Königs zurück. Im Frieden von Rijswijk (1793) kann Frankreich zwar das Elsass behaupten, muss aber den größeren Teil der „Reunionen“ wieder herausgeben. Schweren Schaden nimmt das Ansehen Frankreichs in Deutschland. „Die erbarmungslose Mordbrennerei“ habe zum ersten Mal in der Geschichte „den deutschen Volkshaß gegen Frankreich“ hervorgerufen, folgert der Historiker Walter Platzhoff.41 In der Pfalz bleibt vor allem der Name Mélac unvergessen. Der General, der sich durch besondere Brutalität hervorgetan hatte, wird zum Synonym für die Exzesse des Krieges. Noch Generationen später nennt man bösartige Hunde nach ihm; auch das Schimpfwort „Lackel“ soll auf den Grafen zurückgehen. Dabei war Mélac nur ein Werkzeug; er tat nichts anderes, als die Politik der Verwüstung, die in Versailles ausgedacht worden war, umzusetzen. Das Rufschädigende dieser Politik wird auch in Frankreich erkannt. „Heute bedeutet ein Franzose und ein Kannibale beinah ein und dasselbe für die Denkweise seiner Nachbarn“, klagt eine zeitgenössische Flugschrift.42

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