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Wandel durch Annäherung

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Wandel sollte das elektrisierende Stichwort werden, allerdings nicht im Anschluss an Brandts Ausführungen. Vielmehr machte es nach einer Einlassung Egon Bahrs die Runde, die als Diskussionsbeitrag deklariert war, aber auch offiziellen Charakter hatte, weil der in Tutzing verteilte Text den Briefkopf des von Bahr geleiteten West-Berliner Presse- und Informationsamtes trug. Er war mit „Wandel durch Annäherung“ überschrieben – eine griffigere Formel als Brandts „dynamische Transformation“ und zugleich eine Formel, die provozierte und ein gewaltiges Echo in Politik und Presse hervorrief. Was sollte mit Annäherung an die Sowjetunion oder die DDR gemeint sein? Sollte gar das Bekenntnis der SPD zur Westintegration relativiert werden, das Herbert Wehner mit großer Geste 1960 im Bundestag verkündet hatte? Wehner stand Bahrs Auftritt in Tutzing denn auch ablehnend gegenüber und soll von „barem Unsinn“ gesprochen haben. Doch konnte er nicht verhindern, dass Bahrs Formel richtungsweisend wurde: Annäherung bezeichnete die Methode der Kommunikation und Wandel das Ziel, das Brandt mit „Transformation der anderen Seite“ umschrieb.

Für Aufsehen sorgte Bahrs Absage an „bisherige Befreiungsvorstellungen“. Vielmehr gelte es, die „Interessen der anderen Seite“ wahrzunehmen. Damit stellte er die Realität der kommunistischen Herrschaft nicht in Frage. Zugleich wollte er der DDR ihre Existenzangst nehmen, die ihren deutlichsten Ausdruck im Bau der Mauer gefunden hatte. Man diene langfristig der „Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll“. Grenzüberschreitende Kommunikation war vorstellbar, wenn das Faktum der Grenze nicht angezweifelt wurde. Diese paradoxe Denkfigur gewann erst im Rückblick an Plausibilität. Als sie 1963 ausgesprochen wurde, hatte man noch keinerlei Erfahrung mit den Auswirkungen von Annäherung. Würde sie die Herrschaft der kommunistischen Regime stabilisieren? Oder das sowjetische Imperium verfestigen? Gar die deutsche Teilung irreversibel machen? Wer über Tutzing nur den Kopf schüttelte, glaubte die Antworten schon zu kennen. Aber auch Brandt und Bahr kannten die Antworten noch nicht. Nur eines zeichnete sich unübersehbar ab. Das Tandem Brandt/Bahr trat kräftig in die Pedale und machte sich auf den Weg zu einer neuen Ostpolitik.8

Als Brandt Ende 1966 von Berlin nach Bonn wechselte, um Außenminister in der Großen Koalition zu werden, war es keine Überraschung, dass er an seinem kommunikativen Ansatz festhielt. Für die zeitgenössische Diagnose des Ost-West-Konflikts war es von Belang, dass er nicht nur den „Dialog“ pries, der an die Stelle des „Duells zwischen Ost und West“ getreten sei, sondern darin ausdrücklich einen „Fortschritt gegenüber der Zeit des Kalten Kriegs“ sah.9 Den Beitrag der Bundesregierung erblickte er in der Pflege der „Kommunikation zwischen den unterschiedlichen politischen und sozialen Systemen“ und darin, „dass die Kommunikation nicht abreißt und dass die Vernunft nicht wieder von der doktrinären Starre des Kalten Kriegs überwuchert wird“.10 Auch und gerade während der Kanzlerschaft Brandts blieb Kommunikation ein handlungsleitender Schlüsselbegriff. Statt Positionspapiere vorzulegen, wie es „in Zeiten des Kalten Kriegs üblich“ war, wollte die Bundesregierung einen „breit angelegten Meinungsaustausch“ führen. Das Gespräch mit den Warschauer-Pakt-Staaten sollte helfen, die von Bahr auf der anderen Seite beobachtete „West-Fremdheit“ abzubauen.11 Tatsächlich glaubte er schon im Oktober 1970 eine „völlig veränderte Atmosphäre zwischen Bonn und Moskau“ konstatieren zu können. Er habe „Erfahrungen gesammelt, wie man miteinander reden kann. Was die Intensität, die Offenheit und die Ernsthaftigkeit angeht, war dies erstmalig seit dem Ende des Kriegs.“12

Kommunikationsbereitschaft war nur etwas wert, wenn sie erwidert wurde. Der stetige Ausbau der Kommunikation wurde so zum Gradmesser „für jeden wirklichen Fortschritt im Ost-West-Verhältnis“.13 Von den Staaten des Warschauer Pakts spielte Rumänien mit der Anbahnung von Beziehungen zum Westen eine Vorreiterrolle. Entscheidend aber war, wie sich die sowjetische Führung verhielt. Brandt sah sie im Zugzwang: „Die Sowjetunion wünscht ihrer eigenen Interessen wegen nicht nur Konfrontation, sondern auch Kommunikation.“14 Wenn Brandts Wahrnehmung der Sowjetunion nicht ins Leere laufen sollte, musste die UdSSR die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen und Anzeichen für den Abbau von Spannungen erkennen lassen. Dies gelang, indem beide Seiten sich auf zwei zentrale Prinzipien einigten: Respektierung des territorialen Status quo und Gewaltverzicht. Auf dieser Grundlage konnten die Bundesrepublik und die Sowjetunion ihre Kommunikation in einen Vertrag münden lassen, den sogenannten Moskauer Vertrag. Dort war von der „bestehenden wirklichen Lage“ in Europa die Rede, von der die Vertragspartner ausgehen wollten. Zugleich gingen sie die Verpflichtung ein, sich der „Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt zu enthalten“.15

Der letzte Vertrag mit der Sowjetunion lag 15 Jahre zurück. Bundeskanzler Adenauer war 1955 nach Moskau gereist und hatte mit der sowjetischen Führung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, sprich: den Beginn einer geregelten zwischenstaatlichen Kommunikation vereinbart. Inzwischen hatte sich nach mühsamen Anfängen viel getan. Als Bundeskanzler Brandt und Außenminister Scheel im August 1970 zur Vertragsunterzeichnung in die sowjetische Hauptstadt flogen, war die Bundesrepublik zum wichtigsten Gesprächspartner der Sowjetunion in Westeuropa geworden. Ratifizieren wollte die Bundesregierung den Vertrag erst, wenn ein befriedigendes Ergebnis der laufenden Vier-Mächte-Verhandlungen über Berlin vorlag. Damit wurde auch die Sowjetunion auf die Respektierung des Status quo verpflichtet. Die von ihr 1958 ausgelöste Berlinkrise durfte sich nicht wiederholen. West-Berlin war kein Teil der Bundesrepublik, aber die bestehenden Bindungen und der Zugang zur Stadt mussten endlich und ein für alle Mal vertraglich geregelt werden.

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