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Flucht, Fremdheit und Asyl bei Einar Schleef

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Schleefs Produktion Mütter, aufgeführt im Februar 1986 am Schauspiel Frankfurt, verknüpfte die Stücke Sieben gegen Theben von Aischylos und Die Bittflehenden von Euripides. Die Montage der beiden Tragödientexte umfasste den Krieg gegen Theben und den anschließenden Kampf der Mütter um die Leichen ihrer in der Schlacht gefallenen Söhne. Die Inszenierung arbeitete, modellhaft für alle weiteren Schleef-Produktionen, an der Konfrontation von einzelnem Schauspieler und Chor bzw. Chorgruppen, durch ein rhythmisches Sprechen, das eine spezifische Gewalt der Darstellung im Konflikt der Stimmen vorführte. Die Aggression, der sich die Zuschauer ausgesetzt sahen, wirkte nicht mehr nur als theatrales Zeichen, sondern mit der Intensität einer körperlichen Erfahrung, wie auch die extremen, gespaltenen Reaktionen des Publikums zeigten. Die Aufführung demonstrierte jedenfalls, dass die Rahmenbedingungen von Raum, Zeit und Chor, die das antike Theater der Tragödie etabliert hat, am ehesten noch mit einer experimentellen Theaterarbeit zu realisieren sind, die ihre ästhetischen Entscheidungen zugleich als politische begreift und auch die Zuschauer zur Auseinandersetzung mit ihrer gewohnten „Rolle“ bringt.1

Wichtig für die Bedeutung des Chors in Schleefs Arbeit sind seine wiederholten Hinweise auf ihren gesellschaftlichen Kontext. Gegenüber dem Kritiker, der ihm – noch ohne eine Aufführung gesehen zu haben – sein angebliches „Nazi-Theater“ vorwarf, beschrieb er als Impuls für die Tempelbesetzung durch die sieben Mütter in der Tragödien-Inszenierung von 1986 „eine Frauendemo, die sich in Westberlin über eine Peepshow hermacht“,2 und ähnliche eigene Erfahrungen mit einem prekären Leben als Republikflüchtling aus dem Osten in der BRD:

Meine ausgeprägte Chor-Form ist keine Abreaktion einer DDR-Vergangenheit, keine Imitation von Marschkolonnen, Kriegsspielen und Appellen, sondern eine Formulierung der Vorgänge im Westen, meine Antwort auf Polizeiaktionen, Überfälle, Plünderungen, Demonstrationen, Menschenansammlungen, denen ich ausgesetzt bin. Sicher begegne ich diesen Vorgängen nach meiner Flucht, mit noch unsicherem Stand im Westen, wesentlich empfindlicher als andere.3

Gegen den klischeehaften Vorwurf, die Arbeit mit Chören sei bloß ein Reflex auf das Leben im Sozialismus, hält Schleef hier bewusst seine aktuellen Eindrücke vom Leben im Westen. Seine künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen wurde allerdings von der Mehrzahl seiner Kritiker ebenso wenig toleriert wie die Entwicklung des neuen Chortheaters. Dessen Einsatzpunkte hat er in dem von biographischen Fragmenten durchsetzten theoretischen Essay Droge Faust Parsifal reflektiert. Dabei folgerte er die Notwendigkeit einer Korrektur der theaterpraktischen Mittel auch aus einer verbreiteten Diskreditierung von Pathos, die aber mindestens so reaktionär sei wie die Pathos-Behauptung, gegen die sie sich wandte.4 Der Konflikt zwischen den Normen der Feuilletons, die dem damaligen Regietheater entsprachen, und den radikalen Setzungen von Schleefs Chorarbeiten dauerte bis in die 1990er Jahre, obwohl einige dieser Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden und ihr jeweiliges Publikum anhaltend begeistern konnten.

Schon im ersten Chorprojekt Mütter gibt es einige Anhaltspunkte für Schleefs Interesse am Thema Asyl. Die mythische Vorgeschichte der Könige von Theben enthält viele Episoden, die von der Vertreibung Verwandter und von der Aufnahme Fremder, vom schlimmen Frevel einer gebrochenen Gastfreundschaft und von den darauffolgenden göttlichen Strafen zeugen. So wird Laios, weil er den Sohn seines Gastgebers entführt, verflucht, durch seinen eigenen Sohn zu sterben. Dieser Sohn ist Ödipus, der in der Fremde als Flüchtling überlebt und bei seiner Rückkehr ohne es zu wissen seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet. Ihre Kinder sind Antigone, Ismene, Eteokles und Polyneikes. Ödipus stirbt im Exil, seine Söhne entzweien sich im Streit um die Herrschaft. Der aus der Stadt vertriebene Polyneikes holt Hilfe in Argos und führt den Krieg der Sieben gegen Theben. Unter den Angreifern ist der aus Arkadien stammende, nach Argos übersiedelte Parthenopaios. Schleef und Hans Ulrich Müller-Schwefe haben in ihrer Version von Aischylos’ Stück diesen mitwohnenden Fremden (Metoikos) als „Asylanten“ bezeichnet. „Der Ausländer bezahlt für sein Asyl“, heißt es bei der Aufzählung der gegeneinander stehenden Krieger.5

In der Schlacht fallen alle sieben Anführer, Eteokles und Polyneikes töten sich gegenseitig. Antigone will letzteren gegen das Gesetz des neuen Herrschers Kreon bestatten, wird dafür zum Tod verurteilt und bringt sich selbst um. Das zweite Stück des Mütter-Projekts, die Bittflehenden des Euripides, bringt die Fortsetzung dieses Konflikts: Die Mütter der gefallenen Angreifer bitten als Fremde in Athen den König Theseus, ihnen zu helfen und die Stadt Theben zu zwingen, die Leichen ihrer Söhne herauszugeben. Um den heiligen Ritus der Totenbestattung (ähnlich wie Antigone) durchzusetzen, zieht Theseus, nachdem er zuvor seine Volksversammlung befragt hat, schließlich in den Krieg. Er siegt in der Schlacht, lässt Theben aber unangetastet. Am Ende fordert die Göttin Athene, dass die Söhne der Gefallenen ihre Väter in einem erneuten Krieg gegen Theben rächen sollen. Schleef und Müller-Schwefe haben dieses Stück an den Anfang des Abends gestellt, um den Kreislauf der Rache zu veranschaulichen.6 Das Projekt führte außerdem vor, dass es im 5. Jh. v. Chr. noch eine Entsprechung zwischen verschiedenen, an fremden Altären erflehten Formen der Hilfeleistung gab, sei es zur eigenen Rettung, sei es zur Durchsetzung religiöser Forderungen. Auch Euripides’ Tragödie trägt den Titel Hiketiden, was eine dementsprechend breite Bedeutung von Hikesie als „Schutzflehen“ bereits nahelegt.

Ein halbes Jahr nach der Mütter-Premiere, datiert auf September/Oktober 1986, entstand Schleefs großes Gemälde mit dem Titel Die Asylanten, das mit ins Bild integrierten Notizen rund 100 Jahre deutscher Geschichte von 1889 (als Hauptmanns Stück Vor Sonnenaufgang erschien)7 bis 1986 umfasst. Es zeigt Theaterpublikum (räumlich angeordnet um einen Mittelsteg wie bei der Mütter-Inszenierung) vor einem hellblau leuchtenden Bühnenraum, außerdem große Gruppen von Asylanten in Mänteln mit Reisekoffern. In Kohorten aufgereiht marschieren sie – hinter einer einsamen Gestalt mit Wanderstab – in Richtung der im Vordergrund angehäuften Grabkreuze, dazwischen ein Kind mit Stahlhelm über dem Kopf und einer Flasche „Krimsekt“ in der Hand. Daneben ist zu lesen: „DDR-Kind grüßt seinen Vater, der Vater mit Frau und Mutter am Arm, der Sohn hat seinen Stahlhelm auf. Der Vater, Opa, fotografiert seine Familie. 22. Sept. 86 DDR I“, darunter noch eine weitere Zeile: „Die Saat ist aufgegangen, 6.4.1937 über Loth.“8

Zu den unausgeführten Inszenierungsprojekten, die Schleef zum Teil noch begonnen hatte, zählt – schon seit der Arbeit an dem früheren Hikesie-Stück – auch seine Auseinandersetzung mit Aischylos’ Hiketiden. Was diesen Ansatz, sofern er sich aus Archivdokumenten rekonstruieren lässt, von den neueren Inszenierungen der Tragödie durch andere Regisseure unterscheidet, ist der von seiner persönlichen Wahrnehmung innerdeutscher Fremdheitskonflikte geschärfte Blick. So hat Schleef sich immer wieder auf die Themen Flucht, Asyl und Fremdheit bezogen. Selbst als Republikflüchtling bereits seit 1976 im Westen Deutschlands, war er 1989 ein seismographisch genauer Beobachter der „Wende“, bei der plötzlich „der ganze Ostblock“ Berlin zu besuchen schien: „[…] anderssprechende Menschen aus Bussen oder LKWs. Die Tragödie war ihnen ins Gesicht gemeißelt, wie sie feindselig guckten und rafften.“9 Das Wort Tragödie zielt hier auf eine Erfahrung, die später auch viele Bürger der DDR machten, die sich in der BRD als Fremde im eigenen Land fühlten und anderen Geflüchteten nur noch mit Hass begegnen konnten. Andererseits wird deutlich, wie eng Schleefs Auffassung von Tragödie mit Erfahrungen von Fremdheit verknüpft ist. Diese Zusammenhänge prägen auch seine Tagebücher (von 1953 bis 2001) und die Erzählung Heimkehr, die seine frühesten Kindheitserinnerungen schildert, als die Familie in Sangerhausen (Thüringen) in ein von ihrem Vater neu gebautes Haus übersiedelte und dort gleich Flüchtlinge einquartiert bekam. Bei seiner späten Rückkehr an diesen Ort seiner Kindheit und Jugend nach 14 Jahren Abwesenheit wird Schleef von seiner stark verwahrlosten und verbitterten Mutter angeschrien: „wie du aussiehst […] ich habe nicht nach dir gerufen, was willst du hier“.10

Das für Schleef bestimmende, traumatische Thema einer andauernden Heimatlosigkeit wird aber auch in seinen Tagebüchern nicht nur durch eigene Erlebnisse veranschaulicht, sondern gleichzeitig in seiner politischen und historischen Dimension betrachtet. Exemplarisch dafür skizziert der Eintrag „Sprache – Sprachwende“ vom 6.3. 2001, der unter anderem auf Florian Havemanns Formulierung „Nur Flüchtlinge sind Deutsche!“ verweist,11 die besondere Situation eines schon lange vor dem Fall der Mauer in die BRD übergesiedelten Republikflüchtigen:

Die Hybris, aus der DDR zu sein, aber noch den Westen im Ende seiner Glanzzeit erlebt zu haben, ist ein Besitz, den man in der DDR Verbliebenen voraus hat. Wie aus Übermut parliert man in der einen oder in der anderen Sprache, man hantiert geschickt beide Heimaten, wirft die eine gegen die andere, im Wissen, daß man, geht man nach Hause, kein Zuhause mehr hat.12

Die Kehrseite dieser Kenntnis beider Sprachen ist der Verlust der „eigenen“ Stimme – die Insistenz der „Frage, wer spricht in mir“ und die Erfahrung, dass sich eigentlich überwunden geglaubte, der DDR oder auch der Nazi-Diktatur angehörige Begriffe in das eigene Sprechen hineindrängen.13 Zu der schon von Victor Klemperer zunächst im Rahmen seiner Tagebücher analysierten Eigendynamik von Sprachformeln der Diktatur14 kommt bei Schleef die Erfahrung einer von der Geschichte der beiden deutschen Staaten und von deren gemeinsamer Vorgeschichte im „Dritten Reich“ geprägten Spaltung der persönlichen Identität. Wie in Schleefs Roman Gertrud über seine Mutter ist auch im Durcharbeiten der eigenen Biographie der Faschismus immer wieder präsent. Allerdings, wie schon bei seinen Theaterarbeiten, nicht etwa durch unbewusste oder gar affirmative Wiederholung, eher als Teil einer Selbstanalyse, die zugleich die gesellschaftlichen Befindlichkeiten des vereinigten Deutschlands betrifft. Eben darin liegt, fast zwei Jahrzehnte später, die Aktualität von Schleefs Versuch, am Material eigener Erfahrungen das Thema Asyl zu konkretisieren.

Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart

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