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( 1 ) Hegel

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Auf Hegel, der Sophokles’ Antigone bekanntlich als vollkommenste Tragödie schätzte, geht die Auffassung zurück, dass die Tragödie wesentlich auf der Kollision zweier Positionen beruht, die beide, für sich genommen, gleiche Berechtigung haben. Aufgrund ihres Gegensatzes kann sich jeweils eine Macht, die Hegel wahlweise auch Charakter oder Individuum nennt, jedoch nur als „Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht“ durchsetzen und gerät deshalb „in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld“.1 Es geht also um einen symmetrischen Konflikt entgegengesetzter, jedoch gleichberechtigter Kräfte. Gelöst werden kann ein solcher Konflikt nicht. Dennoch muss er, wie Hegel sagt, „in dem für sich abgeschlossenen Werk [seine] Erledigung finden“,2 welche naturgemäß in eine „Endkatastrophe“3 mündet.

Im Fall von Antigone sieht diese Sache dann für ihn so aus: Antigone steht bei Hegel bekanntlich für das Prinzip der Familie und der Blutsverwandtschaft. Kreon hingegen steht für die staatliche Ordnung der Polis ein und für die „sittliche Welt“ ihrer Normen, die den Sozialkörper Polis kulturell lebensfähig machen sollen. Die Aporien dieser holzschnittartigen Konstruktion kollidierender Kräfte sind von vielen, zuletzt ausführlich von Judith Butler 2001 diskutiert worden. Ich fasse hier kurz zusammen. Mit der strengen Konfrontation von Blutsverwandtschaft versus Staatsraison wird das Prinzip der Verwandtschaft vom Bereich des Sozialen abgetrennt. Das Verwandtschaftsprinzip wird als Modus der Herstellung und Stiftung sozialer Beziehungen ausgeblendet. Unter dem Aspekt des Blutes wird es reduziert auf die Abstammung (Herkunft) oder die leibhafte Hervorbringung von Nachkommen und deren Aufzucht. Hegel, der nicht nur in der Ästhetik auf Antigone zu sprechen kommt, sondern auch in der Phänomenologie des Geistes und in seiner Philosophie des Rechts, fasst apodiktisch zusammen, dass Antigone für die Gesetze des Hauses stehe, während Kreon für die des Staates stehe. Erstere haben in der sittlichen Ordnung des Gemeinwesens keinen Platz, denn das Haus würde nur die „Einzelheit erhalten“ wollen, welche im Sinne einer ethischen, allgemeinen Ordnung jedoch unterdrückt werden müsse. „Das Gemeinwesen kann sich […] nur durch Unterdrückung dieses Geistes der Einzelheit erhalten“,4 heißt es. Da ein Gemeinwesen jedoch nun mal selbst keine Kinder zeugen kann, bleibe es vom „Geist der Einzelheit“ abhängig und stimuliere diesen fortwährend. Namentlich die Weiblichkeit als Vertreterin der Individualität und der Gesetze des Hauses bilde daher die berühmte „ewige Ironie des Gemeinwesens“. Der Gegensatz von Individuum und Staatsgesetz ist, so Hegel, „der höchste sittliche und darum der höchste tragische“ Gegensatz und dieser Gegensatz sei, jetzt setzt er noch eins drauf, „in der Weiblichkeit und Männlichkeit daselbst individualisiert“.5

Es fällt schon sehr schwer, in dieser systemtheoretischen Zuspitzung das Stück von Sophokles wiederzuerkennen. Hegel befasst sich zwar mit Antigones Tat, aber nicht mit ihrer Rede.6 Er stilisiert sie zu einer Repräsentationsfigur von Gesetzen, gleich Kreon. Aber schon an dieser Stelle bricht die Symmetrie ab, die Hegel zufolge die jeweilige „Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht“ verursache und damit das Herzstück der tragischen Kollision bilde. Bei Sophokles sind die Gesetze nicht gleich. Dies ist der Gegenstand von Antigones Rede vor Kreon: Dessen „Gesetz“ (V. 452) einerseits und „Gottgebote“ (V. 454) andererseits wiegen unterschiedlich viel. Ungleich schwerer wiegen für Antigone die ungeschriebenen, ewigen, göttlichen Gesetze, von denen man im Text kein weiteres Wort erfahren wird, da dieser Gesetzestypus als Nomos über keine schriftliche Gestalt verfügt. Also dehnt sich die Asymmetrie hier über das jeweilige Gewicht auch auf die Gestalt der Gesetze aus, die mit den Sphären von Schriftlichkeit und Vorschriftlichkeit korrespondiert. Dabei tauchen die namenlosen, alterslosen Gesetze Antigones stets im Plural auf, während Kreon das Gesetzt der Polis nicht nur im Singular, sondern darüber hinaus auch noch als „mein Gesetz“ (V. 449) bezeichnet. Doch dies nur am Rande.

Anstelle eines irgendwie kräftesymmetrisch geschürzten Konflikts ist also eher einer aufdringlichen Asymmetrie nachzugehen. Verstärkt wird dieser Aspekt noch dadurch, dass die im 7. und 8. Jhd. entstandenen Epen, die zusammengefasst als Thebanischer Zyklus bezeichnet werden, keine eigene Episode von Antigone in Theben aufweisen, während die Kriege um Theben von Eteokles und Polyneikes sowie den Epigonen breite Schilderungen erfahren. Antigone, wie wir sie aus dem gleichnamigen Stück kennen, verdankt sich also im Wesentlichen einer Sophokleischen Erfindung. Ebenfalls wichtig ist, dass es sich bei Antigone (442 v. Chr.) um eines der frühesten (erhaltenen) Stücke von Sophokles handelt und er der Figur Antigone noch einmal knapp vierzig Jahre später in seinem letzten Stück Ödipus auf Kolonos (UA 401 posthum) breiten Raum schenkt. Das ist von besonderer Bedeutung, weil Antigone nicht nur verwandtschaftlich/familiär zu begreifen ist (Tochter des Ödipus, Schwester von Polyneikes), sondern zu einem eigenen Figurentypus gehört, der Figur des jungen Mädchens. Diese paradigmatische Figur ist durch das Merkmal definiert, einerseits geschlechtsreif zu sein, andererseits aber nicht verheiratet.

Hierzu nur ein paar Streiflichter: Vor Antigone ist die Figur des jungen Mädchens relevant für zahlreiche Mädchenchöre von Aischylos, bei dem Sophokles nach eigener Aussage das Dichterhandwerk erlernt hat. Man denke an die Okeaniden, die Töchter des Ozeans, die zu Prometheus ins Gebirge fliegen, ihm beistehen. An die Danaiden, die vor der Zwangsverheiratung mit ihren ägyptischen Vettern nach Argos fliehen und dort frei und wortgewaltig selbst die Verhandlungen zu ihrer Aufnahme in die Polis führen – so wie auch Antigone frei und wortgewaltig ihr Nein gegenüber Kreon verteidigt. Die jungen Mädchen erinnern sich ihrer mütterlichen Vorfahren, sie erinnern Artemis und die aus dem Meeresschaum geborene Aphrodite, sie stellen ihre eigene Heirat hintenan oder sagen ein „heiliges Nein zur Ehe“ wie die Danaiden. Sie sind 16 Jahre alt. Sie treten (wie Antigone) eher für das geborene, schon vorhandene Leben ein als für ein zukünftiges, das noch gar nicht existiert. Sie klagen um ihre Lieben, sie begraben ihren Bruder, sie klagen den Missbrauch an, den sie im Fall einer Niederlage ihrer Stadt fürchten, so jedenfalls der Chor der jungen Frauen in Sieben gegen Theben bei Aischylos. Alle diese Chöre tragen Merkmale der Mänaden, der Anhängerinnen des Dionysos, die Euripides in Die Bakchen zur Hauptsache gemacht hat, und sie stehen definitiv nicht auf Seiten der Polis-Gründung. Mit ihnen muss der Chor in der Tragödie, wie Sebastian Kirsch formuliert, als ein Ort verstanden werden, „an dem sich im Herzen der Polis selbst die Bezugnahme auf dieses Außen artikuliert“,7 vor dem sich die Polis im Übergang vom 6. zum 5. Jhd. zu verschließen sucht. Junge Mädchen bilden eine Übergangsfigur par excellence. Sie nehmen temporär Aufenthalt, wollen aber kein Haus, keinen Verein, kein Familienwerk, kein Sein, keine Macht. Ihr so schwer fasslicher Chor hat einfach keinen gemeinsamen Nenner. Wohl deshalb setzt schon so bald die Geschichte seiner Verdrängung ein. Einar Schleef zufolge geht die Chor-Verdrängung mit einer Verdrängung der Frau aus dem tragischen Konflikt einher. Vollständig vollzogen wurde diese Verdrängung jedoch erst, so Schleef, bei den deutschen Klassikern,8 also in jenem Zeitraum, in dem Hegel seine Philosophieprofessur in Jena antrat.

Sophokles extrahiert aus diesem Universum oszillierender Vögel-Mädchen-Chöre die Figur der Antigone, deren Einsamkeit sich im Verlauf des Stückes, so könnte man sagen, vollendet. Wird Antigone als Figuration des jungen Mädchens aufgefasst, so ändert das etwas für den Begriff der Tragödie. Eingedenk der in den beiden Figuren Antigone und Kreon9 gebannten gewaltigen Asymmetrien, die sich (wie die Asymmetrie von Chor und ProtagonistIn) auf verschiedene Zeitalter beziehen, muss m.E. die Kollisionstheorie fallen gelassen werden. Antigone und Kreon kollidieren nicht. Sie gehören zwei verschiedenen Zeiten an und zwei verschiedenen Welten. Sie sind zusammengestellt worden und vollenden wie Monolithen ihre Bahnen der Einsamkeit oder des Herrscherstarrsinns. Sie hören und sehen sich, aber sie haben nicht die Kraft, sich gegenseitig zu beeinflussen. Die Zeiten, denen sie zugehören, sind nicht einfach solche, in denen sich das Heute vom Gestern trennt, sondern Zeitalter, die sich ums Ganze unterscheiden. Antigone sagt von ihren Gottgeboten explizit: „Sie stammen nicht von heute oder gestern, / Sie leben immer, keiner weiß, seit wann“ (V. 456-457).

Auch Hegel hat diesen Vers gelesen und zitiert ihn, wenn er vom „ewigen Gesetz“ spricht, „von dem niemand weiß, von wannen es erschien“.10 Hegel zitiert Antigone, aber er übergeht sie in der Folge. Er übergeht damit auch das Sprachhandeln und die Buchstäblichkeit des Stückes. Eine Erläuterung, was dieses ewige Gesetz sei, muss im Fall vorschriftlicher Kunde ausfallen. Es lässt sich nicht sagen. Dennoch aber steht Antigone für diese Kunde ein und spricht. Hegel interessiert sich nicht für diesen Widerspruch. Aus seiner universellen Perspektive hält er am Kollisionskurs zweier unvereinbarer Gesetze fest, zwischen denen Feindschaft herrscht, obwohl das eine Gesetz, das sich nicht sagen lässt, als solches im öffentlichen Raum der Polis offenkundig überhaupt nicht kombattant ist.

Antigone steht im Weltformwechsel vom 6. auf das 5. Jhd. im Horizont einer zeitlosen Zeit, sagen wir ruhig einer außergeschichtlichen Zeit. Diese kann aber, da sie „immer lebt“, wie es im Vers heißt, schlichtweg nicht mit einer geschichtlichen Zeit kollidieren, vielmehr würde sie diese im Sinn der longue durée schlicht überdauern. Völlig unabhängig davon, wie viele Zufälle, Grausamkeiten und Notwendigkeiten sich in der Dauer der äonischen Zeit auch häufen mögen, da sich diese Zeit nicht geschichtlich vermittelt, könnte ihnen kein historisches Projekt und auch keine Weltgeschichte beikommen. In Bezug auf die Trachinierinnen, die 442 v. Chr. im selben Jahr wie Antigone zur Aufführung gelangen, kommt Jan Kott zu dem Schluss:

Bei Sophokles gibt es keine Vermittlung, weder zwischen dem Menschlichen und Außermenschlichen, noch zwischen dem einmaligen Leben und der Geschichte, der Grausamkeit des Zufalls und der Notwendigkeit. Das menschliche Leben wird nur einmal gelebt, und es gibt keine Erlösung.11

Soviel zur Frage des Sinns in einer Universalgeschichte, die, so es sie gibt, eine Geschichte des Zufalls wäre.12

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