Читать книгу Ein Schlüssel zur inneren Biografie - Günther Dellbrügger - Страница 15
VERTRAG MIT DEM ZWEITEN ICH
ОглавлениеIndem Natascha Kampusch ins Jugendalter kommt, tritt eine neue Dimension in ihr Leben. In jedem Jugendlichen lebt der gesunde Impuls, die Jahre der Kindheit, die selbstverständliche Verbundenheit mit der Welt, in die man hineingeboren wurde, zurückzudrängen, um für das Eigene, das noch nicht da ist, einen Werde-Raum zu schaffen. So empfindet Natascha erstaunlicherweise, dass ihr die totale Freiheitsberaubung zugleich innere Freiräume eröffnet! »Im Schatten dieser Macht, die mir alles vorschrieb, konnte ich paradoxerweise zum ersten Mal in meinem Leben ich selbst sein.« (S. 147)
Doch zugleich vertiefen sich Angst und Einsamkeit, besonders an den Wochenenden, an denen sie immer allein ist. Sie wacht nachts schweißgebadet auf und ringt in der Dunkelheit darum, innerlich nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihr kommt die Idee, sich selbst als die erwachsene Natascha und ihre eigene Zukunft als ermutigendes Gegenüber vorzustellen. Sie sieht ihr Leben vor sich wie einen leuchtenden Zeitstrahl, der weit in die Zukunft reicht, sie sieht ihr eigenes 18-jähriges Ich, groß und stark, selbstbewusst und unabhängig!
In diesem inneren Erlebnis kommt ihr verborgenes Ich ihr entgegen, sie gehen aufeinander zu, in der Mitte reichen sie sich die Hand! Sie fühlt die warme Berührung, fühlt, »wie sich die Kraft meines großen Ich auf das kleine übertrug«. (S. 172)
Die bewegende Nachtszene in völliger Dunkelheit und Einsamkeit schenkt Natascha große Zuversicht. Das höhere Selbst, das in jedem Menschen schlummert, erwacht in ihr. Dies ist weder eine subjektive Einbildung noch ein starres Über-Ich, das herrscht, sondern ein Partner in Freiheit. Aus dieser lebendigen, immer neuen Beziehung erfährt sie Stärkung. »In dieser Nacht schloss ich einen Vertrag mit meinem eigenen, späteren Ich. Ich habe mein Wort gehalten.« (S. 172)
Dennoch gelingt ihr die Flucht zunächst nicht! Bei mehreren »Ausflügen«, unter anderem in einen Baumarkt, und sogar bei einer zufälligen Polizeikontrolle (!) ist sie wie gelähmt. Ihr wird klar, dass sie von außen keine Hilfe bekommt und dass sie sich nur allein befreien kann. Als sie 17 wird, spitzt sich die Situation zu, es kommt sogar zu Selbstmordversuchen. Der Kontakt zu ihrem höheren Wesen droht abzureißen. Sie spürt, dass ihre Kraft schwindet und sie immer tiefer in die paranoide Welt des Täters hineinrutscht. Es kommen ihr Zweifel: Wie soll ihr kleines, verzagtes Ich zu dem starken Ich werden, das sie aus diesem Gefängnis befreien wird?
Sie berichtet, dass ihr in dieser Situation nur die Selbstgespräche mit dem zweiten Ich (S. 231) geholfen haben. Dieser Ausdruck zeigt die ganze Paradoxie ihrer Situation: Es sind Selbst-Gespräche, aber das Selbst spannt sich zwischen dem kleinen, gewöhnlichen Ich und dem zweiten, starken, zuversichtlichen Ich. Natascha Kampusch kann sich in dieser Spannung halten und wird durch sie gehalten.
Eines Morgens bleibt ihr aus der Nacht ein vages Gefühl, dem sie erstaunt nachsinnt. Aus dem Schlaf bringt sie tiefe Entschlossenheit mit. Sie ist inzwischen 18 Jahre, fühlt sich stark und selbstbewusst. »Ich war nun erwachsen, mein zweites Ich hielt mich fest in der Hand.« (S. 249)
Aber es kommen neue Krisen, Phasen der Verzweiflung, verpasste Gelegenheiten ... Die Beziehung zum Täter spitzt sich zu. Er spürt, dass sie sich ihm mehr und mehr entzieht. In einem letzten Versuch, seine absolute Macht zu beweisen, befiehlt er ihr, einen schwarzen Farbeimer rot zu nennen. Als sie sich weigert, wird sie fast bewusstlos geschlagen.
Es ist sein letzter verzweifelter Versuch einer absoluten »Machtergreifung«. Er will nicht nur ihren Bewegungsraum, ihre Zeit, ihr Essverhalten, er will zuletzt ihr Bewusstsein kontrollieren und beherrschen. Wahrheit soll nicht sein, was sie durch Wahrnehmung und Denken schafft, sondern allein, was er ihr vorgibt. Schließlich konfrontiert sie ihn: er solle sie umbringen oder freilassen. Er spürt, dass er mit seinen Plänen gescheitert ist. Dann gelingt ihr doch noch die Befreiung! Bei der Gartenarbeit klingelt sein Handy, er lässt sich ablenken, zum ersten Mal seit dem Beginn der Gefangenschaft lässt er sie aus den Augen. In einem »übermenschlichen Gewaltakt«, angefeuert durch die Stimme ihres zweiten Ich, gelingt ihr die Flucht.