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VERTRAUEN: EINE RELIGION IM ICH
ОглавлениеHaben religiöse Aspekte in den Jahren der Gefangenschaft für Natascha Kampusch eine Rolle gespielt? Sie spricht wenig über dieses Thema, aber zwischen den Zeilen ist tiefes religiöses Vertrauen zu spüren. Vertrauen in eine Instanz, die übersinnlicher Natur ist, ein Wesen, das auf sie stärkend und ermutigend wirkt. Es kommt nicht darauf an, ob es zweites Ich, höheres Ich oder Genius genannt wird. Es sind dies alles Aspekte ein und desselben.
In ihrem Buch berichtet Natascha, noch sehr kindlich, von dem tiefen Trost eines Liedes, dessen Text sie direkt zu betreffen scheint, ein Gebet an die Muttergottes:
Es will das Licht des Tages scheiden;
nun bricht die stille Nacht herein.
Ach, könnte doch des Herzens Leiden
so wie der Tag vergangen sein!
Ich leg mein Flehen dir zu Füßen;
o, trag’s empor zu Gottes Thron,
und lass, Madonna, lass dich grüßen
mit des Gebetes frommem Ton:
Ave, ave Maria!
Es will das Licht des Glaubens scheiden;
nun bricht des Zweifels Nacht herein.
Das Gottvertraun der Jugendzeiten,
es soll uns abgestohlen sein.
Erhalt, Madonna, mir im Alter
des Glaubens frohe Zuversicht;
schütz meine Harfe, meinen Psalter;
du bist mein Heil, du bist mein Licht!
Ave, ave Maria!
Es will das Licht des Lebens scheiden;
nun bricht des Todes Nacht herein.
Die Seele will die Schwingen breiten;
es muss, es muss gestorben sein.
Madonna, ach, in deine Hände
leg ich mein letztes, heißes Flehn:
Erbitte mir ein gläubig Ende
und dann ein selig Auferstehn!
Ave, ave Maria!
Über die literarische Qualität dieses Liedes kann man sicher streiten, aber für das gefangene, einsame Kind war es ein höchster Segen. Oft können gerade Kinder durch das Äußere hindurch den wesentlichen Kern erfassen. So auch hier. Dieses Lied erschien Natascha geradezu für sie geschrieben. Sie bittet um ein »gläubig Ende« und ein »selig Auferstehen«.
Im Älterwerden findet Natascha eine Religion. Sie findet eine Religion im Ich. Sie erlebt die innere Spannung zwischen einem gewöhnlichen Ich und einem höheren, zweiten Ich. Entscheidend dabei ist die lebendige, treue Beziehung zu diesem Wesen – und der Mut, sich dieser Beziehung immer wieder neu zuzuwenden, sooft sie auch verloren scheint; sie lebt eine Religion im Ich.
Natascha Kampusch offenbart sich als ausgesprochen starke Persönlichkeit. Die Gefangenschaft ohne Aussicht auf Rettung und die ständige Bedrohung, der sie ausgesetzt ist, nimmt sie als Herausforderung an. Ihr Überlebenswille mündet in die Kraft, die Jahre ihrer Gefangenschaft als zu ihr gehörig anzunehmen. Sie lehnt nach ihrer Befreiung einen neuen Namen ab. Sie ist und bleibt Natascha Kampusch. »Ich bin Natascha Kampusch, ich wurde am 02.03.1998 entführt, und ich habe mich am 26.08.2006 selbst befreit.«
Natascha Kampuschs Lebenswille verdient unsere Bewunderung und Hochachtung. Ihr einsames Ringen um eine selbstbestimmte Zukunft ist die starke Treue zu dem, was wir unser höheres Selbst, den »Geist in unserem Herzen« nennen können.
»Strahlender als die Sonne
Reiner als der Schnee
Feiner als der Äther
Ist das Selbst,
der Geist in meinem Herzen
Dies Selbst bin Ich
Ich bin dies Selbst.«
Rudolf Steiner15