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IM RINGEN UM DIE INNERE FREIHEIT

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Wie hat dieses Mädchen das ausgehalten, ohne zu zerbrechen? Wie hat sie den Täter in Schach gehalten, der zugleich über acht Jahre lang ihre einzige Bezugsperson war? Wie hat sie es geschafft, an ihrem Plan: »Mit 18 will ich frei sein!« festzuhalten und ihn gegen alle Widerstände zu realisieren? Ihr ungebrochenes Überleben ist umso bewundernswerter, als sie sich selber als unsicheres Mädchen schildert, das eine schwierige Kindheit hatte, im Wechselbad von Aufmerksamkeit und Vernachlässigung. Ihr starker Kern zeigt sich aber schon früh in dem Willen, zu lernen, Schwierigkeiten allein zu meistern.

Mit zehn Jahren sehnte sich Natascha Kampusch schon nach der Vollendung ihres 18. Lebensjahres, denn dann würde sie ausziehen und endlich selbstbestimmt leben können. Dieser Wille zur Zukunft, der Zeitbogen hin zum 18. Lebensjahr bildet die entscheidende Kraft, aus der Natascha Kampusch sich aufrechtgehalten hat. Sie hat aus der Zukunft überlebt!

Einige Wochen vor ihrer Entführung hatte sie durchgesetzt, allein zur Schule gehen zu dürfen. Sie wollte das, um ihre Angst selbst zu besiegen, von innen heraus stark zu werden. Die Entführungssituation zeigt dieses Ringen: Als sie den weißen Lieferwagen sieht, schrillen in ihr die Alarmglocken. Hat sie auf irgendeine Weise gewusst, was sie erwartet? Sie entschließt sich, nicht auf die andere Straßenseite zu wechseln, sondern an dem Unbekannten vorbeizugehen – als Mutprobe. Als sie ihm näher kommt, schwindet ihre Angst! Er strahlt etwas Schutzbedürftiges aus, verloren und sehr zerbrechlich ... In dieser Erstbegegnung blickt sie tief in die Psyche des kranken Täters. Er wirkt schutzbedürftig, verloren, schwach. Hier zeigen sich bei Natascha schon zwei dem menschlichen Ich zugehörige Stärken: Mut und Empathie.

In den Jahren zuvor waren in den Medien verschiedene Fälle von Entführungen, von Missbrauch an Kindern bekannt geworden, die auch in der Schule besprochen wurden. Psychologen hatten geraten, sich gegen Übergriffe nicht zu wehren, um nicht das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Natascha hielt sich daran. Der Täter befahl ihr, ruhig zu sein, doch Natascha setzte sich über seine Anweisung hinweg und fragte ihn – nach seiner Schuhgröße! Man müsse den Täter genau beschreiben können, hatte sie gelernt. Offenbar hat sie den ersten Schock zurückdrängen können, indem sie ihre ganze Aufmerksamkeit in die Sinneswahrnehmung schickte.

In ihrem Gefängnis angekommen, fragt sie offen: »Werde ich jetzt missbraucht?«, und erhält die Antwort: »Dazu bist du viel zu jung, das würde ich nie tun.« Der Missbrauch durch den Täter ist sublimer. Er ist auf die Wahnidee verfallen, sich mit absoluter Macht die Nähe eines Menschen zu erzwingen, sich eine Sklavin heranzuziehen.

Auf dem kalten, nackten Boden ihres Verlieses findet sich Natascha in absoluter Dunkelheit. Als der Täter mit einer Glühbirne zurückkommt, geschieht in ihr etwas, ohne das sie wohl nicht überlebt hätte: »Ich akzeptierte, was passiert war.« Ihre Panik weicht einem gewissen Pragmatismus. Sie fügt sich, passt sich äußerlich an. Sie hat diese Form der Anpassung an die gegebenen Verhältnisse später eine Regression in ihre Kindheit genannt, durch die sie sich geschützt habe. Dadurch bewahrte sie sich einen inneren Raum, in dem Widerstands- und Durchhaltekraft wachsen konnten.

Der Täter übt einen sublimen Terror aus. Auf der einen Seite erfüllt er ihr nach und nach viele äußere Wünsche (Videogerät, Radio, Bücher ...), andererseits foltert er sie durch quälende Helligkeit in den Nächten, Reizentzug zu anderen Zeiten, Hungerfolter, Beschallung. Von körperlichen Misshandlungen, die im Laufe der Jahre zunehmen, kann sie sich nur durch minutiöses Aufschreiben einigermaßen distanzieren: Sinneswahrnehmung und Leiblichkeit als primäres »Zuhause«, als Grundlagen der Identität werden vom Täter attackiert. Er versucht nach und nach, ihr diese Identität zu nehmen.

Er verlangt, dass sie sich einen neuen Namen sucht: Natascha wählt »Bibiana«. Sie darf nicht mehr von ihrer Lebensgeschichte, der Zeit vor der Entführung sprechen. Er will sich einen Menschen »züchten nach seinem Bild«. Ihr eigenes Bild verweigert er ihr: Sie bekommt keinen Spiegel, sie soll sich vergessen. Hinter seiner Fassade ist der Täter so schwach, dass er ihr verbietet, ihm frontal ins Gesicht zu sehen!

Als Natascha nach sechs Monaten zum ersten Mal ihr Verlies für kurze Zeit verlassen darf, wird ihr schmerzlich bewusst, wie perfekt und praktisch unauffindbar das Versteck ist. Das fällt ihr schwer auf die Seele. Sie realisiert, dass sie auf äußere Befreiung nicht rechnen kann.

Vom ersten Tag der Entführung an lebt sie weiter auf das entscheidende Datum hin: ihren 18. Geburtstag. Um ihre Identität zu bewahren und zu stärken, versucht sie, ganz bewusst in der Zeit zu leben, sie putzt und pflegt und verschönert ihren »Kokon«. Sie begibt sich in Form von »Zeitreisen« in den Laden der Großmutter, baut sich an glücklichen Erinnerungen wieder auf, entdeckt ein inneres Reich, das ihr niemand nehmen kann. In diesem Reich erblüht für sie das Wunder der Sprache neu: »Es waren Worte, die mich damals retteten.« (S. 87)13 Sie verwebt Worte ineinander, schreibt sich selbst lange Briefe und kleine Geschichten, macht sich selber Mut:

»Nicht unterkriegen lassen, wenn er sagt, du bist zu blöd für alles.

Nicht unterkriegen lassen, wenn er dich schlägt.

Nichts drauf geben, wenn er sagt, du bist unfähig.

Nichts drauf geben, wenn er sagt, du kannst ohne ihn nicht leben.

Nicht reagieren, wenn er dir das Licht abdreht.« (S. 232)

In äußerster Abhängigkeit erringt sie sich eine bewundernswerte Unabhängigkeit und Widerstandskraft. Das Erstaunlichste aber in ihrem Verhalten ist, dass sie die Gefahr des Hasses von Anfang an durchschaut, nämlich, dass der Hass auch den Hassenden allmählich auffrisst und vernichtet. In einem Buch von Michel del Castillo (geb. 1933) findet sich ein weisheitsvoller Ratschlag an den Jungen Tanguy:

»Nein, Tanguy, du darfst nicht hassen! Der Hass ist eine traurige Krankheit. Weil du viel gelitten hast, musst du viel verstehen und alles verzeihen. Überlasse den Hass jenen, die zu schwach sind, um lieben zu können.«14

Anstatt Hass zu entwickeln, erwachen in ihr der Wille und die Kraft zu verzeihen. Sie versucht, den Täter als Menschen zu sehen, der nicht von Grund auf böse ist, sondern es erst im Laufe seines Lebens wird. Dies ist keine Relativierung oder gar Entschuldigung des Täters, aber es hilft Natascha, ihm zu verzeihen und dadurch sich selber immer wieder von den Misshandlungen zu befreien. »Ich habe ihm die Entführung verziehen und jedes einzelne Mal, wenn er mich schlug und misshandelte. Dieser Akt des Verzeihens gab mir Macht über das Erlebte zurück und ermöglichte mir, damit zu leben.« (S. 184)

Instinktiv spürt sie, dass sie sonst zugrunde gegangen wäre. »Ich wäre auf eine Weise ausgelöscht worden, die viel schwerer gewogen hätte als die Aufgabe meiner alten Identität, meiner Vergangenheit.« Durch das Verzeihen – nicht durch den Hass – kann sie sich innerlich befreien; das Böse, das ihr zugefügt wird, kann sie nicht mehr erniedrigen und zerstören.

Sie hat nicht sympathisiert und kooperiert, sie hat aus innerer Stärke hinter der Fassade der Unterdrückung und des Terrors den Menschen gesucht.

»Stärker sein.

Nicht aufgeben.

Niemals, niemals aufgeben.« (S. 232)

Wo ist die Quelle dieser inneren Stärke? Wir stehen vor einem großen Rätsel, ja vor einem Geheimnis, das Natascha Kampusch nur an wenigen Stellen andeutet: Sie lebt in einem inneren Dialog mit dem, was sie ihr »zweites Ich« nennt.

Ein Schlüssel zur inneren Biografie

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