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Mut zum Status quo

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Laut Umfragen stieg die Akzeptanz der Oder-Neiße-Linie unter der bundesrepublikanischen Bevölkerung in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre von 22 auf 58 Prozent.24 Auch in den politischen Parteien wuchs die Zustimmung, die Helmut Schmidt treffend als „Realitätsbereitschaft“ bezeichnete.25 Der Freiburger Parteitag der FDP im Januar 1968 ließ diesen Trend ebenso erkennen wie der Parteitag der SPD im März 1968 in Nürnberg. Dort sprach Brandt nicht nur von der Realität des territorialen Status quo in Europa, sondern auch von einer „weiteren Realität“. Das deutsche Volk wolle die „Versöhnung gerade auch mit Polen“. Daraus ergebe sich „die Anerkennung beziehungsweise Respektierung der Oder-Neiße-Linie bis zur friedensvertraglichen Regelung“.26 Der „Eiertanz“ zwischen Anerkennung und Respektierung, wie Bahr es im Rückblick nannte, offenbarte die Schwierigkeiten im Umgang mit der Realität der Nachkriegsgrenzen. Brandts Formulierung suggerierte einen gewissen Spielraum für künftige deutsch-polnische Verhandlungen. Respektierung klang weniger verbindlich als Anerkennung. Brandt konnte aber nicht verhindern, dass ihm Teile der Öffentlichkeit vorhielten, eine Politik des Verzichts zu betreiben. Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion hatte Brandt den Konsens der Großen Koalition in Frage gestellt. Besonders heftig reagierte der Bund der Vertriebenen. Er protestierte gegen die „Kapitulation vor der brutalen Gewalt“ und warf der SPD „Wortbruch“ vor. An der Fundamentalopposition der Vertriebenenfunktionäre sollte sich nichts mehr ändern. Brandts „Freund“, Staatssekretär Duckwitz, wünschte sich vergeblich, die Parteien mögen dafür sorgen, dass die Veranstaltungen der Vertriebenenverbände „mit unserer Friedens- und Entspannungspolitik im Einklang“ stünden.27

Im Verhältnis zu Polen trug Brandts terminologische Uneindeutigkeit erst recht nicht zu einer Verständigung bei. Aus polnischer Sicht war der signalisierte Wille, bestehende Grenzverläufe nicht anzuzweifeln, zu diesem Zeitpunkt nur wenig wert, wenn damit ein Schwebezustand gemeint war, der erst mit dem noch ausstehenden Friedensvertrag beendet würde. Als Gomułka binnen Jahresfrist den Wunsch nach Verhandlungen äußerte, erwiderte er damit immerhin die kommunikative Geste, die in Brandts Erklärung enthalten war. In späteren Verhandlungen nahm die polnische Seite aber auch hin, dass eine uneingeschränkte Anerkennung der Oder-Neiße-Linie für die Bundesrepublik nicht in Frage kam. Dies sollte einem möglicherweise wiedervereinigten Deutschland vorbehalten bleiben. Anerkennung war ein Begriff, den Bonn in allen Vertragsverhandlungen grundsätzlich ablehnte, von den bilateralen Verhandlungen mit der Sowjetunion 1970 bis hin zu den 1973 beginnenden multilateralen KSZE-Verhandlungen. Indem es gelang, den Begriff Anerkennung zu vermeiden, blieb die Aussicht auf Wandel in der deutschen Frage bestehen.

Die Grenzproblematik war nur einer von drei Aspekten im Realitätsdiskurs der Bundesrepublik. Darüber hinaus war strittig, ob die DDR als zweiter deutscher Staat angesehen und das sowjetische Imperium in Europa als gegeben hingenommen werden sollte. Die Antworten hingen vom jeweiligen Blickwinkel ab. Oder man hörte, wie Brandt, auf, darüber zu streiten, „wie man Realitäten interpretiert“, und sah seine Aufgabe darin, „mit den Realitäten fertig zu werden“.28 Als Entspannungspolitiker wollte er einer als abstoßend empfundenen Realität nicht aus dem Weg gehen. Im Unterschied zu seinen innenpolitischen Gegnern empfand er dies jedoch nicht als Kapitulation, sondern – wie der Konstanzer Politikwissenschaftler Waldemar Besson schrieb – als „Mut zum Status quo“. Den brauche man, wolle man mit der Sowjetunion in Verhandlungen eintreten, um den Status quo langsam zu verändern. Brandt dachte ebenso, hatte aber als Politiker, der Wahlen gewinnen wollte, nicht die Freiheit des Wissenschaftlers. „Wir sind uns in unseren Überlegungen recht nahe“, ließ er Besson wissen. „Ich bezweifle nur, dass wir zu einigen prinzipiellen Durchbrüchen, die politisch ebenso wie theoretisch erforderlich wären, noch im Wahljahr kommen.“ Erst nach den Bundestagswahlen im September 1969 und der Bildung der sozial-liberalen Regierung konnten entsprechende Schritte erfolgen.29

Vorerst war es wichtig, weitere intellektuelle Schützenhilfe für das Konzept einer neuen Ostpolitik zu erhalten, wie sie zum wiederholten Mal auch Carl Friedrich von Weizsäcker leistete. In einer Unterredung mit Bahr im September 1968 kritisierte er die Halbherzigkeit der Großen Koalition und griff Überlegungen auf, die schon 1963 in Tutzing angestellt worden waren. Man solle in einem ersten Schritt die „sowjetische Grundforderung“ erfüllen und den „Status quo in Deutschland und in Europa“ akzeptieren. „Der einzige Weg, diesen Status quo auf die Dauer zu ändern, bestünde möglicherweise darin, ihn zunächst als gegeben hinzunehmen und damit eine neue Ausgangssituation zu schaffen.“30 Es bedurfte einer gedanklichen Anstrengung und politischer Fantasie, an Wandel zu glauben, wenn zunächst die Zwangs- und Gewaltverhältnisse des Status quo hingenommen werden sollten. Doch nur so konnte die Realität des geteilten Europa und der kommunistischen Diktaturen in einer neuen Perspektive erscheinen. Sie wurde nicht mehr als Hindernis angesehen, das es aus dem Weg zu räumen galt, bevor an Entspannung überhaupt zu denken war. Der Blick auf die Nachkriegsrealität konnte dann weniger vergangenheitslastig ausfallen. In dieser Deutung erlaubte Realitätsbereitschaft einen Blick in eine Zukunft, die allmählich aus dem Schatten des Zweiten Weltkriegs und des auf ihn folgenden Kalten Kriegs heraustreten würde.

Durch den Eisernen Vorhang

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