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Von Darmstadt angezogen
ОглавлениеGyörgy Kurtág und die musikalische Avantgarde um 1959
István Balázs formulierte 1986 eine These, die seither zu einem wiederkehrenden Element des öffentlichen Diskurses über György Kurtág geworden ist: Die Werke des Komponisten widersetzten sich jedem analytischen Ansatz, seine Kunst sei von Natur aus unbeschreiblich.1 In der überarbeiteten ungarischen Fassung seiner Studie hatte er diesen Standpunkt aus der neuen Publikation ausgelassen,2 denn Balázs erkannte, dass jede Musik analysiert werden kann. Gleichzeitig behielt er jedoch das wichtigste Motiv seiner Interpretation bei, dass die Unmöglichkeit der Analyse von Kurtágs Kunst in erster Linie auf der moralischen Natur dieses Schaffens beruhe. Kurtágs Musik wolle weder vorgefertigten Ideologien entsprechen, noch möchte sie eine neue Welt der Werte repräsentieren, sondern vermittle ein neues Wertesystem, das auf einer weiterentwickelten Persönlichkeit basiere.3 Kurtágs Musik übt also einen moralischen Einfluss aus. Zweifellos erlaubt diese Art der Herangehensweise keine streng musikalische Analyse, da sie die Persönlichkeit und die vermeintliche Intention des Komponisten in den Mittelpunkt der Interpretation stellt: Die Ausstrahlung der Persönlichkeit überschreibt dementsprechend die musikalischen Eigenschaften der Werke, die Kompositionen tragen keine musikalischen Merkmale, sondern ästhetisch-ethische Inhalte. Jedoch erwies sich jene Annäherung als ziemlich problematisch: Diese Interpretation verhüllt vor uns die wirklichen Qualitäten der Musik und macht es zudem unmöglich, das Lebenswerk kritisch zu bewerten.
Obwohl die ethische Interpretation des Kurtág-Œuvres insbesondere unter ungarischen Musikwissenschaftlern4 zu einem Kernelement des professionellen Diskurses über den Komponisten geworden ist, unternahmen viele Spezialisten – seit der Veröffentlichung von György Kroós Zusammenfassung über die Geschichte der ungarischen Komposition der letzten 25 Jahre im Jahr 19715 – den Versuch, die Charakterzüge von Kurtágs Kunst aus ihren musikalischen Eigenschaften herzuleiten. Die erste, sogenannte Avantgarde-Periode (1959/63), die mit dem Streichquartett op. 1 begann, wurde gründlich untersucht. Vier klar definierte, aber teilweise miteinander verbundene Themen entfalteten sich im Gefolge von Analysen: Kurtágs Beziehung zur Tradition, Kurtágs Gebrauch der Dodekafonie, die gestische, sprachliche und programmatische Natur seiner Musik und die Dominanz kleiner Formen.