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Hikesia und Asylon im Theater der Tragödie

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Für das Verhältnis von Flucht, Asyl und Theater sind – vor dem mit den Persern bereits absehbaren zeitgeschichtlichen und politischen Hintergrund – vor allem die Schutzflehenden (Hiketiden) des Aischylos grundlegend, erstmals aufgeführt um 463 v. Chr. Zu Beginn der Tragödie wird das Theater besetzt durch einen Chor von Frauen, die mit dem Schiff aus Ägypten geflohen und gerade in der griechischen Stadt Argos angekommen sind, die von dem König Pelasgos regiert wird. Dem Mythos nach handelt es sich bei den Frauen um die 50 Töchter des ägyptischen Königs Danaos, der sie begleitet auf der Flucht vor ihren Vettern, die sie mit Gewalt zur Heirat zwingen wollen und verfolgen. Ob dafür im Theater anstelle der sonst anzunehmenden 12 oder 15 tatsächlich 50 (jedenfalls aber männliche, als Frauen maskierte) Choreuten auftraten wie bei den früheren Dithyramben, ist umstritten. Sicher ist jedoch eine unheimliche Gewalt, die von diesem Chor ausgeht, von Anfang an. Danaos sucht die Schutzflehenden zu beruhigen indem er ihnen empfiehlt, sich nach griechischem Brauch zu verhalten: Sie sollen sich den Altären des heiligen Bezirkes mit Olivenzweigen nähern, die in weiße Wolle gewickelt sind. Als Pelasgos, der Herrscher von Argos erscheint, erkennt er sie gleich als Fremde, wegen ihrer reichen und „barbarischen“ Kleider und ihrer dunklen Hautfarbe, die auf eine Herkunft aus Libyen verweise. Ihr Verhalten, ihre Position am Altar und ihre rituell geschmückten Zweige zeigen aber ihre Vertrautheit mit dem griechischen Brauch der Hikesie. Und zu seinem Erstaunen erzählen ihm die Frauen, dass sie in Argos gar nicht fremd sind, sondern eigentlich nach Hause kommen. Sind sie doch Nachfahren von Io, der Mutter aller Ionischen Griechen. Dem Mythos zufolge war die aus Argos stammende Io eine der vielen Geliebten des Gottes Zeus. Von der eifersüchtigen Göttermutter Hera wurde sie zur Strafe in eine Kuh verwandelt und durch eine wütende Bremse unablässig gejagt, erst in Ägypten konnte sie sich niederlassen. Der Ahnherr der schutzflehenden Frauen soll Epaphos gewesen sein, Sohn von Zeus und Io. Auf diesen Ursprung in Argos berufen sie sich nun für ihre Bitte um Schutz, um nicht ihren ägyptischen Verwandten ausgeliefert zu werden:

Sieh nicht mit an, wie dein Schützling von

Dem Götterbild mit Zwang gezerrt wird widers Recht,

Dem Roß gleich an der Stirn

Buntfarbgem Band und meinem Kleid angepackt!

Wisse wohl: deiner Kinder harrt, des Stamms,

Wie du den Grund legst, Buße durch den Gott des Grimms:

Vergeltung, gleich um gleich!

So herrscht – bedenk! – gerecht des Zeus ewge Macht!1

Nachdem die Frauen mit der Erzählung der Vorgeschichte ihre Herkunft belegt haben, bezeichnen sie sich selbst als „Schützling“ (Hiketin) und fordern Hikesie. Dieser Status, wörtlich mit „Schutzflehen“ zu übersetzen, wurde im archaischen und klassischen Griechenland allen gewährt, die sich zu heiligen Altären flüchteten. Schon die Möglichkeit, um Schutz flehen zu können, hatte eine absolute, von Zeus beschützte Geltung. Wer als Schutzflehende/r gehört wird, ist als solche/r bereits Schützling, Schutzbefohlene/r. Diese Tendenz, angelegt in der Unantastbarkeit des Prinzips der Hikesie selbst, beruhte normalerweise auf einer Bedingung: Eigentlich durften sie nur die in Anspruch nehmen, die von Blutschuld frei waren. Jedoch wird beispielsweise selbst Orest – nach dem Mord an seiner Mutter Klytaimnestra, in Aischylos’ Eumeniden, dem dritten Teil der Orestie – als ein Schützling (Hiketin) bezeichnet durch den Gott Apoll, der ihn gegen die Erinnyen verteidigt.2 Erst indem die Rachegöttinnen selber in Athen eine Art Asyl erhalten, aufgenommen werden als wohlwollende Eumeniden, kann dieser Konflikt durch die Stadt-Göttin Athene gelöst werden. Jedenfalls war Hikesie eines der Rituale des Übergangs, die das Theater der Tragödie, zwischen Religion und Politik ebenso vermittelnd wie zwischen eigen und fremd, immer wieder durchgespielt hat.3

Nicht selten manifestieren die Texte der Tragödien, wie mythische Ordnungen und rituelle Praktiken in rechtlich und politisch geregelte Verfahren überführt werden konnten. Tatsächlich wurde der Umgang mit Schutzflehenden, aus der jeweiligen Stadtgesellschaft wie auch für Fremde, im 5. Jh. v. Chr. allmählich institutionalisiert. Strukturell ist für diese Entwicklung zu unterscheiden zwischen dem von der Hikesie ausgelösten „sakralen Asyl“ und einem von der Stadt dem Einzelnen verliehenen Bleiberecht, das als „persönliches Asyl“ bezeichnet werden kann.4 Außerdem konnte es nach einem Aufenthalt von 30 Tagen, insbesondere in Athen den Status der Metoikie geben. Die Metöken, „Mitwohner“, mussten eine/n einheimische/n BürgerIn als ihren Patron benennen und Schutzgeld an die Stadt zahlen. Dafür durften sie Geschäfte ausüben, nicht aber an politischen Debatten und Wahlen teilnehmen. Vermutlich war die für Stadtbürger von Athen verpflichtende, aufwändige Teilnahme an der politischen Praxis nur dadurch aufrechtzuerhalten, dass es – außer den Sklaven, die die eigentliche Arbeit taten – noch diese zusätzliche Gruppe von „Unternehmern“ gab, die für das wirtschaftliche Leben sorgten.5

Bei Aischylos gehen die Schutzflehenden so weit, zu fordern. So erinnern sie Pelasgos daran, dass er von Zeus bestraft werden könnte, wenn er ihnen keinen Schutz gewährt. Für diesen Fall drohen sie sogar damit, sich selbst zu töten. Dass der ganze Konflikt – in dem das Agieren der Danaiden ebenso wie das ihrer Neffen von Hybris (frevelhafter Selbstüberschätzung) geprägt ist – zugleich als ein politischer Prozess dargestellt wird, lässt sich noch am ehesten durch die besondere Bedrohung auch von Argos durch die ägyptischen Verfolger erklären.6 Der König Pelasgos kann hier gar nicht allein entscheiden, muss die Volksversammlung abstimmen lassen.

Tatsächlich ist der Text der Schutzflehenden eine der frühesten Quellen für ein solches demokratisches Verfahren in der griechischen Kultur. Die Angelegenheit dieses Asyls ist von elementarer Bedeutung für alle, geht jeden Bürger etwas an.7 Nach auffällig rascher Entscheidung in der Volksversammlung kann Danaos den Frauen aber berichten, dass sie von der Stadt beschützt werden und dass sie – darüber hinaus – auch als Metöken aufgenommen sind.8

Das Stück endet damit, dass ein zusätzlicher Chor von Mägden die Jungfrauen drängt, ihre Verweigerung der Heirat doch zu überdenken. Die verlorenen Teile der Trilogie enthielten dann, soweit das aus Fragmenten zu erschließen ist, einen Sieg der Ägypter gegen Argos, wobei Pelasgos selbst getötet wird. Daraufhin wird die Heirat von den Danaiden doch noch akzeptiert, allerdings nur zum Schein. In der Hochzeitsnacht töten sie alle ihre Vettern bis auf eine, die ihren Geliebten rettet. Die Heiratsverweigerung der Frauen könnte nachträglich auch dadurch motiviert worden sein, dass von einem Orakel berichtet wird, das den Tod von Danaos durch einen Schwiegersohn vorhergesagt hätte.9 Der dritte Teil der Trilogie zeigte wohl einen Prozess gegen diese eine Frau, Hypermestra, die aber begnadigt wird und als Mutter eine neue Dynastie von Griechen begründet, zu der der Halbgott Herakles gehören wird. Vorausweisend auf die spätere Entwicklung der Tragödie steht damit am Ende der Trilogie das Individuum, das sich gegen eine Mehrheit durchsetzt.

Für die von Aischylos dargestellte Konsequenz, mit der die religiöse Forderung der Hikesie und die Gewährung eines persönlichen Asyls der Metoikie im politischen Entscheidungsprozess verknüpft werden, ist es von einiger Bedeutung, mit welchen Worten die Volksversammlung der Argiver von Danaos zitiert wird:

Mitwohner sollen wir des Lands hier sein und frei

geschützt vor Zugriff, vor dem Raub durch irgendwen;

Und keiner der Bewohner soll, kein Fremder uns

Wegführen; sollt es sein, daß man Gewalt gebraucht,

Soll, wer nicht eilt zu Hilfe von den Bürgern hier,

Ehrlos sein, Flüchtling, durch des Volks Beschluß verbannt.

So war das Wort, das, überzeugend sprach für uns

Pelasgias Fürst […]

Dies hörte kaum, so hob die Hände Argos‘ Volk

Und stimmte – ohne Heroldsruf – für den Beschluß.10

So bewirkt die Rede des Königs Pelasgos, dass die Volksversammlung einstimmig entscheidet. Die dafür gebrauchten rhetorischen Bilder erscheinen besonders wirkungsvoll, da er sich und das Volk von Argos zuvor schon mit einem Schiff von Migranten verglichen hat und nun allen, welche den Schutzflehenden nicht helfen, damit droht, dass sie selber verbannt und in Flüchtlinge verwandelt würden.11

Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart

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