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VII
ОглавлениеSoll ich aber noch ein etwas kühnes Wort wagen, so halte ich dafür, daß der Herr, wenn er von Tugend und Gerechtigkeit spricht, sich selbst seinen Jüngern als Gegenstand des Verlangens darbietet. Er ist uns ja Weisheit von Gott, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung geworden (1 Kor. 1, 30), aber auch das Brot, das vom Himmel kommt (Joh. 6, 41) und lebendiges Wasser (Joh. 4, 10). Darnach hat auch David gedürstet, wie er in seinem Psalm gesteht, in welchem er dies beseligende Gefühl seines Herzens Gott mit den Worten darbringt: „Meine Seele dürstet nach dem starken, lebendigen Gott; wann werde ich dahin kommen und vor dem Angesichte Gottes erscheinen?“ (Ps. 41, 2 [ber.: = Ps. 41, 3 Septuag. u. Vulgata] [hebr. = Ps. 42, 3]). Durch die Kraft des Heiligen Geistes wurde David, wie es scheint, im voraus in die vorgeführten, erhabenen Lehren des Herrn eingeweiht, und befähigt, auch die Erfüllung eines solchen Verlangens für sich selbst zu ahnen; denn er ruft aus: „Durch Gerechtigkeit werde ich vor deinem Angesichte erscheinen und mich sättigen am Anblicke deiner Herrlichkeit“ (Ps. 17, 15 [= hebr.] [Septuag. u. Vulgata = Ps. 16, 15]).
Die hier gemeinte Gerechtigkeit ist demnach die wahre Tugend, die Vollkommenheit, die keinen Makel aufweist, sondern alles Gute in sich schließt, Gott selbst, das Wort, jene Tugend, welche, wie Habakuk sagt (3, 3), die Himmel bedeckt. Und mit Recht werden die seliggepriesen, welche nach dieser Gerechtigkeit Gottes hungern. Denn wer nach dem Ausdruck des Psalmisten den Herrn gekostet (Ps. 33, 8 [ber.: = Ps. 33, 9 Septuag. u. Vulgata] [hebr. = Ps. 34, 9]), das heißt Gott in sich aufgenommen hat, wird von dem erfüllt, nach welchem er gehungert und gedürstet hat ― gemäß der Verheißung dessen, der da versprochen: „Ich und der Vater werden kommen und Wohnung bei ihm nehmen (Joh. 14, 22), während der Heilige Geist gewiß schon vorher in ihm Wohnung genommen hatte. Auch der große Paulus, der von den geheimnisvollen Früchten des Paradieses kosten durfte, ist einerseits von dem, was er genossen, schon gesättigt, andererseits empfindet er noch Hunger. Daß er nämlich von dem, welchen er ersehnt, gesättigt ist, spricht er in den Worten aus: „Christus lebt in mir“ (Gal. 2, 20); aber zugleich streckt er sich wie ein noch Hungernder nach dem aus, was vor ihm liegt, indem er erklärt: „Nicht als ob ich es bereits ergriffen hätte, oder als ob ich schon vollkommen wäre, sondern ich jage ihm nach, damit ich es auch ergriffe“ (Phil. 3, 12).
In unserer Darlegung wird es noch gestattet sein, etwas ausnahmsweise als Tatsache anzunehmen, was in der Natur niemals vorkommt. Wenn nämlich bei der leiblichen Speise nichts von dem, was wir uns zu unserer Ernährung zuführen, ausgeschieden, sondern alles zur Vermehrung der Körpergröße verwendet würde, so könnte der Körper bald zu einer gewaltigen Höhe emporwachsen, indem alsdann die tägliche Nahrung immer aufs neue die Größe vermehren würde. Tatsächlich aber macht die Gerechtigkeit und die mit ihr verbundene Tugendfülle, da sie vermöge ihres geistigen Charakters keine Ausscheidung des Genossenen kennt, jene, die sie zu sich nehmen, immer größer und größer, indem sie durch ihre Aufnahme unsere Seelengröße stets vermehrt.
Indem wir demnach den seliggepriesenen Hunger recht auffassen, wollen wir jeder Sättigung, die vom Bösen kommt, entsagen, und nur nach der Gerechtigkeit Gottes hungern, auf daß wir mit ihr gesättigt werden ― in Christus Jesus unserem Herrn, dem die Herrlichkeit sei von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.Fünfte Rede: „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“