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4 Tacitus und die „deutsche Einfalt“

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Manche Bücher machen eine erstaunliche Karriere. Ein Beispiel ist Tacitus’ De origine et situ germanorum. Verfasst im Jahr 98 n. Chr., galt es lange als verschollen. Mehr als tausend Jahre später, 1454, gelingt dem Rechercheur Enoch d’Ascoli jedoch ein glücklicher Fund. Der hochgebildete Italiener, Lehrer der Söhne Cosimo de Medicis, sucht im Auftrag von Papst Nikolaus V. nach klassischen Handschriften für eine neu zu schaffende Bibliothek. Im Kloster Hersfeld wird er fündig. Er stößt auf mehrere Schriften des römischen Historikers, darunter die Germania. Wenig später wird die Schrift gedruckt und sorgt in der Welt des Wissens für eine Sensation. Deutsche Humanisten wie Hutten oder Aventinus sind begeistert. Warum? Tacitus sah Rom durch Sittenverfall in seiner Existenz bedroht. Er wollte den verderbten Landsleuten einen Spiegel vorhalten und benutzte dazu die Germanen, die er als ein reines und unverbildetes Urvolk präsentierte. Dieser Ansatz fällt in einer Zeit, in der nördlich der Alpen der Antipapismus virulent ist und Argumente gegen alles „Römische“ und „Welsche“ gesammelt werden, natürlich auf fruchtbaren Boden. Und bald wird aus der antiken Schrift ein aktuelles Kampfmittel. Ein Stereotyp ist geboren, das Stereotyp des rauen, aber biederen Deutschen. Bis hinein ins 19. Jahrhundert bleibt De origine et situ germanorum eine Fundgrube, aus der sich alle bedienen, die nach deutscher Identität und nach Abgrenzung von den „welschen“ Franzosen streben.

Die Germanen des Publius Claudius Tacitus haben „blaue Augen mit wildem Ausdruck, rötliches Haar, hochgewachsene und nur für den Angriff starke Leiber“. Sie sind trunksüchtig und faul. Statt geduldig das Land zu bebauen, schlagen sie sich lieber mit Feinden herum. Niemals käme ihnen in den Sinn, „mit Schweiß zu erwerben, was man mit Blut gewinnen kann“. Die auf den ersten Blick wenig schmeichelhafte Außenansicht wird durch ein paar helle Farbtupfer aufgefrischt. Ja, sagt Tacitus, ein barbarisches Volk seien die Germanen schon, aber zu ihren Gunsten spreche die Ursprünglichkeit, die sie sich bewahrt hätten. Die Streitlust erhalte die Wehrhaftigkeit und habe ihre Wurzeln in der den Germanen eingeborenen unbändigen Freiheitsliebe. Ein weiterer Vorzug: Die Männer respektierten die Frauen, die ihrerseits tugendhaft seien – kein Vergleich mit den lüsternen Römerinnen.

Der fantastische Duktus von Tacitusʼ Germanen-Gemälde steht außer Frage. Tacitus hat Germanien nie mit eigenen Augen gesehen. Er schöpft fremde Quellen ab, beispielsweise Plinius, und klaubt zusammen, was für die Zwecke seines Sittenspiegels taugt. Das schränkt die enorme Wirkung seiner Schrift jedoch keineswegs ein. Tacitusʼ These von den nordischen Wilden, die von der Zivilisation nicht angefressen sind und die ihre Ursprünglichkeit erhalten haben, hallt noch in Fichtes Reden an die deutsche Nation (1807/1808) nach, in denen der Philosoph die Deutschen als Urvolk klassifiziert, verbunden mit dem Anspruch, das erste unter den Völkern zu sein.

Man muss die Existenz von Nationaleigenschaften nicht leugnen. Vom Weg, den ein Volk durch die Geschichte nimmt, von den Erinnerungen, die es sammelt, bleibt notwendigerweise etwas an den Schuhsohlen hängen. Nationale Klischees werden dann zu kruden Vorurteilen, wenn sie den Einzelnen hinter dem Kollektiv verschwinden lassen. Sprachlich betoniert der Singular die Vielfalt. Man sagt: der Russe, der Preuße, der Franzose. Stimmt es, dass die Franzosen durch Leichtsinn und Frivolität hervorstechen? Wie immer man die Frage beantworten mag: Pauschalurteile über Völker sind missbrauchsanfällig, simplifizieren, Expertise ist nicht erforderlich. Tacitus kannte Germanien nicht aus eigener Anschauung. Paulus, der alle Kreter mangelnder Wahrheitsliebe bezichtigte, berief sich auf den Politiker Epimenides, der selbst Kreter (also Lügner) war, was der apostolischen Aussage eigentlich den Boden entzog. Aber Klischees sind zählebig. Den Furor teutonicus, den Wilhelm Brito in seinem Schlachtbericht von Bouvines den Rittern Kaiser Ottos zuschreibt, wollte schon tausend Jahre vor ihm der römische Schriftsteller Lucan bei Kimbern und Teutonen beobachtet haben. Knapp zweitausend Jahre später taucht der Furor im Bild des mitleidlos wütenden deutschen Soldaten auf, mit dem die französische Propaganda 1870/71 und 1914/18 arbeitet.

Nationale Klischees bedienen offenbar das menschliche Grundbedürfnis, die komplexe Wirklichkeit zu vereinfachen. Wer sagt, die Schotten seien geizig, erspart sich schwierige „Ja, aber“-Sätze und dazu die Begründungspflicht. Das Klischee unterstellt, die Eigenschaft Geiz sei gleich einer Hautfarbe; sie sei einfach da, den Schotten eingeboren. Und noch etwas zeichnet das nationale Klischee aus. In jeder verallgemeinernden Aussage über die Fasson anderer steckt auch eine Aussage über die eigene Gruppe. Weil man selbst kein Schotte ist, ist man nicht geizig, ergo großzügig. Das Gesetzte und das Entgegengesetzte bedingen einander, Abgrenzung und Selbst-Bestimmung gehen Hand in Hand. Der Historiker Wolfgang Reinhard erklärt den Zusammenhang so: „Der kollektiven Identität, die sich Wir-Gruppen-Angehörige zuschreiben, muß eine entsprechende Fremdzuschreibung durch Andere entsprechen, sonst neigt die kollektive Identität zur Instabilität. Mit anderen Worten, der Andere oder die Anderen sind für die kollektive Identität ebenso konstitutiv wie für die individuelle.“13

In der Zeit der Glaubensspaltung fällt die Rolle der Anderen den „Welschen“ zu. Welsch sind die, die romanische Sprachen sprechen, also Franzosen, Spanier und Italiener. Welsch sind Papst und Papsttum, welsch ist Rom und somit also alles, wogegen die Reformatoren Sturm laufen.

Der Welsch dem Deutschen nicht hold sein wird,

es ist ein angeboren art

wo hund und katz zamen komen

so dund sie gen einander grommen.14

Das Gedicht aus dem frühen 16. Jahrhundert postuliert für die Völker dieselbe Unvereinbarkeit wie für Hund und Katze. Entweder man ist Welscher, oder man ist Deutscher. Der Gegensatz lässt sich nicht aus der Welt schaffen – er ist „ein angeboren art“. Um zu unterstreichen, wie tief der Graben ist, wird das andere moralisch degradiert. Die „Romanisten“, gegen die die deutschen Fürsten zum Schwert greifen sollen, sind nach Luther nicht bloß Ketzer, sondern verdorben. Luther wirft Papst und Kardinäle in einen Topf. Sie sind die „ganze Rotte des römischen Sodoms“.15 Als sittenlos werden bald auch die welschen Franzosen abgestempelt. Man findet die Tätowierung in Flugschriften des Dreißigjährigen Krieges, und es ist gewiss kein Zufall, dass Grimmelshausens Simplicius bei seinem Aufenthalt in Paris in den Venusberg entführt wird, wo er sogleich mehreren Damen zu Diensten sein muss.16 Zur selben Zeit, und auch das ist kein Zufall, entsteht in Deutschland der erste Entwurf nationaler Selbstidentifikation. Weil die Gegenwart – der Dreißigjährige Krieg – aus deutscher Sicht ein Trauerspiel ist, sucht man Trost und Zuversicht in einer imaginierten Vergangenheit. Der wiedergefundene Germanen-Text des Tacitus kommt gerade recht. Hat der Römer nicht gelehrt, die Germanen seien ein Urvolk? Das Buch der hundert Kapitel, eine um 1500 im Elsass entstandene Schrift, greift den Gedanken auf und behauptet, deutsch sei die menschliche Ursprache, die schon Adam im Paradies gesprochen habe. „Adam ist ein tuscher man gewesen.“17 Die Humanisten destillieren aus Tacitusʼ Werk die „deutsche Einfalt“ als Ausdruck urgermanischer Tugendhaftigkeit. Die Deutschen, wird damit suggeriert, seien wohl nicht so schlagfertig, raffiniert und elegant wie die Franzosen, dafür aber redlich, treu und unschuldig. Das Klischee wirkt nachhaltig. Über Jahrhunderte bleibt die Inanspruchnahme biederer Charaktereigenschaften, hergeleitet aus dem fantastischen Germanenbild eines antiken Schriftstellers, eine erstrangige Piste deutscher Ich-Suche.

Bei dieser Suche zeigt die Passnadel beständig nach Westen. An Frankreich scheiden sich die Geister. Es ist Vor- und Schreckbild. Man möchte sein wie die Franzosen oder wie ihr Gegenteil. Die „Einfalt“, die die Deutschen für sich in Anspruch nehmen – Varnhagen von Ense spricht später von der „ungekünstelten Natur gesunder Volkstümlichkeit“18 –, hat einen stark moralischen Strich. Sie korrespondiert mit der Verderbtheit und Geziertheit, die den Franzosen nachgesagt wird. Was man sich nicht alles über Versailles erzählt! Es muss das reinste Sündenbabel sein! Vor allem im protestantischen Norden Deutschlands schüttelt man sich. Und doch: Die Sünde hat auch ihren Reiz. Französische Lebenskunst – bedeutet sie nicht die Freiheit, sich alle Freiheiten zu nehmen? Auf viele deutsche Fürsten, auch auf den Kleinadel und das aufstrebende Bürgertum, wirkt die Verlockung unwiderstehlich. Man benimmt sich französisch, parliert in einer spottlustigen Weise, die man für Esprit ausgibt, und folgt in der Mode der Raffinesse des Rokoko, die ironischerweise von niemandem authentischer repräsentiert wird als von der Königin Marie-Antoinette, der ehemaligen österreichischen Erzherzogin. Es ist also nicht so weit her mit der „deutschen Einfalt“. Amüsiert bemerkt Madame de Staël, die Deutschland anfangs des 19. Jahrhunderts bereist und von der noch die Rede sein wird, den Ehrgeiz der Nachbarn, die Franzosen im Leichtsinn noch zu übertreffen: Sie „affektier(t)en mehr Immoralität und sind frivoler als diese – nur aus Furcht, dem Ernst könne die Grazie fehlen, und Gefühle und Gedanken würden nicht den richtigen Pariser Ton haben“.19

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