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( 4 ) Zusammenfassung und Thesen

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Nehmen wir noch einmal die rasant knappe Definition der tragischen Fabel von Heiner Müller auf, denn sein Begriff vom „Stellplatz“ entspricht genau dem des Trägermaterials, das im Vorgang des Palimpsestierens wiederbeschrieben wird und die schon existierende Schrift damit zur vormaligen macht. Was auf diesem „Stellplatz“ zusammengestellt wird, ist widersprüchlich, besagt Müllers Definition. Aber diese Widersprüche schließen sich nicht aufgrund einer Negativität gegenseitig aus. Das wäre der zentrale Einwand gegen Hegel: Widersprüche unterscheiden sich, aber ihr Unterscheiden wurzelt keineswegs zwangsläufig in einer kontradiktorischen Negation, die das Verneinte ausschließt und zum „Nichtsein“ erklärt. (Das ist genau die Operation, die Hegel im Fall der ungeschriebenen Gesetze Antigones anwendet, indem er sie zitiert, aber übergeht.)1 Schon allein die Annahme eines gemeinsamen Stellplatzes verlangt eine andere Auffassung von Negativität, denn ein „Nichtsein“ könnte auf einem solchen Stellplatz schlichtweg nicht zur Erscheinung kommen. Unter dem Aspekt eines gemeinsamen Erscheinens verschiebt sich die Negation zwangläufig in den nicht-kontradiktorischen Unterschied von etwas und etwas anderem und ihre Konfiguration tritt hervor: Ihr Zusammengesetztes, Zusammengestelltes, ihr In-Situationen-Sein.

Das „Kon-“ der Figurationen besagt nun keineswegs, dass da irgendetwas miteinander geht. Im Gegenteil, und hier kommt der Aspekt des Palimpsests als Raumbegriff wieder ins Spiel: Das Überprägen oder Durchprägen vormaliger Strukturen sagt nichts über das Verhältnis aus, in dem das Vormalige zum gegenwärtigen Schreibakt steht, sondern nur, dass dies im Sinne eines Ko-Existentials der Fall ist. Da sich Schrift materialisiert und auf Trägermaterialien äußert, wird sie nicht nur tradierbar, sondern auch koexistent für alle möglichen anderen Schriften, auch für solche, die sich ihr auf demselben Trägermaterial überprägen. Mit anderen Worten: Jeder Schreibakt steht im Verhältnis zu vormaligen Schriften und tut dies als ein solcher vollkommen unabhängig von den Intentionen der Schreibenden oder den behandelten Thematiken. Erscheinen die Schriften jedoch auf einem gemeinsamen Stellplatz, der ihr Trägermaterial ist, dann entwickelt sich zwischen ihnen eine Dynamik des Überprägens oder Durchprägens.

Ganz ähnlich behandelt Aristoteles das Vormalige des Mythos im Verhältnis zur attischen Gegenwart der Tragödie. Aristoteles geht unmissverständlich davon aus, dass der Mythos „das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist“ (23). Das Vormalige des Mythos liegt nicht abgeschlossen in irgendeiner Vorkammer attischer Gegenwart, d. h. es gibt zu ihm kein geschichtliches Verhältnis. Daher hält Aristoteles fest, dass „es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist“ (29), das sollte man den Historikern überlassen. Der Dichter teile indessen mit, „was geschehen könnte“ (29). Es geht nun nicht darum, aus diesem Konjunktiv das Gebot der „Wahrscheinlichkeit“2 herauszulesen, wie das der Altphilologe und Übersetzer der hier verwendeten aristotelischen Poetik tut (während erst die Regelpoetik des Herrn d‘Aubignac im 17. Jahrhundert mit der Wahrscheinlichkeit als normatives poetisches Kriterium hausieren gehen wird). Vielmehr bezieht sich der aristotelische Konjunktiv „was geschehen könnte“ auf einen bestimmten Eigensinn der widersprüchlich gefügten Sache des Dichters. Dieser Eigensinn wird jedoch, und das ist hier meine Hauptthese, im Vorgang des Palimpsestierens gewonnen, das heißt, er tritt in diesem Vorgang überhaupt erst hervor und wird durch diesen Vorgang überhaupt erst ermöglicht. Die tragische Fabel gewinnt ihren Eigensinn im Vorgang der Überprägung von mythologischer Überlieferung bzw. indem sich das Überlieferte durch sie hindurchprägt. Insofern ist das Palimpsestieren als genuin dichterische Tätigkeit zu begreifen, die sich von der Nachbildung, der Nachahmung oder dem einfachen Plagiat unterscheidet, indem sie dem Eigensinn der widersprüchlich gefügten Sache, die ihre Sache ist, Raum gibt. Wenn das Palimpsestieren als künstlerisches Verfahren begriffen und als solches bewusst gehandhabt wird, geht das mit einigen Überzeugungen und Merkmalen einher, auf die hier kurz und unvollständig hingewiesen werden soll.

Das erste wäre wohl die Aufmerksamkeit dafür, dass Kunst nicht negativ gewonnen wird. Kunst wird nicht aus Abgrenzung, Widerspruch, Entgegensetzung oder Kritik gewonnen, sondern entsteht durch das Gewährenlassen oder Einräumen dessen, was ihren Eigensinn ausmacht, der aus einem Selbstbezug hervorgeht: Aus der Möglichkeit der Kunst, für sich oder in sich auseinanderzutreten und sich selbst auf sich selbst hin (d.i. eine Andersheit) zu öffnen. Dieser Vorgang ist derart grundlegend, dass er auch für die wütendste, die kritischste und die parteiischste Kunst gilt. Ebenso für die Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart, gerade für sie. Damit tritt das Gewährenlassen und Einräumen an die Stelle einer Konzeption. Das heißt, dass mit dem Palimpsestieren keine konzeptionellen Überblendungen gemeint sind, wie sie zum Beispiel Roland Schimmelpfennig in seinem Stück Die Frau von früher angewendet hat, indem er ein aktuelles Beziehungsdrama mit der Figur und dem Stoff der euripideischen Medea überblendet.

Gewährenlassen und Einräumen bezeichnen Prozesse im Verfertigen von Texten, von Kunst. Diese Prozesse benötigen eine lebendige und zugleich hochartifizielle Energie und Aufmerksamkeit. Sie setzen eine Selbsttechnologie der Schreibenden voraus, eine besondere künstlerische techné (im Sinn von Aristoteles) und Ethik des Schreibens.

Gegenwart lässt sich nicht direkt ansteuern, wir würden sonst nur beim Identischen landen. Gegenwart lässt sich nur indirekt und in der Wiederholung ansteuern, als Gefüge-Figur, im Zitat oder als Altes Gedicht.

Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart

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