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Einleitung

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Mitten im Krieg von 1870/71 schrieben sich der französische Philosoph Ernest Renan und sein deutscher Kollege David Friedrich Strauss Briefe. An einer Stelle der Korrespondenz brach bei Renan die Verzweiflung durch: „Das große Unglück der Welt ist, daß Frankreich Deutschland nicht versteht und Deutschland Frankreich nicht.“1

Andere Zeiten? Gewiss. Seit 1945, seit Ende des zweiten „Dreißigjährigen Krieges“ (de Gaulle), sind Deutsche und Franzosen einander so nahegekommen wie nie zuvor in der Geschichte. Von den Regierungen gefördert, ist ein dichtes Beziehungsgeflecht entstanden. Städtepartnerschaften und Jugendaustausch haben millionenfache Begegnungen herbeigeführt. In Europa bestimmt das „Tandem“ Paris-Berlin den politischen Takt. Vielerorts in der Welt gilt die deutsch-französische Freundschaft als Markenzeichen und als Beweis dafür, dass Fortschritt in den Beziehungen rivalisierender Völker und Staaten möglich ist.

Institutionell verfugt und von breiter Zustimmung getragen, ist die Partnerschaft am Rhein zu einer festen Größe geworden, zu einer Art Besitztitel, der in kaum einer Risikoanalyse auftaucht. Manchmal würde man sich mehr Wachsamkeit wünschen. Nichts auf der Welt ist für immer gesichert. Die Klopfzeichen sind unüberhörbar. Nach dem Abschied von der globalen Bipolarität droht dem alten Kontinent die Randständigkeit. Nationalistisches Ego-Denken greift um sich. Sollte es in Europa übermächtig werden, würde auch die deutsch-französische Freundschaft Schaden nehmen.

Dass Nachbarschaft Freundschaft begründet, ist weder in der Natur noch in den Staatenbeziehungen die Regel. Gute Nachbarschaft will gewollt sein. Sie kommt zustande durch Rücksichtnahme, die die Kenntnis des Anderen und die Respektierung seiner Interessen voraussetzt. Ein weiterer Zugang ist gemeinsam erfahrenes Leid. Wer begriffen hat, dass Feindschaft nur Unheil bringt, wird bereit sein, neue Wege zu gehen.

Deutsche und Franzosen mussten erst durch die Schule jahrhundertelanger Feindschaft gehen, ehe sie sich eines Besseren besannen. Es war nach dem schrecklichsten aller Kriege, dass Freundschaft als Landmarke künftiger nachbarschaftlicher Beziehungen überhaupt gedacht werden konnte. Adenauer und de Gaulle waren realistische Visionäre. Sie betrachteten Deutschland und Frankreich in einem sehr nüchternen Sinn als Schicksalsgemeinschaft. Schuman und Monnet fanden ein geeignetes Mittel, die Transformation von der Erbfeindschaft zur Freundschaft zu organisieren: die Vereinigten Staaten von Europa. Zwei Generationen danach steht fest: Das Experiment ist geglückt. Die Leistung kann nur ermessen, wer auf die Geschichte der Erbfeindschaft zurückschaut. Das ist der Sinn dieses Buches.

Im Mittelalter lebten Deutsche und Franzosen friedvoll nebeneinander. Bloß ein einziges Mal fielen sie übereinander her. In der Schlacht von Bouvines zog Kaiser Otto IV. den Kürzeren gegen König Philipp II. August. Nebenbei bemerkt bezeichneten die Beifügungen „deutsch“ und „französisch“ damals nicht Völker, sondern Himmelsrichtungen. Die Deutschen waren die Ostfranken, die Franzosen die Westfranken, Zweige eines Baumes. Dass Bouvines die kriegerische Ausnahme war, kam so, weil die Interessen beider aus dem karolingischen Imperium hervorgegangenen Reiche früh auseinanderliefen und sich ihre Wege deshalb nicht kreuzten. Die deutschen Kaiser nutzten ihre Kräfte in einer Vielzahl von Italienzügen ab. Die Hauptbeschäftigung der französischen Könige bestand in der Abwehr ihrer mächtigsten Vasallen, der Engländer.

Das Wort „Erbfeind“ tauchte zuerst unter Kaiser Maximilian I. auf. Mal wurde das Etikett den Franzosen aufgeklebt, mal den Türken, dem „Erbfeind der Christenheit“. In der Zeit Maximilians entbrannte der Zweikampf Habsburg gegen Valois, eine dynastische Rivalität, die Europa über lange Zeit in Atem hielt. Auch jetzt zählten nationale Scheidungen noch wenig. 1519 hätten die deutschen Kurfürsten Franz I. von Frankreich bedenkenlos zum Kaiser gewählt, wären die Bestechungsgelder Jakob Fuggers nicht so reichlich für den Enkel Maximilians geflossen, der als Karl V. den Thron bestieg.

In der Neuzeit zählten die „Häuser“, nicht die Völker. Ein zusätzliches Loyalitätsmuster entstand durch die Glaubensspaltung. Man war einer konfessionellen Gruppe zugehörig und bestimmte den eigenen Platz in scharfer Abgrenzung zur Gruppe der Anderen. Die Anderen, das waren aus reformatorischer Sicht die „Welschen“, Angehörige des romanischen Sprachraums wie die Franzosen, die dem Papsttum anhingen und verdorben waren wie die „ganze Rotte Sodoms“ (Luther). Das Stereotyp des sittenlosen Franzosen hat hier seinen Ursprung. Zur Selbstidentifikation bot die wiederentdeckte Tacitus-Schrift über die Germanen eine Vorlage. Tacitus hatte die nördlichen Barbaren als ein durch keine Zivilisation verbogenes Urvolk beschrieben. Daraus destillierten Humanisten die „deutsche Einfalt“. Mochten die Deutschen auch grob in ihren Gebräuchen sein, so waren sie doch gerade und unverbildet und unterschieden sich positiv von französischer Eitelkeit und Raffinesse.

Frankreich ging aus dem Dreißigjährigen Krieg gestärkt hervor, Deutschland befand sich am Tiefpunkt. Ludwig XIV. konnte die Pfalz ohne Gegenwehr verwüsten. Erstmals trat Frankreich als aggressive und kriegerische Macht in Erscheinung. Dessen ungeachtet war im Barock das Französische die unbestrittene Leitkultur. Die deutschen Fürsten bauten große Schlösser und geometrische Gärten à la Versailles, und wer auf sich hielt, trug französische Kleidung und übte sich in geistvoller Konversation. Über die deutsche Krankheit Nachahmungssucht schrieben Philosophen anklagende Traktate, doch nur mit mäßigem Erfolg.

Gleich, ob man das Französische anhimmelte oder verurteilte: Die deutsche Oberklasse war fest auf Frankreich fixiert. Daran änderte auch die Revolution nichts. Jetzt waren es nicht mehr Äußerlichkeiten, die die Nachbarn im Osten magisch anzogen, sondern die Verlockungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. In großer Zahl pilgerten Intellektuelle nach Paris, dem Schauplatz des Weltspektakels, um sich alsbald desillusioniert abzuwenden. Mit der Rigorosität von Konvertiten bestritten die Enttäuschten den Franzosen das Recht, die Fahne der Freiheit voranzutragen, und empfahlen als deutschen Weg zur Freiheit die Reform, die Revolution von oben. Mit dem Aufstieg Bonapartes zog Frankreich die Deutschen dann wieder in den Bann. Welche Kraft ging doch von der nation une et indivisible aus! Und wie schwach war Deutschland dagegen! Es den Franzosen gleichzutun, den deutschen Nationalstaat zu bauen, stand ab jetzt auf der Tagesordnung. Doch zuerst musste Napoleon beseitigt werden. „Schlagt ihn tot! Das Weltgericht, fragt euch nach den Gründen nicht!“, eiferte Heinrich von Kleist, und andere Dichter folgten ihm. Nach der Katastrophe der Großen Armee in Russland war die Situation da. Der Kampf gegen die Fremdherrschaft wurde zur nationalen Sache.

Eine Sonderstellung in der Phalanx nationalistischer Vordenker nimmt Ernst Moritz Arndt ein. Arndt dachte über die Befreiung hinaus. Er ahnte, dass nach dem Sieg über Napoleon die Deutschen wieder zurückfallen würden in die alte Lethargie und Zersplitterung. Der Franzosenhass, den er predigte, sollte deshalb mehr bewirken als eine momentane Aufwallung, die nötig war, um den Feind über den Rhein zu treiben. Der Hass sollte von Dauer sein, weil die Deutschen einen „Vereinigungspunkt“ brauchten, um einig zu bleiben und bei sich selbst zu sein. „Ich will den Haß gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg, ich will ihn für immer“, schrieb Arndt. Der Hass solle glühen „als die Religion des deutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen“. Damit stellte Arndt das Verhältnis zu den Nachbarn auf eine historisch neue Stufe. Der Hass auf Frankreich wurde als Hebel zur Herstellung der Einheit gleichsam institutionalisiert. Es entstand der Mythos der Erbfeindschaft.

Im Vormärz änderte sich die Kampflage. Hauptgegner der Liberalen mit ihrer Doppelforderung nach Freiheit und Nation war das System Metternich, das nach dem Sieg über Napoleon weder Demokratie noch Einheit zugelassen hatte. Für eine Weile trat Frankreich als Verhinderer der deutschen Sehnsüchte in den Hintergrund, die Revolution von 1830 ließ sogar die alte Liebesbeziehung wieder aufflammen. Arndts Hasslehre hatte sich nicht durchgesetzt. Dass noch Glut unter der Asche war, zeigte sich dann allerdings 1840. In der Rheinkrise, mutwillig vom Zaun gebrochen durch die Regierung in Paris, bliesen die Poeten die Kriegstrompeten gegen die „Welschen“ wie zuletzt 1813.

Die Rheinkrise rückte das Deutschland-Bild der Franzosen zurecht. Lange war Deutschland transrhenanisch nur ein geografischer Begriff gewesen. Frankreich hatte sich mit Habsburg/Österreich duelliert. Es hatte den Aufstieg Preußens in die Liga der Großmächte zur Kenntnis genommen. Aber Deutschland? Die ungefügte Landmasse in der Mitte, ob Heiliges Römisches Reich oder Deutscher Bund, musste machtpolitisch nicht ernst genommen werden. Dass es überhaupt lohnend sei, sich für Deutschland zu interessieren, vermittelte als erste Madame de Staël. Aber ihr Erfolgsbuch De l’Allemagne, 1814 erschienen, war politisch entkernt. Es schilderte Deutschland als Pflanzstätte der Philosophie, der Musik und der Religiosität, die Deutschen als ebenso tiefsinnig wie tatenarm. Erst in der Rheinkrise machten die Franzosen die Entdeckung, dass die Deutschen durchaus zu nationaler Leidenschaft fähig waren. Wie schwer die Anpassung an die Realität fiel, wurde noch während des Kriegs 1870/71 sichtbar. Obwohl die süddeutschen Staaten mit zu den Waffen gegriffen hatten, tat die französische Propaganda lange so, als führte Frankreich einen Krieg allein gegen Preußen.

Der Kriegsausgang war für Frankreich in jeder Weise bitter. Man hatte nicht bloß eine Schlacht verloren. Man musste zusehen, wie der Rang der ersten Macht auf dem Kontinent an einen neuen Rivalen überging, ein Reich, dessen Gründungsakt ausgerechnet in Versailles vollzogen worden war, was als schlimme Demütigung empfunden wurde. Noch schlimmer war die erzwungene Abtretung Elsass-Lothringens, ein Fehler Bismarcks, denn, dass Frankreich den Verlust nicht hinnehmen würde, war abzusehen. In der Geschichte der Erbfeindschaft markierte der Krieg von 1870/71 einen Wendepunkt. War der Mythos bis dahin eine Sache vor allem der Deutschen gewesen, zogen die Franzosen jetzt nach. Die Erbfeindschaft wurde gleichschenklig.

Weil beide Seiten gefangen waren vom Fatalismus unabänderlicher Gegnerschaft, war der Krieg von 1914–1918 eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Es versagten nicht nur die üblichen Verdächtigen, einäugige Politiker, stupide Militärs und wüste Imperialisten. Auch das geistige Klima war vergiftet. In den Betrachtungen eines Unpolitischen, geschrieben im letzten Kriegsjahr, entwickelte Thomas Mann die bizarre These, im Weltkonflikt gehe es – alles oder nichts – um die Verteidigung der (deutschen) Kultur gegen die (westlich-französische) Zivilisation. Es sollte nicht lange dauern, und andere würden vorführen, wie man Kultur und Zivilisation, die schwache Schutzhaut über der Unmenschlichkeit, mit einem Schlag zerreißt.

Elsass-Lothringen fiel nach der Niederlage des Reiches an Frankreich zurück. Der Schriftsteller René Schickele bemühte sich, die leidvolle Grenzlanderfahrung für die Überwindung des Bruderkampfes fruchtbar zu machen. Dem elsässischen Brückenbauer widmet dieses Buch ebenso einen Abschnitt wie dem Abbé Franz Stock, der als Wehrmachts-Pfarrer im besetzten Paris Hunderte todgeweihte Résistance-Kämpfer auf dem Weg zur Hinrichtung am Mont Valérien begleitete.

Beste Feinde

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