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Einleitung

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Eine Zeitreise in das 17. Jahrhundert erscheint uns auf den ersten Blick vielleicht nicht als ein besonders spannender Gedanke. Zu nahe fühlen wir uns – zumindest hier innerhalb Europas – den Menschen jener Zeit. Manche erinnern sich möglicherweise an Filme wie Die drei Musketiere, in denen die Figuren ausgiebig ihre Gewandtheit am Degen demonstrieren, aber sonst wie wir zu denken und zu fühlen scheinen. Andere werden vielleicht im Physik-Unterricht auf Isaac Newton (1643–1727) getroffen sein, den wir als Mitbegründer der neuzeitlichen Physik in Erinnerung haben. Aber gerade Newton würde uns sehr verwundern, wenn wir seine Vorstellungen über die Entstehung und das Alter der Erde hören könnten.

Unsere scheinbare Nähe zu den Menschen dieser Zeit löst sich rasch auf, wenn wir uns mit ihren Ansichten über Vergangenheit und Zukunft beschäftigen. Über die in der Bibel erwähnten Generationen von Königen, Propheten und Geschlechtern wurde versucht, das Alter der Welt zu rekonstruieren. Dabei ging es am Ende nicht um Jahrtausende oder gar Jahrmillionen, sondern um Jahrzehnte oder wenige Jahrhunderte: Populär war weit in das 17. Jahrhundert hinein die Berechnung des Bischofs Ussher, nach der der erste Tag der Schöpfung am Abend vor dem 23. Oktober 4004 v. Chr. begonnen haben soll.

Im Denken jener Zeit bestand der Unterschied zwischen Menschheits- und Erdgeschichte darin, dass die Erde sechs Tage vor dem Menschen erschaffen wurde. Aber auch der Blick in die Zukunft war ein völlig anderer: Bei uns im christlich bestimmten Europa bedeutete die Zukunft zugleich das Ende der Welt. Der Jüngste Tag wurde auch nicht in weiter, unbestimmter Ferne gesehen, sondern schon bald, vielleicht sogar noch zu Lebzeiten, erwartet. Die Vergangenheit und Zukunft der Erde und der Menschen konnte aus der lebensweltlichen Perspektive überblickt werden, das Zeitmaß waren Jahre und Jahrhunderte, oder noch anschaulicher, Generationen.

Die Menschen des 17. und vielfach noch des 18. Jahrhunderts konnten so auch keine Vorstellung von einer Entwicklungsgeschichte der Natur haben, keine Idee von einer Veränderung der Erdoberfläche, und noch weniger von einer natürlichen Entwicklung des Lebens oder der Entstehung der Arten. Die Zeit war einfach nur „Zeit“ in dem Sinn, dass sich in ihrem Verlauf nichts Wesentliches veränderte. Mit der Erschaffung der Welt begann die Uhr zu laufen, Geburt und Tod bestimmten den Takt, das eigene Ende wie das der Welt war stets in Sichtweite.1

Es gibt Autoren, die in vielleicht überspitzter Weise behaupten, der Mensch, wie wir ihn heute kennen, hat sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet.2 Das mag etwas kühn und übertrieben erscheinen, aber was Vorstellungen von Raum und Zeit angeht, scheint der Unterschied tatsächlich radikal zu sein.

Die Umgestaltung, die auch das Lebensgefühl des Menschen so nachhaltig verändert hat, hing eng mit der Entstehung einer Wissenschaft zusammen, die es zuvor so nicht gab: Es war die Geologie, die mit der Ausgestaltung eines zuvor nicht denkbaren prähistorischen Raumes erste Konturen annahm. Nach ersten, grundlegenden Schritten im 17. Jahrhundert begannen sich Diskussionen über das Alter der Erde, über die Bedeutung der Fossilien oder die mögliche Gefahr globaler Naturkatastrophen um die Mitte des 18. Jahrhunderts im Themenspektrum der Gelehrtenwelt wie intellektuell geprägter Abendgesellschaften auszubreiten.

Dieser spannende Abschnitt der jüngeren europäischen Kultur- und Menschheitsgeschichte war und ist Thema zahlreicher wissenschaftlicher Projekte. Manche Autoren haben diesen Wandel als „Verzeitlichung“ bezeichnet.3 Studien mit dem Titel „The dark abyss of time“ und andere Arbeiten schildern und analysieren diese erstaunliche Entwicklung, wobei die Titel gar nicht selten die in jenem Umbruch häufig gebrauchte Formel vom „Abgrund“ oder der „Tiefe der Zeit“ aufgreifen, den man in der Auseinandersetzung mit diesen kaum vorstellbaren Zeiträumen wahrzunehmen glaubte.4

Die vorliegende Darstellung richtet sich auch an jene, die über die Geologie hinaus an der Entwicklung der Wissenschaften und unseres modernen Denkens interessiert sind. Die zahlreichen Illustrationen dokumentieren nicht nur historisch bedeutende Geländesituationen, sondern auch Ansichten, die den Betrachter in sinnlicher Weise mit der Dynamik der Erde wie den damit verknüpften Zeitmaßstäben konfrontieren.

Der Blick in die Tiefe der Zeit ist nicht nur Ausdruck einer besonderen Phase der Kulturgeschichte, oder eine bemerkenswerte Leistung des menschlichen Verstandes. Dieser Blick ist nicht fest gezimmert und unverrückbar, sondern bedarf stets auch der Übung. Neue Fragestellungen zur Geschichte und Dynamik unserer Erde, wie sie infolge der raschen Entwicklung der Geowissenschaften wie der menschlichen Zivilisation ständig entstehen, fordern immer wieder zur Prüfung der erdgeschichtlichen Pers pektive heraus. Nicht immer ist diese scharf und eindeutig zu fassen, oft bleibt es eine Hypothese oder ein Gedankenexperiment – aber es ist ein Akt, der immer wieder versucht werden muss. Ohne eine solche Auseinandersetzung würden wir vermutlich bald wieder in ein Denken und Fühlen zurückfallen, das den Lauf der Dinge nur aus dem kurzen Ausschnitt unserer Gegenwart zu sehen vermag.

Die geologische Revolution

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