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Die Tiefe der Zeit – Siccar Point

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Wir fühlten uns unvermeidlich in die Zeit zurückversetzt, in der der Schiefer, auf dem wir standen, noch auf dem Grund des Meeres lag, und der Sandstein vor uns gerade erst in Form von Sand oder Schlamm aus dem darüber befindlichen Ozean zur Ablagerung kam.

Eine noch weit entferntere Epoche bot sich dar, in der selbst die ältesten dieser Gesteine, anstatt vertikal aufrecht zu stehen, in horizontalen Schichten auf dem Meeresboden lagerten, und noch nicht durch die unermesslichen Kräfte durcheinander gebracht waren, die das feste Pflaster unserer Erdkugel auseinander gerissen haben.

Ja selbst noch weiter entfernte Umwälzungen erschienen am Horizont dieser außergewöhnlichen Perspektive. So weit in den Abgrund der Zeit blickend, schien uns der Verstand schwindelig zu werden.5

Diese Erinnerungen des Edinburgher Mathematikprofessors John Playfair handeln von dem Besuch eines Felsvorsprungs an der schottischen Ostküste im Jahr 1788, dem Siccar Point, oder The Siccar. Playfair begleitete seinen älteren Freund, James Hutton, der ebenfalls der gelehrten Szene Edinburghs angehörte.

In jener Zeit gab es kein Studienfach „Geologie“ und somit auch keine Geologen, zumindest nicht im heutigen Sinn. James Hutton, der 1726 in Edinburgh geboren war, hatte ein Medizinstudium absolviert, aber niemals anhaltend als Arzt praktiziert. Sein Interessen waren vielfältig, und sie hatten einen gemeinsamen Grundzug: Er versuchte zu verstehen, wie die Dinge funktionieren, welche Prozesse und Abläufe ihr Erscheinungsbild, ihre Vergangenheit und Zukunft bestimmen. Wie arbeitet der menschliche Verstand, wie die Sprache? Wie kann man den Kreislauf von Saat und Ernte, wie den Ackerbau insgesamt optimieren?6

Aber trotz all dieser anderen Fragen galt sein bevorzugtes Engagement der Erde. Engagement war auch in ganz besonderer Weise nötig, denn Antworten auf diese geologischen Fragen ließen sich nur sehr eingeschränkt durch reines Nachdenken am Schreibtisch gewinnen. Neu an der Geologie waren nicht nur die Inhalte, die sie zur Diskussion brachte, sondern auch das methodologische Erfordernis, zum Studium dieser Fragen hinauszugehen und die Zeugnisse der Erdgeschichte vor Ort zu sichten, und sei es an den unzugänglichsten Stellen oder in den entferntesten Landschaften.

James Huttons Vorstellungen über die Erde waren anfangs tatsächlich mehr auf Überlegungen allgemeiner Art als auf systematische Beobachtungen gegründet. Erst nach der Veröffentlichung einer ersten, noch kurz und abstrakt wirkenden „Theorie der Erde“ (1785),7 hat er seine Reisen intensiviert und nach überzeugenden Belegen für sein Konzept gesucht. Seine Methodik ähnelte mehr der eines Physikers als eines traditionell vorgehenden Beobachters.

So hat er nicht versucht, zuerst umfangreiches Material zu sammeln, Beobachtungen festzuhalten oder Messungen vorzunehmen, um danach zu überlegen, was dies alles in Hinblick auf die Erde und die sie gestaltenden Prozesse möglicherweise bedeuten könnte. Hutton war ein Freund des Frage- und Antwort-Spiels. Er zog es vor, aus gründlichen Gedankengänge heraus Hypothesen zu entwickeln, für die er dann im Gelände nach möglichst eindeutigen Belegen suchte – so wie eine physikalische Hypothese durch ein entscheidendes Experiment, ein experimentum crucis, erhärtet, aber auch verworfen werden konnte.8

Der „Blick in die Tiefe der Zeit“ war im 18. Jahrhundert wahrscheinlich die aufregendste aller Perspektiven, die Verstand und Vorstellungskraft einzunehmen vermochten. Als James Hutton im Jahr 1788 mit seinen Freunden am Siccar Point anlegte, waren die Worte über den „Abgrund der Zeit“ allerdings schon auf dem Weg, ein gebräuchliches Sprachbild für die sich öffnende, scheinbar unendliche Dimension der Erdgeschichte zu werden.

Was diese Situation nun aber gegenüber anderen und früheren hervorhebt, ist die Anbindung an eine besonders prägnante Struktur, an einen Ausschnitt aus der Erdkruste, der in besonderer Weise die Abfolge unterschiedlicher Zustände belegt. Siccar Point war genau eine dieser Stellen, die Hutton im Sinne eines experimentum crucis zur Demonstration seiner geologischen Vorstellungen suchte, und die zu finden ihm – welch unkalkulierbares Glück! – auch tatsächlich vergönnt war.

Lässt man sich, wie Hutton und seine Freunde, auf die am Siccar Point aus den Strukturen heraus entwickelbare Logik ein, wird man über das greifbar vorliegende erdgeschichtliche Zeugnis hinausgeführt. Dieses steinerne Dokument erschließt nicht nur zuvor unzugängliche Dimensionen an Zeit und Wissen, an ihm lässt sich zugleich auch demonstrieren, was man nicht in Erfahrung bringen kann.

Jedes geologische Zeugnis ist nämlich selbst schon das Resultat eines Prozesse oder einer „Ursache“. Alles was wir sehen und greifen können, verweist auf etwas Vorangehendes, das selbst nicht mehr materiell greifbar, aber notwendig wirksam oder gegeben gewesen sein muss. Auch das älteste Zeugnis am Siccar Point, die steil gestellten – von Playfair als schistus/ Schiefer bezeichneten – Schichten, sind schon das Ergebnis vorausgehender Bedingungen und Prozesse: Hier belegen sie, dass auch zur Zeit der Ablagerung dieser Schichten in ihrer Umgebung bereits ein Festland existiert haben muss, das, wie auch alle heutigen Festländer, von Abtragung und Umlagerung des durch die Verwitterung gelockerten Gesteins betroffen gewesen sein muss.

Wenn man heute, mehr als 200 Jahre nach James Hutton, nach den ältesten Zeugnissen der Erdgeschichte fragt, dann trifft man – ganz in diesem Sinn – nicht auf einen ersten, voraussetzungslosen Urzustand. Man findet vielmehr ein Mineral, einen Zirkon, der auf Kristallisationsprozesse in einer frühen, selbst nicht mehr erhaltenen kontinentalen Kruste verweist.9

James Hutton hat diese Schwelle gesehen und erkannt, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, Anfänge oder Ursprünge zu finden, sondern nur Ergebnisse und Konsequenzen: Das Ergebnis unser gegenwärtigen Untersuchung ist daher, dass wir weder die Spur eines Anfangs, noch die Aussicht auf ein Ende finden.10

Dieser berühmte Satz wurde oft als Behauptung missdeutet, die Erde hätte keinen Anfang und kein Ende. Aber das hat James Hutton damit nicht gemeint. Ihm ging es darum deutlich zu machen: Es ist vergeblich, einen Anfang, oder auch ein Ende finden zu wollen, denn gleich in welche Richtung wir blicken, wir sehen nur die Kette von Ursachen und Wirkungen.

Die geologische Revolution

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