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Einleitung1

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György Kurtág und György Ligeti: Ist von Neuer Musik die Rede, werden diese beiden Namen häufig in einem Atemzug genannt. Dies kommt nicht von ungefähr: Bereits 1945, als die beiden die Aufnahmeprüfung an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest ablegten, entstand eine – auch durch ähnliche kulturelle Vorerfahrungen2 bedingte – enge Freundschaft, die bis zu Ligetis Tod (2006) andauerte. Auch über diesen Einschnitt hinaus wirkt Kurtágs Auseinandersetzung mit Ligetis Œuvre bis heute weiter. Dies gibt Anlass, die Beziehung in persönlich-biografischer, aber vor allem auch in künstlerischer Hinsicht zu reflektieren: Ist der spezifische Werdegang Kurtágs und Ligetis zum Teil durch Anregungen geprägt, die sie vom jeweils anderen empfingen?

Zunächst scheint es, als ob die Beziehung in künstlerischer Hinsicht einseitig gewesen sei. Auf den um drei Jahre jüngeren Kurtág übte Ligetis Persönlichkeit von Beginn an eine tiefe Faszination aus. Kurtág konzedierte, er habe sogar sein Privatleben nach dem Vorbild Ligetis gestaltet, und sprach von einem »Imitatio Christi-Syndrom«3. Umgekehrt gibt es meines Wissens nach keine Aussagen Ligetis zu einem Einfluss Kurtágs auf sein Œuvre, und auch in Ligetis Werken sind mir keinerlei Kurtág-Zitate, -Hommagen oder auch nur versteckte Anspielungen aufgefallen. Der Fokus der vorliegenden Analysen ist daher ausschließlich auf Ligeti-Spuren in Kurtágs Musik gerichtet.

Aus all dem sollten aber keine vorschnellen Schlüsse gezogen werden, war doch die Beziehung Ligeti/Kurtág nicht einseitig, sondern von wechselseitigem Respekt geprägt. Dies legen die folgenden Beobachtungen nahe: Zum einen erwies Ligeti Kurtág seine Referenz, indem er dessen Schaffen zeit seines Lebens in Analysen, Texten und Interviews kommentierte. Zum anderen sollte man Kurtágs Rede von der »Imitatio Christi« nicht bloß als Zeichen der Unterwürfigkeit verstehen: Hinter dieser Aussage verbirgt sich eine gehörige Portion Humor.4 Zugleich ist sie ernst gemeint, und zwar in einem spezifischen Sinne: Denn jenes Prinzip der Nachahmung, das Kurtágs Musik durchdringt, ist nicht nur auf Ligeti, sondern auf Tradition im Allgemeinen gerichtet. Die Hommage- und Message-Komposition ist ein untrennbarer Bestandteil seiner Ästhetik. Ligeti greift zwar ebenfalls auf historische Referenzen zurück, treibt dabei aber Verwirrspiele – er neigt dazu, Bezüge zu verschleiern und Spuren zu verwischen.5 Im Gegensatz dazu legt Kurtág seine Modelle häufig in Stück- und Satztiteln bzw. Partiturhinweisen offen.6 Dabei bezieht er sich auf Komponisten der europäischen Musiktradition vom Mittelalter bis heute: Er schreibt Hommagen an Ligeti, Machaut, Obrecht, Bach, Schumann, Debussy, Janáček, Boulez, Stockhausen, Holliger, Eötvös und viele andere. Diese intensive Verflechtung mit Geschichtlichem trägt zu jenem eigenständigen kompositorischen Profil bei, das er im Lauf der Jahre entwickelte.

Unter all den modellhaften Prägungen, die Kurtágs Entwicklung beeinflussten, war Ligetis Musik also nur eine von vielen. Zugleich kam ihr aber doch eine spezifische Ausnahmestellung zu, die sich wesentlich auch durch Ereignisse im Jahr 1958 erklären lässt. Zur Vorgeschichte: Nach der Zerschlagung des Aufstands gegen das Sowjetregime im Oktober/November 1956 war Ligeti nach Wien geflüchtet und nach Köln weitergezogen, wo er von Gottfried Michael Koenig und Karlheinz Stockhausen Anregungen empfing. Kurtág musste zunächst in Budapest bleiben, erhielt danach aber ein Visum für einen Frankreich-Aufenthalt (1957–58) und studierte dort bei Milhaud und Messiaen. Diese Lebensphase beschrieb er als Jahre der Krise und Selbstfindung. 1958 folgte ein Schlüsselerlebnis: Ligeti, der Kurtág 1957 in Paris besucht hatte, lud diesen ein, nach Köln zu kommen. Dort studierten sie die Partitur von Stockhausens Gruppen für drei Orchester (1955–57) und hörten die Bandaufnahme dieses Werks.7 Neben der gestischen Qualität dieser Musik war es auch ihre raumorientierte Konzeption, die Kurtág interessierte.8 Am folgenreichsten war aber wohl die Begegnung mit Ligetis neuer elektronischer Komposition Artikulation (1958) – eine Faszination, die lange weiterwirken sollte. Von der »Dichte der Ereignisse«, der »Direktheit der Aussage« und dem »raffinierten Gleichgewicht zwischen Humor und Tragödie«, die er in diesem Werk fand, war Kurtág begeistert.9 Laut eigener Aussage folgte er ab diesem Zeitpunkt dem Ideal, etwas diesem Erlebnis Vergleichbares zu schaffen.10 Zu den Modellwerken Ligetis, an denen er sich dabei orientierte, zählte er in der Folge auch Atmosphères11 (1961) für großes Orchester sowie das Mimodram Aventures (1962) für drei Sänger und sieben Instrumentalisten, zu welchem Artikulation als Vorstudie gedient hatte. Ausgehend vom Schlüsselerlebnis 1958, lassen sich in Kurtágs Musik zwei Entwicklungslinien verfolgen, anhand derer sich einerseits der Einfluss Ligetis, andererseits aber vor allem dessen Transformation zu etwas Individuellem, von Ligeti Losgelöstem nachvollziehen lässt. Sie können wie folgt näher definiert werden:

1) Raum / Klang: Diese Auseinandersetzung setzt erst relativ spät ein (in den 1980er Jahren).

2) Sprache: Dieser Begriff zielt nicht nur auf die Text-Musik-Beziehung, sondern auch auf die inhärente Musiksprachlichkeit, also die musikalische Syntax ab. Dieser Entwicklungsstrang ist bereits ab 1959 aktuell.

Um die beiden Entwicklungslinien analytisch zu fassen, werden im Folgenden Ausschnitte aus Werken Kurtágs analysiert, in denen er sich explizit auf Ligeti bezieht. Gemeint sind nicht Ligeti-Zitate im engeren Sinn12, sondern Ligeti-Hommagen, die in Werk- oder Satztiteln, Partitur- oder Skizzenanmerkungen offen als solche deklariert sind.13 Zuvor seien – als erste Orientierungshilfe – jene konkreten Spuren, die die Beziehung Kurtág/Ligeti in Kompositionen, Texten und Festreden beider Komponisten hinterlassen hat, in einer provisorischen Liste14 zusammengefasst.

Werk / Text / FestredeJahrBezug
Kurtág, 24 Antiphonae op. 10 (Orch., unvollendet, nicht ediert)1970–71Widmung an Ligeti
Kurtág, A kis czáva op. 15b, 3. Satz (Scherzo)(Picc, Pos, Git)1978Ligeti, Aventures (1962)Vermerk in den Skizzen
Ligeti, Begegnung mit Kurtág im Nachkriegs-Budapestvgl. Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Anm. 2); urspr. in: Friedrich Spangemacher (Hrsg.), György Kurtág, Bonn 1986, S. 14–171985
Kurtág, … quasi una fantasia … op. 27/1,1. Satz: Introduzione (Kl, Instr)1988–89Ligeti, Klavierkonzert (1985–88),2. Satz (Lento e deserto)
Kurtág, Festredevgl. Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 90–102;vgl. Kurtág, Entretiens (Anm. 12), S. 155–661993Verleihung des Siemens-Preises an Ligeti im Cuvilliés-Theater München
Ligeti, Analyse Introduzionevgl. Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Anm. 15);ungar. Original in: Muzsika 39/2 (1996), S. 9–111995Kurtág, … quasi una fantasia …op. 27/1 (1988–89), Introduzione
Kurtág, Hälfte des Lebens für drei Baritone(aus: Hölderlin-Gesänge op. 35a, Buch II) bisher unveröffentlicht; work in progress1995Widmung an Ligeti; möglicher Bezug: Ligeti, Drei Phantasien nach Hölderlin für Chor a cappella (1982)
Kurtág, »… le tout petit macabre – Ligetinek«, aus: pas à pas – nulle part op. 36 (Bar, Str, Perc)1993–97Ligeti-Bezug im Titel; Anspielung auf Ligetis Le grand macabre (1974–77, rev. 1996–97)
Kurtág, Ligatura to Ligeti (Kl), aus: Játékok 71997Ligeti-Bezug im Titel; Bezug auf die Klangflächen in Atmosphères (1961)
Kurtág, Hälfte des Lebens für Bariton soloVersion 1: noch einmal für György LigetiVersion 2: und wieder einmal für György Ligeti (aus: Hölderlin-Gesänge op. 35a, Buch II) bisher unveröffentlicht; work in progress1999Widmung an Ligeti; möglicher Bezug: Ligeti, Drei Phantasien nach Hölderlin für Chor a cappella (1982)
Ligeti, Laudatio György Kurtág vgl. Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Anm. 32)2000Aufnahme György Kurtágs in den Orden Pour le mérite
Kurtág, Hipartita op. 43 (Vl solo), 1. Satz2000–04Vermerk »Hommage à Ligeti« in der Partitur; Bezug auf: Ligeti, Horntrio (1982), 4. Satz
Kurtág, Kylwyria – Kálvária (Gedächtnisrede)vgl. Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 103–106vgl. Kurtág, Entretiens (Anm. 12), S. 167–782007Veranstaltung zu Ehren verstorbener Träger des Ordre pour la mérite
MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág

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