Читать книгу Ein Schlüssel zur inneren Biografie - Günther Dellbrügger - Страница 10
ANRUF AUS DER ZUKUNFT
ОглавлениеEtwa im neunten bis zehnten Lebensjahr beginnt im Kind eine Doppelbewegung zu wirken. Was in den ersten Lebensjahren überpersönlich am Menschenkind sich vollbringt – gehen, sprechen, denken –, erlebt jetzt in einem großen Umbruch seinen Abglanz. Das Kind erwirbt in einer Doppelbewegung ein persönliches Verhältnis zu den Gesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit und den geahnten Dimensionen einer spirituellen Welt. In dieser Zeit taucht das Erleben »Ich bin ein Ich« auf neue Weise wieder auf, wie eine Oktave zum früheren Erleben, aber wie eine Oktave nach unten! Denn es ist nun kein Licht-Erleben, das die Ich-Erfahrung dem Kind zuträgt, unvermittelt wie ein Blitz aus heiterem Himmel, sondern in diesem Lebensalter taucht die Ich-Erfahrung aus den Tiefen der eigenen Seele herauf. Sie »taucht auf« – ganz wörtlich zu nehmen! – aus dem Meer des eigenen Seins, in das sie wie »untergetaucht« war.
In einem neuen Erwachen erlebt das älter werdende Kind tiefe Fragen: Wer bin ich? Wo bin ich? Was ist das für eine Welt? Alles wird frag-würdig, neu und rätselhaft. Ein hellerer Bewusstseinszustand führt das Kind in eine weitere Distanzierung zu seiner Umwelt und zu einem Erleben von Einsamkeit und Sehnsucht. Auch für dieses Erleben seien einige Zeugnisse angeführt. Sie schildern das Ich-Erwachen an der Schwelle zur mittleren Kindheit, sie schildern dasselbe, aber in charakteristisch verschiedener Weise. Hier leuchtet schon ein großes Geheimnis unseres Menschseins auf: Als Menschen ist uns gemeinsam, dass jedem von uns ein Ich eignet. Aber diese Gemeinsamkeit ist gerade der Grund unserer Verschiedenheit. Denn jeder lebt sein Ich auf andere Weise!
Der schon genannte Jean Paul erzählt aus seinen Knabenjahren, wie dieses neue Erleben anders ist als beim kleinen Kind, wie es von Sehnsucht durchtränkt ist. Auf dem Heimweg von den Großeltern mittags gegen zwei Uhr schaut er auf die sonnig glänzenden Bergabhänge und die ziehenden Wolken. Da überkommt ihn ein »gegenstandsloses Sehnen«. In diesem Sehnen erlebt er mehr Pein als Lust, ein »Wünschen ohne Erinnern«. Man merkt dieser Schilderung an, wie sie um Worte ringt, um dieses aus dem »tiefen Dunkel des Herzens« aufsteigende Empfinden adäquat auszudrücken:
»Ach, es war der ganze Mensch, der sich nach den himmlischen Gütern des Lebens sehnte, die noch unbezeichnet und farblos im tiefen Dunkel des Herzens lagen, und die sich unter den einfallenden Sonnenstrahlen flüchtig erleuchteten.«7
Aus dem tiefen Dunkel des Herzens steigt eine neue Ich-Erfahrung auf. Ähnlich spricht der Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) in seiner Autobiografie über eine Sehnsucht, die ihn als Zehnjährigen beim Lesen einiger Gedichtzeilen ergriffen hat. Es sind die Gedichtzeilen von Friedrich Rückert (1788–1866), die er in seinem Schulbuch aufschlägt, die ihn finden und treffen:
»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
klingt ein Lied mir immerdar,
ach, wie liegt so weit, ach wie liegt so weit,
was mein einst war ...«
Bei diesen Zeilen ergreift ihn eine »hinreißende Sehnsucht«, die die »schmerzvolle, gleichsam totale Erinnerung des unergründlichen Gelebt-Habens« in ihm aufruft. In der Seele steigt ein Ahnen auf von einer unendlichen Fülle, die ihm einmal gegeben war, aber jetzt verloren ist. Die »Seligkeit des mir Unerreichbaren« droht ihm das Herz zu brechen.8
Nüchterner und mit dem ihm eigenen Humor berichtet der Philosoph Ernst Bloch (1885–1977) vom Auftauchen seines Ich-Erlebens. Auf einer Bank im Wald fährt es in ihn: »... und ich spürte ›mich‹ als den, der sich spürte ..., von dem man nie mehr loskommt, so schrecklich wie wunderbar, der ewig in der eigenen Bude ... sitzt. Den man immer vorrätig hat, ... und der zuletzt einsam stirbt.«9
Ich kann mir nicht entkommen, bin mir wie ausgeliefert – das ist die Nuance, die hier bei Ernst Bloch auftritt, ähnlich dem Jugendlichen, der auf einen Zettel schreibt, den er sich an den Spiegel klebt: »Heute bekommst du es wieder mit mir zu tun!« Als letztes Zeugnis zum Ich-Erwachen im neunten bis zehnten Lebensjahr seien Erinnerungen des Dirigenten Bruno Walter (1876–1962) erwähnt. Über die schon bei den bisherigen Schilderungen beschriebenen Elemente der Sehnsucht und der Einsamkeit hinaus, spricht er von einem inneren »Anruf«, der ihm als ein Unbekanntes, Mächtiges ans Herz griff. Er ist allein in der Schule und betritt den großen Hof, der ihm ohne spielende und tobende Kinder doppelt leer und verlassen erscheint. Er ist überwältigt von dieser Stille, lauscht dem leichten Wind und fühlt, wie ihm »aus der Einsamkeit ein Unbekanntes, Mächtiges ans Herz greift«. Er versteht diese neue Erfahrung als eine erste ahnende Empfindung, »dass ich ein Ich war, mein erstes Aufdämmern, dass ich eine Seele hatte und dass sie von irgendwo her – angerufen wurde«.10
Es ist der Ruf aus der Zukunft, einer unbekannten, aber mächtig wirkenden Zukunft. Das ältere Kind tritt in die Spannung ein, die zwischen dem »Nicht-mehr« und dem »Noch-nicht« besteht. Das »Paradies« der Kindheit ist endgültig verloren, das Tor zurück ist verschlossen. Sehnsuchtsvoll wird die Zukunft erwartet. Ein Zehnjähriger bringt es auf die knappe Formel: »Ich bin zu Hause, aber ich habe immer Heimweh.«
Heimweh nach der Zukunft! Das Kind sucht den Leitstern seiner eigenen Biografie. Das innere Gespräch mit dem eigenen höheren Ich beginnt. Das Verhältnis zum Erwachsenen ändert sich – und damit dessen Aufgabe: Kann er als Gegenüber zur Brücke werden, über die das suchende Kind zu sich selbst gelangen kann?
Über diesen etwa drei Jahren vor den Stürmen der Pubertät liegt noch die Ruhe einer keimhaften Selbst-Entwicklung. Körper- und Seelengleichgewicht schenken dem Menschen eine Vorahnung dessen, was er einmal werden kann und will. Der innere Dialog mit der eigenen Zukunft ist Hoffnung und Aufforderung zugleich. Die Stimme des höheren Ich zwingt nicht, ist aber unabweisbar. Sie ist Licht auf dem Weg in einen neuen Entwicklungsraum. Die Sehnsucht nach dem Grund des Lebens erwacht und wird den Menschen von nun an nicht mehr verlassen. Und er bedarf des Erwachsenen, der das Kind führt – nicht zu sich hin, sondern über sich hinaus!