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I Raum / Klang

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… quasi una fantasia … für Klavier und Instrumentengruppen op. 27/1 (1988–89)

Der 1. Satz (Introduzione) dieses Werks ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Das Material, mit dem Kurtág arbeitet, ist auf äußerste Einfachheit reduziert. Im Klavier erklingen Skalenfragmente, die ab Ende von T. 3 in einen changierenden Klangteppich von piatti sospesi, Schellen und Gongs eingebettet werden. In T. 9 (dem letzten Takt) setzen zusätzlich der tiefe Gong und das Tamtam ein. Während diese Klänge verhallen, entstehen ppppp-Klangverschiebungen im hohen Register, die von Mundharmonikas15 gespielt werden. Resultat ist ein Klangprozess, der durch eine kontinuierliche Tendenz zur Aufhellung16 gekennzeichnet ist. Dies wird auch in der Zentroidwertanalyse ersichtlich (Notenbeispiel 1).

Im Blick auf Ligetis Klavierkonzert, das kurz davor entstanden ist (1985–88), wird deutlich, dass sich das Ende des 2. Satzes (Lento e deserto, T. 21–24) modellhaft auf T. 9 der Introduzione beziehen lässt. Auch diese Passage ist durch verhallende Klänge im tiefen Register bestimmt, in die sich höhere Mundharmonika-Klänge mischen. Das Ergebnis ist auch hier eine kontinuierliche Erhöhung der Klanghelligkeit (Notenbeispiel 2).


Notenbeispiel 1: György Kurtag, … quasi una fantasia … op. 27/1 (1988–89) für Klavier und Instrumentengruppen, 1. Satz (Introduzione), T. 9, vereinfacht dargestellter Partiturausschnitt inkl. Zentroidwertanalyse. Aufnahme: Asko-Ensemble, Reinbert de Leeuw (Dirigent), Tamara Stefanovich (Klavier), 2017

Die enge Analogie der beiden Passagen ist offensichtlich: Sie umfasst den Einsatz des Mundharmonika-Klangs an formal analoger Stelle (Schluss eines langsamen Satzes) und den Prozess der Klangaufhellung (hohe und zarte Klänge verschmelzen mit nachhallenden tiefen Klängen). Zudem werden die Bewegungsrichtung der Mundharmonika-Akkordfolge (Ligeti: absteigend) sowie die Reihenfolge der Grundtöne der letzten beiden Akkorde (Ligeti: Des → C) umgekehrt (Kurtág: aufsteigend; C → Des). Die Beziehung ›C-Dur‹ / ›Des-Dur‹17 ist zwar verschleiert (bei Kurtág durch den verminderten Dreiklang c – es – ges und bei Ligeti durch die Klarinetten-, Horn- und Posaunenstimmen), aber dennoch deutlich hörbar (Notenbeispiel 3 zeigt die Übereinstimmungen im Vergleich).


Notenbeispiel 2: György Ligeti, Konzert für Klavier und Orchester (1985–88), 2. Satz (Lento e deserto), T. 21–24, vereinfacht dargestellter Partiturausschnitt inkl. Zentroidwertanalyse. Aufnahme: Ensemble Inter Contemporain, Pierre Boulez (Dirigent), Pierre-Laurent Aimard (Klavier), 1994


Notenbeispiel 3: Vergleichende Gegenüberstellung (Tonhöhen): György Kurtág, … quasi una fantasia …, 1. Satz, T. 9 (oben)/György Ligeti, Klavierkonzert, 2. Satz, T. 21–24 (unten)

Auch Ligeti hat sich ausführlich zu der Klangtransformation in T. 9 geäußert:

»Zu Beginn des letzten Takts verdunkelt sich der Klang durch die Gongs und das Tamtam. Diese Verdunkelung bedeutet zugleich auch eine Erweiterung, eine Ausbuchtung des Resonanzraums. [Coda: die vier (sic!) Mundharmonikas]: Gleichzeitig mit dem letzten Klavierton (dis) erklingt auch der nähere tiefe Gong, und in diesem Moment setzen die Mundharmonikas ein, mit Phasenverschiebung, als ob sie ihren Klang wechselseitig verwischen wollten.«18

Vor dem erörterten Hintergrund kann man diese Zeilen durchaus als eine Art (Re-)Hommage an Kurtág lesen. (Obwohl Ligeti sein Klavierkonzert hier mit keinem Wort erwähnt, kann ihm die Analogie zu Kurtágs Introduzione nicht entgangen sein.)

Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Beide Komponisten teilen ein gemeinsames Interesse für die Relation Klang/Raum, und die erörterte Analogie ließe zunächst darauf schließen, dass ihre Konzeptionen diesbezüglich übereinstimmen. Dies ist jedoch nicht der Fall: Bei Ligeti setzt die Auseinandersetzung mit klanglichen Transformationsprozessen und dem »innermusikalische[n], durch die Musik evozierte[n] imaginäre[n] Raum«19 bereits früh ein: einerseits in Werken wie Atmosphères (1961) und im Klavierkonzert20 (1985–88), andererseits in Vorträgen und analytischen Texten.21 Auch in der Analyse von quasi una fantasia hat dies Spuren hinterlassen: Die im Raum verteilten Schlagwerkklänge deutet Ligeti dort als virtuellen Resonanzraum des Klaviers. Dabei beschreibt er Abdunkelungs- und Aufhellungsprozesse. Er analysiert die Introduzione somit ›durch die Brille des eigenen Schaffens‹.

Das Raum- und Klangdenken Kurtágs umfasst jedoch einige Facetten, die Ligeti in seiner Analyse nicht oder nur am Rande anspricht. Zwar zeigte Kurtág ebenfalls Interesse für die Idee der Klangkontinuität. In einem kurzen Text über die Játékok stellte er fest, dass er diesbezüglich an Ligeti anknüpfe.22 Als Beispiel ließe sich die Ligatura to Ligeti (1997) für Klavier aus Bd. 7 der Játékok anführen. Das Stück setzt mit Quartkonstellationen ein, die – auch aufgrund chromatischer Stimmführungsbewegungen – zunächst an Schönbergs Orchesterstück op. 16/3 erinnern, sich aber dann kontinuierlich zu Clustern und Klangflächen verdichten.

In Bezug auf das Verhältnis Klang/Raum in größer angelegten Werken wie … quasi una fantasia … ist aber ein weiterer Hinweis entscheidend: Durch die Einbeziehung des Raumes habe er »zu einem ganz anderen Denken und Empfinden für die entsprechenden, ein neues Maß gebenden Dimensionen der musikalischen Form«23 gefunden. Im Gegensatz zu Ligeti, der bereits seit mehreren Jahrzehnten Großformen konzipiert hatte, in denen Klang und (imaginärer) Raum auf spezifische Weise koordiniert wurden, galt Kurtág in den 1970er Jahren immer noch als Meister der knappen, verdichteten Form. Auch größere Formgebilde sind als Gruppierung von Einzelminiaturen angelegt. Darin erkannte Kurtág ein Defizit, das er durch neue (Raum-)Perspektiven zu lösen versuchte. Das Problem liegt in der Syntax begründet: Wie können musikalische Gesten, Bruchstücke und Elemente zu Großformen zusammenwachsen, die eine innere Konsistenz und Schlüssigkeit aufweisen? Diese Frage beantwortete Kurtág in … quasi una fantasia … sowie in Grabstein für Stephan op. 15c (1978–79, revidierte Fassung 1989) für Gitarre und im Raum verteilte Instrumentengruppen. Hier eröffnen imaginäre und – im Unterschied zu Ligeti – reale Raumwirkungen »die Möglichkeit, Wiederholungen dadurch zu motivieren, dass die Antwort von ›woanders‹ herkommt«.24 Diese Neugestaltung der Syntax mündet in eine andere Entwicklungslinie: die Auseinandersetzung mit musikalischer Sprache.

MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág

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