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( 2 ) Heiner Müller
ОглавлениеAngemessener und weiterführend als irgendeine Kollisionstheorie scheint mir die Minimaldefinition der Tragödie, die Heiner Müller in seinem Brief an Mitko Gotscheff fast beiläufig mitteilt. In Bezug auf die Tragödie Philoktet von Sophokles, die Gotscheff in Sofia auf der Grundlage der Interlinearversion von Müller/Witzmann inszeniert hatte, bezeichnet Müller die tragische Fabel als „Stellplatz der Widersprüche“.1 Die Fabel gleicht demnach einem Platz, auf dem Widersprüche deponiert wurden. „Widersprüche“ steht im nicht näher definierten Plural und besagt: Da, auf diesem Platz, kommen sie ein Stück lang zusammen vor. Mehr nicht. Der Platz erinnert den Schauplatz, den öffentlichen Platz oder auch einfach eine Fläche, einen Ort, der dem gemeinsamen Erscheinen oder Verlautbaren von Widersprüchlichem Raum gibt. Das Wort vom Platz betont den Raum und damit die Kom-position oder Kon-stellation anstelle von Position oder Stellung, denen Gegenpositionen oder Gegenstellungen zugeordnet wären. Müllers Minimaldefinition trifft auch präzise auf den Einsatz des Aristoteles in Sachen Tragödie zu. Obwohl Aristoteles sicherlich nicht auf eine Definition, eine Theorie oder ein Modell der Tragödie hinauswollte und seine Poetik eher als Handbuch und Rehabilitierung der dramatischen Dichtung gegenüber dem Verdikt Platons aufzufassen ist, ist die Poetik immer wieder und zurecht für einen Begriff der Tragödie zu Rate gezogen worden. Auch hier sind die Missverständnisse Legion und sehr berühmt. Ich will mich daher beschränken und im Folgenden nur zeigen, inwiefern die Herstellung einer guten Tragödie, wie sich mit Aristoteles sagen ließe, auf zwei Schritten beruht, von denen in der Regel nur jener zweite rezipiert wurde, der die Fabel betrifft und der in der Lehre von den sogenannten „drei Einheiten“ einen traurigen Nachruhm erlebte. (Lodovido Castelvetro heißt die Kanaille und seine Schrift von 1570 trägt den Titel La Poetica d‘Aristotele vulgarizzata, et sposta per Lodouico Casteluetro.)