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Die Ära Brandt

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Von der Ära Brandt zu sprechen heißt zugleich, sie in die Kontinuität westdeutscher Außenbeziehungen einzubetten. Dabei geht es nicht darum, diese Epochenwende im Ost-West-Konflikt zu personalisieren. Es ist allzu offensichtlich, dass die Politik des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers in einem für ihn vorteilhaften internationalen und auch innenpolitischen Kontext zu sehen ist. „Schluss machen mit dem Kalten Krieg“ – diese Forderung war nicht nur in Frankreich zu hören.33 Der Vatikan etwa nahm den Dialog mit Moskau auf, als Papst Paul VI. im Januar 1967 Nicolai Podgorny, den Vorsitzenden des Obersten Sowjets, in Rom in Privataudienz empfing. Als Nachbarstaaten der Bundesrepublik praktizierten Dänemark und Österreich eine Politik der Annäherung an die Staaten des Warschauer Pakts. In Gesellschaft und Politik der Bundesrepublik waren vermehrt Rufe nach einer „neuen“ Ostpolitik zu vernehmen. Die Zeit sei gekommen, das „kalkulierte Risiko der Entspannung“ einzugehen.34

Die im Bundestag vertretenen politischen Parteien traten grundsätzlich für eine Ost-West-Entspannung ein, auch wenn ihre Positionen sich in Einzelfragen unterschieden. Am nächsten standen sich SPD und FDP, deren ostpolitisches Einverständnis eine wesentliche Grundlage für die Regierungsbildung Ende 1969 war. Dass Brandt gegen das Votum der größten Fraktion Bundeskanzler werden konnte, verdankte er den Stimmen der FDP, die bis 1982 in einer Koalition mit der SPD mitregierte. So gesehen, begann eher das sozial-liberale als das sozialdemokratische Jahrzehnt.35 Andererseits verkörperte in erster Linie Brandt die innen- und außenpolitische Aufbruchsstimmung, die mit dieser Regierung verbunden war. Dem FDP-Vorsitzenden Walter Scheel, Brandts Partner beim Regierungswechsel 1969, war dies durchaus bewusst. Als Bilanz ihrer Arbeit hielt er gegenüber Brandt fest, „dass wir gemeinsam eine Entwicklungsperiode in unserem Land beeinflusst haben, die Denken und Handeln veränderte“. Brandt aber sei es gewesen, der diese Periode „geprägt“ habe. Brandt war es auch, der sich in der SPD mit der Idee durchsetzte, ungeachtet einer äußerst knappen Mehrheit eine sozial-liberale Regierung zu bilden, statt – wozu Parteigrößen wie Helmut Schmidt oder Herbert Wehner neigten – die Große Koalition mit der CDU/CSU fortzusetzen. Schon wenige Monate später sprach Schmidt anlässlich der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages davon, dass in den Beziehungen zum „Osten“ eine „neue Ära“ begonnen habe.36 Mit sicherem Gespür für die historische Konstellation bewertete er die Ostpolitik als „Unternehmen“, das „im Erfolgsfall Willy Brandt (und damit unserer Partei) in der deutschen Nachkriegsgeschichte mindestens den gleichen Rang verschaffen wird wie Konrad Adenauer“.37 Adenauer war der Namensgeber für eine konstitutive Phase in der noch kurzen Geschichte der Bundesrepublik, und nun würde Brandt folgen.

Was in der zeitgenössischen Betrachtung noch als umstrittene und oft genug sogar entschieden bekämpfte Kursbestimmung mit unsicherem Ausgang erschien, muss im Rückblick als nachhaltig wirkender Ausgangspunkt für einen Aufbruch in der westdeutschen Außenpolitik und in den Ost-West-Beziehungen insgesamt gesehen werden, als Kernphase, in der sich historische Entwicklungen wie in einem „Knotenpunkt“ (Link) verdichteten und von der Impulse für die Zukunft ausgingen. Die Ära Brandt wurzelte in der Vergangenheit, angefangen mit der Politik der „kleinen Schritte“ in Berlin38 bis hin zur Ostpolitik der Regierung Kiesinger/Brandt, die aus den „Schützengräben des Kalten Kriegs“ herausführte.39 Und sie wies mit der Einhegung des Ost-West-Konflikts in die Zukunft. Von einer zentralen Arena im Kalten Krieg hatte sich Deutschland zu einem „Laboratorium neuer Möglichkeiten“ gewandelt.40 Der Kalte Krieg gehörte der Vergangenheit an. Die Ost-West-Entspannung sollte die bestehenden Konflikte nun schrittweise zivilisieren.

Den Auftakt zur Ära Brandt bildete eine Regierungserklärung, in der die Außenpolitik in Verbindung mit der Deutschlandpolitik nicht einmal den meisten Raum einnahm. Die großen Linien lagen fest. Doch darüber hinaus wollte Brandt die Politik seiner Regierung „im Zeichen der Erneuerung“ sehen. Dazu gehörte die von allen Parteien gewünschte „Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft“, aber auch eine Beschreibung der Lage, die laut Sitzungsprotokoll für „Unruhe“ bei der Opposition sorgte. Im Unterschied zu seinem Vorgänger scheute Brandt sich nicht, von „zwei Staaten in Deutschland“ zu sprechen. Darüber hinaus kündigte er „Verhandlungen“ mit der Sowjetunion und „Gespräche“ mit Polen an. Die „Verständigung mit dem Osten“ sollte durch einen wechselseitigen Gewaltverzicht und die Zusicherung „territorialer Integrität“ erreicht werden. Als Schlüsselbegriffe dienten Entspannung und Frieden. Frieden sei „im vollen Sinn dieses Wortes“ zu verstehen, also auch als Frieden „mit den Völkern des europäischen Ostens“. Frieden liege im „nationalen Interesse“, ebenso die Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis: „Unser nationales Interesse erlaubt es nicht, zwischen dem Westen und dem Osten zu stehen.“ Beiläufig, von internationalen Beobachtern allerdings nicht unbemerkt, kündigte Brandt eine neue Gangart an, eine „selbständigere deutsche Politik in einer aktiveren Partnerschaft“.41 Was er bei dieser Gelegenheit nicht ansprach, war das mit der Entspannungspolitik verknüpfte Kalkül. Der Akzent lag ganz und gar auf dem kurzfristigen Spannungsabbau durch die Hinnahme machtpolitischer Realitäten, während längerfristige Erwartungen an deren Wandel aus guten Gründen nicht zur Sprache kamen.

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