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Welche Gerechtigkeit ist dies nun? Denn hierüber müssen wir uns zuerst Klarheit verschaffen, damit, nachdem wir die Schönheit dieser Tugend ans Licht gestellt haben, in uns die Sehnsucht nach dem zur Erkenntnis gebrachten Liebreiz derselben erwache. Denn unmöglich können wir ein Verlangen nach uns Unbekanntem tragen, sondern Unbekanntem gegenüber verhält sich unsere Natur untätig und unbeweglich, wenn sie nicht zuvor durch Gehör oder Gesicht eine Vorstellung von dem betreffenden Gegenstand erlangt. Nun sagen einige, die über solche Dinge nachgeforscht haben, Gerechtigkeit bestehe in der Bereitwilligkeit, jedem das zuzuteilen, was billig ist und ihm gebührt. Wenn z. B. jemand die Vollmacht hat, Gelder zu verteilen, so nennt man ihn gerecht, falls er bei der Verteilung auf die Billigkeit schaut und die einzelnen Spenden nach dem Bedürfnis der Empfänger bemißt. Und wenn ein Richter nicht nach Gunst und Mißgunst seine Urteile fällt, sondern die Schuldigen straft und die Unschuldigen freispricht, und wenn er bei den übrigen Gerichtssachen seine Entscheidung nur auf Grund des wirklichen Sachverhaltes trifft, so nennt man ihn ebenfalls gerecht. Ferner wenn einer bei der Auferlegung von Steuern diese in voller Berücksichtigung der Steuerkraft der Untertanen festsetzt; desgleichen wenn der Herr eines Hauswesens, der Vorstand einer Stadt, ein König über ganze Völker die Untergebenen entsprechend ihren Verhältnissen leitet, indem er sich in seinem Machtgefühl nicht von unvernünftigen Beweggründen hinreißen läßt, sondern schlicht und ehrlich in seinem Bereiche waltet und in seinen Anordnungen den Wünschen der ihm Unterstellten entgegenkommt ― all das rechnen diejenigen zum Wesen der Gerechtigkeit, welche den Begriff derselben im Hinblick auf das vorgeführte Verhalten gegen Mitmenschen geben.

Wenn ich aber meinen Blick auf die hohe Warte der göttlichen Gesetzgebung richte, so komme ich zu der Annahme, daß unter der Gerechtigkeit, um die es sich hier handelt, noch etwas mehr als das Gesagte zu verstehen ist. Denn wenn das Wort des Heiles alle Menschen ohne Ausnahme in gleicher Weise im Auge hat, aber nicht alle in einem der erwähnten Stände leben, ― nur wenige ja können Herrscher, Vorstände, Richter sein oder die Vollmacht über Gelder oder sonst einen Gegenstand der Verwaltung bekommen; die Mehrzahl gehört vielmehr zu den Untergebenen und Regierten ― wie könnte man da annehmen, die wahre Gerechtigkeit wäre derartig, daß ihre Erlangung nicht allen ohne Ausnahme offenstünde? Denn wenn nach der Anschauung außerchristlicher Kreise der Gerechte die Ausgleichung sich zum Ziele setzt, der Vorrang aber auf Ungleichheit beruht, so kann man die gegebene Begriffsbestimmung der Gerechtigkeit nicht für richtig halten, weil sie schon durch die Ungleichheit im Leben widerlegt wird.

Essentielle Schriften, Band 2

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