Читать книгу MARKUS Evangelium - Günther Gerhard - Страница 17

Оглавление

10. Tag: 2,13-17

Die Berufung des Levi und das Mahl mit den Sündern

Jesus ging wieder hinaus an den See. Da kamen Scharen von Menschen zu ihm und er lehrte sie. Als er weiterging, sah er Levi, den Sohn des Alphäus, am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Da stand Levi auf und folgte ihm. Und als Jesus in seinem Haus beim Essen war, aßen viele Zöllner und Sünder zusammen mit ihm und seinen Jüngern; denn es folgten ihm schon viele. Als die Schriftgelehrten, die zur Partei der Pharisäer gehörten, sahen, dass er mit Zöllnern und Sündern aß, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann er zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? Jesus hörte es und sagte zu ihnen: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.

Die Szenerie der nächsten Erzählung ist eine andere, aber sie ist doch vergleichbar mit jener der vorangegangen: Jetzt erblicken wir Jesus nicht in einem überfüllten Haus, sondern draußen am Seeufer. Aber auch hier kommen wieder Scharen von Menschen zu ihm, und "er lehrte sie" (V. 13). Als Jesus dann weitergeht, sieht er einen gewissen Levi. Der ist Zöllner und sitzt an der Station, an der die Weggebühren eingehoben werden. Damals verlief unweit von Kafarnaum die Grenze zwischen Galiläa, das dem Herodes Antipas unterstand, und dem Landstrich Gaulanitis, den der Tetrarch Philippus beherrschte. Das Nebeneinander dieser (und weiterer) Kleinstaaten führte zu einer großen Belastung der Bevölkerung mit Steuern und Zollabgaben. Deren Eintreibung oblag – wie oft in der Antike – nicht einer staatlichen Behörde, sondern war privatwirtschaftlich organisiert, indem sie an reiche Unternehmer verpachtet war. Dass es dabei zu notorischer Korruption im Großen wie im Kleinen kam, verwundert wenig: Überhöhte Abgabenforderungen einerseits, Bestechlichkeit andererseits. Das Ansehen der im Zoll- und Steuerwesen Tätigen war in der Bevölkerung entsprechend schlecht, gleichgültig ob es sich um reiche Großpächter (wie Zachäus, vgl. Lk 19,2) handelte oder um die kleinen Inkassanten, wie Levi offensichtlich einer war: Sie galten vielen als Blutsauger, Diebe und Plage des Volkes.

Darüber hinaus lehnten im Altertum viele Juden die Zöllner auch in religiöser Hinsicht ab, weil die Abgabenpächter mit den jeweiligen Fremdherrschaften kollaborierten. So wurden sie als mitverantwortlich für die Unfreiheit und Unterdrückung des Bundesvolkes angesehen, das doch nur einen "Landesherrn" haben sollte: Gott. Die Zöllner wären also Sünder, weil sie die Allein-Gott-Zugehörigkeit Israels schwächen. Allerdings dürfte in unserer Erzählung dieser Aspekt keine zentrale Rolle spielen: Galiläa und die Gaulanitis standen zur Zeit des Auftretens Jesu unter der Herrschaft jüdischer Tetrarchen, nur Judäa und Jerusalem waren damals unter römischer Direktverwaltung. Trotzdem bleibt auffällig, dass in den Evangelien "Zöllner und Sünder" oft in einem Atemzug genannt sind.

Jesus spricht nun diesen Zöllner Levi an. Wir hören keinen Vorwurf, keine Ermahnung, sondern ein ebenso einladendes wie aufforderndes "Folge mir nach!" Und ähnlich wie bei der Berufung von Petrus und Andreas, Jakobus und Johannes (1,17-18.20) lässt der Evangelist darauf nur die lakonische Feststellung folgen: "Da stand Levi auf und folgte ihm" (V. 14). – Wir fragen uns, ob es denn wirklich sein kann, dass Menschen, die Jesus zum ersten Mal begegneten, dabei so spontan reagierten und ungeschützt Beruf und Lebensumstände verließen und "hinter ihm hergingen". (Genau dies nämlich bedeutet das hier verwendete griechische Zeitwort, akolouthé?, ganz wörtlich.) Doch unabhängig von allen Überlegungen, wie wir uns denn die damalige Begegnung historisch näherhin vorstellen können, steht das Zeugnis des Evangelisten: Wenn man Jesus begegnet, wenn man sich von ihm angeschaut und angesprochen erfährt, dann ist dies ein Ereignis, das ins Mark trifft und eine Entscheidung erfordert. Eine solche Begegnung ist aber auch das Ereignis, das die Entscheidung des Levi (und all der anderen) erst ermöglicht! – Nachfolge, damals wie heute, das ist: mit Jesus mitgehen; in seinem Windschatten nachgehen; sich von ihm die Wege zeigen lassen; mit seiner Art zu gehen, eigene Erfahrung sammeln; sein Jünger, seine Jüngerin werden; eine Weggemeinschaft beginnen, die nie mehr aufhören muss.

Der Evangelist lässt uns keine Zeit, beim Gedanken an "Nachfolge" zu verweilen, er schwenkt den Blick schon auf eine neue Szene: "Und als Jesus in seinem Haus beim Essen war, aßen viele Zöllner und Sünder zusammen mit ihm und seinen Jüngern" (V. 15a). Der Satz stellt einige Fragen: "in seinem Haus" – Levis oder Jesu Haus? Rein sprachlich wäre (im Urtext wie in der deutschen Übersetzung) beides möglich.

Die Einleitung der vorangehenden Perikope schien anzudeuten, dass Jesus damals in Kapharnaum gewohnt hatte (2,1: "[wieder] zu Hause"). Dies könnte dafür sprechen, dass es in jenem Haus war, wo Jesus wohnte, in dem das Festessen mit Levi und den anderen stattfand. Dann ergäbe sich eine schöne Gedankenfolge: Jesus, der die Verlorenen und Sünder beruft, lädt sie zu sich ein! Der erste Weg, den Levi in der Nachfolge Jesu geht, führt zum Freudenfest, das Jesus selbst ihm ausrichtet. – Dennoch erscheint es im Blick auf die ganze Erzählung wohl stimmiger, dass "in seinem Haus" jenes des Levi meint. Damit ist die Szene aber nicht weniger sprechend: Levi folgt jetzt Jesus nach. Und doch führte der erste Weg in sein eigenes Haus. Dort wird ein Fest gefeiert, um seine Familie, seine Kollegen und Freunde Teil haben zu lassen an der Freude, die er bei Jesus gefunden hatte. Jesus und die Jünger, die schon nachfolgen, sind dabei.

Und mit dabei sind auch die eigens genannten Sünder. Der kleine Nachsatz V. 15b ist in diesem Zusammenhang auffällig und verdient nähere Betrachtung: " … aßen viele Zöllner und Sünder zusammen mit ihm und seinen Jüngern; denn es folgten ihm schon viele". Im Blick auf die auffällige Formulierung des Urtexts könnte man dieser Übersetzung ein verdeutlichendes "von ihnen" (nämlich: den Zöllnern und Sündern) anfügen: Der Evangelist sagt ganz bewusst, dass Zöllner und Sünder nicht nur als einmalige Gäste an dem Festessen teilnahmen, sondern dass solche Menschen überhaupt einen auffälligen Bestandteil von Jesu Anhängerschaft bildeten.

"Sünder" als soziale Bezeichnung kennzeichnet im damaligen Sprachgebrauch Menschen, die sich um die religiöse Besonderheit Israels, das als Zeichen seiner Identität die Gebote der Tora befolgt, nicht kümmern. "Öffentliche Sünder" zeigen ihr Desinteresse an der Zugehörigkeit zum Bund mit Gott womöglich auch ganz ungeniert. Aber, wie immer wenn Menschen (privat oder öffentlich) andere beurteilen und verurteilen: Wer will schon wissen, was jeweils zuerst war: die soziale Ausgrenzung aus der "Gemeinde der Anständigen" oder eine wirklich eigene Entscheidung zu einem Leben als "Sünder"? Jesus, der Bote der Gottesherrschaft, zeigt nun überhaupt keine Berührungsangst mit solchen Menschen: Er spricht den Erlass von Sünden zu, er scheut die freundschaftliche Nähe mit "Sündern" nicht und in seiner öffentlich sichtbaren Nachfolgegemeinde befinden sich einige Menschen mit der Reputation als Sünder.

Dass es gegen ein solches Verhalten Widerspruch seitens frommer Menschen gab, verwundert wenig. Der Evangelist nennt in V. 16 wieder "Schriftgelehrte" und fügt hinzu, dass sie zur "Partei der Pharisäer" gehörten. Die Pharisäer waren eine Erneuerungsbewegung. Sie engagierten sich einerseits für die religiöse Bildung breiter Volksschichten und versuchten andererseits durch eine maßvolle Interpretation der Gottesgebote sicherzustellen, dass diese im Alltag auch lebbar waren. Ihr Ziel war es, dass Israel als Ganzes seine Identität als Bundesvolk Gottes auch wirklich umfassend und sichtbar lebt, indem alle die Tora-Gebote halten. In ihren Augen waren die "Sünder", denen die Tora gleichgültig ist, somit ein öffentlicher Schaden: Diese würden nämlich verhindern, dass Gottes Segnungen für sein Bundesvolk wirklich und erfahrbar werden. An Jesus nahmen viele Pharisäer vor allem deshalb Anstoß, weil er den "öffentlichen Sündern" gegenüber ein für sie unverständliches und skandalöses Verhalten an den Tag legte: Er sprach ihnen Sündenerlass zu und lud sie zur Gottesfreundschaft ein, und zwar ohne vorgängige Bedingungen, die sie kontrollierbar zu erfüllen hätten. Wir lesen nichts von Vorwürfen und Strafpredigten, nichts von auferlegten Bußübungen und nichts davon, dass er ihnen erst für den Fall einer nachhaltigen Besserung Hoffnung machte. Die Evangelien erzählen vielmehr, dass Jesus ihnen die vergebende und einladende Güte Gottes "einfach so", ungeschützt und bedingungslos zusprach und dass er sich gesandt wusste, durch ein demonstrativ freundschaftliches Verhalten mit ihnen die Sünderliebe Gottes sichtbar zu machen. Wie konnte Jesus so etwas tun? Zunächst einmal kann man vermuten, dass Jesus skeptisch war, wie weit die öffentliche Meinung über einen Menschen wirklich in das "Herz" dieses Menschen blicken kann. Aber in seinem Verhalten liegt sicher noch mehr. Vielleicht kann man es mit folgenden zwei Überlegungen erfassen:

a. Jesus ist von den Gedanken an die unendliche Größe Gottes und an die Souveränität seiner Liebe durchdrungen und deshalb weiß er: Wenn Gott sich den Menschen zuneigt, dann überwindet er von sich aus eine so große Distanz, dass alle Distanzunterschiede, auf die sich die "Frommen" gegenüber den "Sündern" etwas einbilden mögen, ihre Bedeutung verlieren, ja geradezu lächerlich werden. Gott ist unendlich reich an Güte und deshalb sind vor Gott alle Menschen gleichermaßen Empfangende. Wenn nun aber die Gerechten es ablehnen, Seite an Seite mit den Sündern von Gott beschenkt zu werden, dann schließen sie sich letztlich selbst aus: Gottes Gnade gegenüber kann man keine "wohlerworbenen Rechte" einfordern. Und Gott "hasst" es, wenn die Gerechten die Sünder vom Empfang seiner Gnade zurückdrängen und ausschließen wollen, weil sie diese Gnade angeblich nicht verdienten. Wenn somit Gottes erste Königshandlung eine umfassende "Amnestie" – der Erlass von Sünden – ist, dann kann es nicht sein, dass wir unsere alten Rechnungen – die eigenen Verdienste und die Schulden der anderen! – in sein Reich hinein mitnehmen und dort gegeneinander exekutieren wollen!

b. Jesus traute es Gottes Liebe zu, dass sie die Sünder wirklich ändert, dass sie unter der Erfahrung des Zutrauens Gottes wirklich ihr Leben neu ausrichten und andere Wege als bisher gehen. Das Leben als "Gerechter" ist für ihn keine Bedingung für die Annahme durch Gott, sondern eine Folge davon. Der Apostel Paulus wird diesen Aspekt der Gottesverkündigung Jesu tief verstehen und auf seine Art weiterdenken: Gott ist gerecht. Aber anders als menschliche Gerechtigkeit, die lediglich Schuld feststellen und abstrafen kann, ist Gottes Gerechtigkeit eine aktive: Sie macht gerecht. Und Jesus ist es, der für Paulus diese gerechtmachende Gerechtigkeit Gottes darstellt und vollzieht (Röm 3,26). Mit ihm zusammen werden wir unserer Berufung, Gottes geliebte Geschöpfe und Kinder zu sein, gerecht. An seiner Hand wird unser Leben recht. Deshalb: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Jesus ist gekommen die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.

JESUS, danke, daß du der Arzt der kranken Seelen bist!

MARKUS Evangelium

Подняться наверх