Читать книгу Napoleon - Günter Müchler - Страница 27
„Ich habe seinen Ellbogen berührt“
ОглавлениеAm 7. November verlässt Napoleon Mailand, um sich nach Rastatt zu begeben, wo nach den Vorgaben von Campo Formio die Entschädigungsverhandlungen mit den Reichsvertretern stattfinden sollen. Das Kommando über die Italienarmee hat er seinem neuen Schwager Leclerc übertragen. Auf dem Weg zu seinem Reiseziel durchquert er die Schweiz. In Genf macht er Station, ohne nach Ferney zu pilgern, dem Alterssitz des verstorbenen Jahrhundert-Philosophen Voltaire. Auch Coppet, wo der stark von sich eingenommene frühere Finanzminister Necker fest mit dem Besuch des aufsteigenden Sterns gerechnet hat, lässt er links liegen. Voltaire und Necker sind nicht nach seinem Geschmack. Dagegen nutzt er die Gelegenheit, die eidgenössischen Revolutionsfreunde um den Basler Oberzunftmeister Ochs zu ermutigen. Sechsspännig und eskortiert von 30 Kavalleristen zieht er schließlich in Rastatt ein, die ehemalige Residenz der Markgrafen von Baden-Baden. Wie viele der angereisten Diplomaten wartet auch der junge Klemens von Metternich, den sein Vater, der Bevollmächtigte des Kaisers, nach Rastatt mitgenommen hat, auf ein Rendezvous mit Bonaparte. Aber kaum ist der Star angekommen, ist er schon wieder weg. Metternich gibt die Hoffnung nicht auf. Am 24. Dezember schreibt er seiner Frau Eleonore: „Wir sind noch immer in der Erwartung von Bonapartes Eintreffen.“ 1. Januar: „Bonaparte wird für Samstag oder Sonntag erwartet.“ 6. Januar: „Unsere Geschäfte hier nehmen ihren Gang; sie werden schneller vorankommen, wenn erst Bonaparte eingetroffen sein wird.“209 Aus dem Rendezvous wird nichts. Erst 1806 werden sich die späteren Kontrahenten das erste Mal begegnen. Von Rastatt ist neben einem kurzen Gespräch, das Napoleon mit Cobenzl führt, nur ein unverhofftes Zusammentreffen mit dem geheimnisumwitterten Baron Fersen erwähnenswert. Fersen war der Liebhaber Marie-Antoinettes und Helfer bei dem glücklosen Fluchtversuch des Königspaares. Beim Kongress vertritt er den König von Schweden in dessen Eigenschaft als Landesherr von Vorpommern. Napoleon lässt den Baron kalt abblitzen. Er kenne ihn, aber nur „als Anhänger einer in Frankreich geächteten Regierung und durch Ihre nutzlosen Anstrengungen für deren Wiedereinsetzung“, blafft er ihn an.210 Alsbald ruft der schwedische König Fersen von seinem Posten ab.
Der Kongress ist ein Schwindel. Kaiser Franz hat beteuert, er werde die Einheit des Reiches bewahren, aber das ist pure Rhetorik. Inzwischen haben auch der Herzog von Württemberg und der Markgraf von Baden in Geheimabkommen die Rheingrenze anerkannt, das heißt, sie haben das schlechte Beispiel Preußens und Österreichs nachvollzogen und sich auf Kosten Dritter entlastet. Die Dritten, das sind jene Grafen und Freiherrn, deren Besitzungen links des Rheins französischem Besatzungsregime unterstehen und die nun sehen müssen, wie sie anderweitig entschädigt werden. Bevor die Verhandlungen in Schwung kommen, ist wieder Krieg. Aus Rastatt ziehen die Diplomaten ab. Das Finale des Kongresses bildet ein spektakuläres Verbrechen. Am 28. April 1799 überfallen bei Nacht ungarische Szekler-Husaren die französische Delegation, die gerade ihre Sachen gepackt hat. Zwei Delegierte werden getötet. Der Verdacht eines Auftragsmordes bestätigt sich nicht. Die Täter haben es auf die Dipomaten-Akten abgesehen. Gleichwohl erregt die Bluttat die öffentliche Meinung Frankreichs.
In Rastatt war Napoleon sechsspännig eingezogen. Paris, das er am 5. Dezember 1797 erreicht, betritt er als bescheidener citoyen, nur begleitet von Berthier. Es ist abzusehen, dass man ihn mit Huldigungen überhäufen wird. Gerade deswegen hält er sich demonstrativ zurück. Er verlässt das Haus rue Chantereine Nummer 6, das Joséphine gemietet hat und das er bald kaufen wird, nur, um ins Theater zu gehen oder sich im Jardin des Plantes die Elefanten anzusehen. Natürlich bleiben offizielle Termine nicht aus. Die Spitzen des Seine-Departements machen ihm seine Aufwartung. Man hat beschlossen, die rue Chantereine in rue de la Victoire umzutaufen und so den Sieger von Rivoli zu ehren. Zu Weihnachten, das kein Feiertag mehr ist, wählt ihn das Institut, die Akademie der Wissenschaften, zu einem seiner Mitglieder. Er besetzt den Platz des geflohenen Lazare Carnot, Sektion Mathematik. Beim Präsidenten des Institut bedankt er sich artig: „Die wahren Eroberungen, die einzigen, die man nicht zu bedauern hat, sind die über die Unwissenheit.“211 Die Auszeichnung – er muss sich gegen zwei Mitbewerber durchsetzen – ist keine bloße Höflichkeitsgeste. Napoleon ist an allen Wissenschaften interessiert. Wenn man ihm auf der Straße in der grünen Uniform des Instituts begegnet, wirkt er durchaus authentisch – und doch auch rätselhaft. Wer ist dieser Mann wirklich: General, Politiker oder Weiser?
Der erste Prominente, den Napoleon nach 20-monatiger Abwesenheit von der Hauptstadt aufsucht, ist Talleyrand. Am 6. Dezember führt er mit dem Außenminister eine lange Unterredung. Für beide ist es ein Kennenlernen. Der geistvoll-spöttische Ex-Bischof von Autun gewinnt von seinem Gast einen positiven Eindruck. „Beim ersten Hinsehen schien er mir ein charmantes Gesicht zu haben. Zwanzig gewonnene Schlachten stehen der Jugend, dem schönen Blick, der Blässe und einem gewissen Erschöpftsein so gut“, hält er in seinen Memoiren fest.212 Es muss kein Fehler sein, eine Wette auf den jungen Mann zu wagen. Allem Anschein nach besitzt er Potenzial. Die kalkulierte Wertschätzung beruht auf Gegenseitigkeit. In Napoleons Augen erhebt sich Talleyrand weit über das Niveau der „Advokaten des Luxembourg“. Blättert man in Napoleons Korrespondenz des ausklingenden Jahres, fallen die Briefe an Talleyrand durch ihren politischen Duktus auf. Da ist sonst niemand, dem er so offen seine Sicht auf die Probleme der Republik darlegt. „Wenn eine Nation von 30 Millionen Einwohnern es im 18. Jahrhundert nötig hat, das Vaterland durch Bajonette zu retten, ist das ein großes Unglück“, schreibt er am 21. September 1799.213 Schuld seien die falsch konstruierten Verfassungsorgane. Es sei unsinnig, das Recht, Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, der Legislative zu übertragen. Die Exekutive müsse „als der wahre Vertreter der Nation betrachtet werden, der nach den Bestimmungen der Verfassung und der organischen Gesetze* herrscht“. Präziser wird Napoleon nicht, aber die Botschaft ist auch so unmissverständlich. Hauptkrankheit der Republik ist die Schwäche der vollziehenden Gewalt. Wer diese Krankheit heilen will, hat ihn, Napoleon, auf seiner Seite. Ausdrücklich bittet er Talleyrand, seine Überlegungen Sieyès mitzuteilen. Sieyès gilt im Parlament als Verfassungs-Koryphäe; seine Unzufriedenheit mit der Konstitution des Jahres III (1795) ist bekannt.
Am 10. Dezember geben die Direktoren dem siegreichen Italienheimkehrer ein großes Fest im Palais du Luxembourg. Mit lustvoller Neugier wird der General erwartet. Jedermann weiß, dass er den Fructidor-Putsch unterstützt hat und trotzdem Distanz zum Direktorium wahrt. Gekommen sind alle, die gesellschaftlich zählen, die Direktoren in Amtstracht, die Damen in erlesenen Garderoben. Adieu die egalitäre Verachtung des äußeren Scheins! Man legt wieder Wert auf Distinktion. Als der Ehrengast das Palais betritt, erheben sich die Gäste, die Herren lüften den Hut. Im Hof des Palastes hat die Festregie einen „Altar des Vaterlandes“ platziert. Der Laudator ist Talleyrand. Er preist den Frieden, dem er den Namen Bonaparte gibt. Napoleon antwortet nur kurz. Er lobt die tapferen Soldaten, ihnen habe man Sieg und Frieden zu verdanken. Das Publikum applaudiert. Dann kommt Barras an die Reihe. „Die Natur hat sich verausgabt, als sie einen Bonaparte schuf“, ruft er aus. Im Park singt der Chor eine von Chénier getextete Hymne: „Du warst lange der Schrecken der Erde, sei jetzt ihre Liebe, oh Republik der Franzosen.“ Vom Empfang zurückgekehrt, berichtet die schöne Madame Méchin verzückt ihrer Familie: „Endlich habe ich den General Bonaparte gesehen; ich habe seinen Ellbogen berührt.“214
Napoleon fühlt sich in den Tagen nach dem Jahreswechsel nicht wohl. Es ist keineswegs so, dass ihm die vielen Toasts und Vivats zuwider wären. Aber wer die wechselnden Wetterlagen der Revolution erlebt hat, misstraut dem Sonnenschein. Bourienne, der meint, Napoleon sei um die öffentliche Gunst zu beneiden, bekommt barsch zur Antwort: „Bah, das Volk würde sich ebenso drängen, wenn ich zum Schafott ginge.“215 Unleidlich macht ihn der Mangel an zielgerichteter Aktivität. Was soll er tun? Soll er darauf setzen, dass man ihm einen Platz im Direktorium freiräumt? Die Altersgrenze beträgt 40 Jahre, er ist aber erst 29. Eine Zeit lang redet er sich ein, man werde für ihn eine Ausnahme machen. Aber daran haben die Direktoren kein Interesse. Die übertriebenen Lobpreisungen eines Barras sind verdächtig. Vermutlich würden es alle Direktoren begrüßen, wäre er außer Reichweite. Er wird von der Polizei überwacht. Hält man ihn für einen potenziellen Putschisten? Das Misstrauen ist allgegenwärtig. Es ist schon so oft geputscht worden! Der Putsch ist die Medizin, mit der sich die Republik fortschleppt, zugleich ist er das Gift, das ihr Ansehen zersetzt. Napoleon bemüht sich um ein möglichst niedriges Profil. Am 21. Januar feiert die Republik die Hinrichtung Ludwigs XVI. Der Hass-Tag ist nicht besonders beliebt, wird aber wie jedes Jahr mit einer offiziellen Zeremonie begangen. Napoleon kann sich nicht entziehen; er weigert sich jedoch, in Generalsuniform zu erscheinen, und nimmt unter den Kollegen des Instituts Platz, in der dritten Reihe. Verächtlich sagt er: „Den Tod eines Menschen zu feiern, kann niemals die Politik der Regierung sein, nur die Politik einer aufrührerischen Fraktion.“216 In dem Wort faction (Fraktion) steckt alles, was er ablehnt und was nach seiner Ansicht die Genesung der Republik verhindert: Unordnung, Spaltung, Unvernunft. Ausdruck der Unvernunft sind für ihn die Repressionen gegen Priester und Adlige. Sie haben nach dem Fructidor wieder zugenommen. Aufschlussreich für seinen Standpunkt ist ein Sendschreiben, das er kurz vor seiner Abreise aus Italien an die Verantwortlichen der Ligurischen Republik gerichtet hat. Es versammelt alle Sünden der Staats-Unklugheit, die nach seiner Ansicht die Republik in die Nähe des Ruins gebracht haben:
„(… ) Nach dem ersten Elan der Brüderlichkeit und des Enthusiasmus folgten Furcht und Terror. Die Priester waren die Ersten, die sich um den Freiheitsbaum scharten, die Ersten, die euch gesagt haben, dass die Moral des Evangeliums ganz und gar demokratisch ist. Aber Söldlinge eurer Feinde (…) haben die Entgleisungen und Verbrechen einzelner Priester genutzt, um gegen die Religion zu schreien, und die Priester haben sich abgewandt. Ein Teil des Adels war bei den Ersten, die das Volk aufgeweckt und die die Menschenrechte proklamiert haben. Man hat die Entgleisungen, die Vorurteile und die frühere Tyrannei einiger Adliger ausgenutzt. Man hat den Adel in Massen der Verfolgung ausgesetzt, und die Zahl eurer Feinde ist gewachsen (…).“
„(…) Wenn ein Staat sich daran gewöhnt zu verurteilen, statt zu verstehen und nur den wildesten Reden zu applaudieren; wenn Übersteigerung und Wut Tugend genannt werden, Mäßigung Verbrechen, dann ist dieser Staat dem Ruin nahe (…).“
„(…) In einem Augenblick, wo ihr dabei seid, eine stabile Regierung zu bilden, schließt euch zusammen, lasst euer Misstrauen ruhen, vergesst die Gründe der Zwietracht und organisiert einträchtig eure Regierung (…).“217
Bemerkenswert ist, dass der Moniteur dieses „Manifest für die Franzosen“ (Patrice Gueniffey), abdruckt und es mit der Anmerkung versieht, die weisen Ratschläge des Generals richteten sich nicht bloß an die „Völker Cisalpiniens und Liguriens“. Die Öffentlichkeitsarbeit funktioniert. Napoleon, der Künstler, fügt seinem Porträt einen weiteren Zug an. Es tritt hervor der Mann, der über den Parteien steht, der Mann der Versöhnung.