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ОглавлениеUnser Ausspruch scheint uns etwa noch folgenden Gedanken in sich zu bergen. Keine Lust der Welt, welche der Mensch um ihrer selbst willen anstrebt, befriedigt ihn; vielmehr ist derartiges Luststreben nach dem Ausdruck der Weisheit (Sprichw. 27, 22) mit einem Faß ohne Boden zu vergleichen. In ein solches schöpfen jene, welche den Lüsten nachjagen; sie gehen ihnen mit unermüdlichem Eifer nach und bieten doch ganz vergeblich und zwecklos alle Kräfte auf, indem sie beständig in den Abgrund der Begierde gießen und außerdem noch all das, was der Lust Vorschub leisten könnte, hinzuschütten, ohne daß es ihnen gelingt, die Lust zur dauernden Sättigung und Befriedigung zu bringen. Denn wer hat je erlebt, daß die Gier nach Geld aufhörte, wenn die Habsüchtigen schon einen großen Reichtum erworben hatten? Wer ließ von seinem krankhaften Ehrgeiz ab, nachdem er sein Ziel erreicht hatte? Und wenn jemand seine Lust zu stillen gesucht hatte an Konzerten, an Schauspielen, an dem rasenden Wahnsinn der Völlerei oder an dem, was der Völlerei zu folgen pflegt, was war ihm schließlich von dem Genuß geblieben? Verfliegt nicht jede Art körperlicher Lust sofort mit ihrer Befriedigung, ohne auch nur ganz kurze Zeit bei denen zu verweilen, die nach ihr griffen? Wir empfangen also vom Herrn die erhabene Lehre, daß nur das Verlangen, welches auf die Tugend gerichtet ist, bleibenden Wert und wirklichen Inhalt besitzt. Denn wer eines der höheren Güter errungen hat, wie Enthaltsamkeit, Mäßigung, Ehrfurcht gegen Gott oder irgendeine der himmlischen Tugenden, die das Evangelium lehrt, empfindet bei jeder Tugendübung nicht bloß ein vorübergehendes, seichtes Vergnügen, sondern eine tiefgegründete, dauernde Freude, die sich auf die ganze Lebenszeit erstreckt. Warum? Weil man diese Tugenden immer betätigen kann, so gibt es keinen Augenblick im Leben, der Überdruß am Vollbringen des Guten einflößte. Denn die Mäßigung und Reinheit, die Beharrlichkeit im Guten und die Fernhaltung vom Bösen wird stets geübt, solange wir unseren Blick auf die Tugend richten, und die Freude, die sie gewährt, dauert so lange als das Tugendstreben.
Diejenigen aber, welche sich törichten Begierden ohne Einschränkung hingeben, können sich, wenn ihr Verlangen auch ununterbrochen auf zügelloses Genießen geht, doch nicht steter Freude rühmen. Denn dem Lustgefühl im Genuß von Speisen setzt die Sättigung ein Ziel; das Vergnügen am Trinken erlischt zugleich mit dem Durste; in ähnlicher Weise bedürfen auch die anderen sinnlichen Freuden von Zeit zu Zeit einer Unterbrechung, damit das Verlangen nach dem Genuß wiederkehre, wenn es durch die Sättigung abgestumpft ist7. Der Besitz der Tugend unterliegt aber für die, bei denen sie Wurzel gefaßt hat, keiner Zeitgrenze noch einer Unterbrechung infolge von Übersättigung, sondern er gewährt allen, die in ihm leben, einen ungetrübten, stets neuen und reichen Genuß all des Guten, das mit der Tugendübung verbunden ist. Darum stellt Gott, das ewige Wort, denen, die nach der Tugend hungern, Sättigung in Aussicht, eine Sättigung, die durch die Befriedigung erst recht entzündet, nicht abgestumpft wird.
Das also ist die Lehre dessen, der vom hohen Berge der Erkenntnis uns predigt. Darnach sollen wir unser Verlangen nicht auf Dinge richten, welche den nach ihnen Strebenden kein Ziel und Ende in Aussicht stellen, so daß ihr Bemühen so nichtig und töricht erscheint wie das derer, die dem Kopf ihres eigenen Schattens nachjagen: ihr Lauf gilt Unerreichbarem, weil der verfolgte Schatten stets mit gleicher Schnelligkeit dem Nachlaufenden entwischt. Dagegen sollen wir dorthin unser Verlangen richten, wo das Erstrebte als Eigentum allen Eifrigen zufällt. Denn wer nach der Tugend strebt, erwirbt das Gute als sicheren Besitz und kann das, was er erstrebt, in seinem eigenen Innern schauen. Selig ist also, wer nach Mäßigung hungert; er wird mit Befriedigung gesättigt werden. Diese Sättigung bewirkt aber, wie schon gesagt, keine Abnahme, sondern eine Steigerung des Verlangens, und das eine nimmt mit dem anderen in gleichem Verhältnis zu: auf die Begierde nach Tugend folgt die Besitzergreifung des Begehrten, und das erworbene Gut trägt unaufhörliche Freude in unsere Seele. Denn die Natur dieses Gutes bringt es mit sich, daß es uns nicht bloß im Augenblick des Genusses mit Süßigkeit erfüllt, sondern in jedem Teil der Zeit lebendige Freude zu gewähren imstande ist. Denn Freude weckt die Erinnerung an ein gerechtes Leben in allen, die es geführt haben, Freude auch die Gegenwart, wenn sie im Einklang mit der Tugend verbracht wird, Freude auch die Erwartung des Lohnes. Letzterer wird vor allem wiederum in der Tugend bestehen, die einerseits als das Werk der Braven erscheint, andererseits als der göttliche Lohn für das vollbrachte Gute.