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IV Dokumente der Darmstadt-Rezeption

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Diese Beispiele und Zitate machen deutlich, dass Kurtág mit ganz traditionellen musikalischen Elementen arbeitet: Sein Denken basiert auf Paaren wie Frage – Antwort, Wiederholung – Variation, Offenheit – Schließung, Melodie – Begleitung und Symmetrie – Asymmetrie. Diese Grundformeln weisen jedoch eine große Vielfalt auf und sind jeweils so miteinander verbunden, dass aus der Mischung dieser Elemente immer eine klar nachvollziehbare musikalische Abfolge entsteht. Für Kurtág spielt daher die Nachvollziehbarkeit einer Form eine wichtige Rolle. Der Komponist scheint die Struktur der Gegenstände von Anfang an so zu entwickeln, indem er mit der Rezeption der Zuhörer rechnet. Als ob Kurtág seine Arbeit aus der Position des Rezipienten komponiert hätte, bemüht er sich, seine Arbeit auf der Grundlage der angeblichen Reaktion des Rezipienten zu formulieren. Der zeitliche Verlauf der Musik wird also grundlegend durch die Erfahrung des Rezipienten bestimmt. Kurtágs schöpferischer Horizont verschmilzt mit dem des Rezipienten.

Diejenige kompositorische Denkweise, die die Praxis des Musikhörens berücksichtigt, also mit den Reaktionen des Rezipienten sogar zum Zeitpunkt der Schöpfung rechnet, war in der Geschichte des ungarischen Komponierens völlig unbekannt. Dieselbe Denkweise jedoch erweckte das Interesse des Darmstädter Kreises, insbesondere Karlheinz Stockhausens um 1956. Kurtág hat sicherlich Stockhausens Aufsatz »Struktur und Erlebniszeit« gelesen, der gerade in dem ihm bekannten Webern-Gedenkband erschienen war und in dem Stockhausen aufgrund der Analyse des 2. Satzes von Weberns Op. 28 darauf hinwies, wie ein Komponist die Konventionen des Musikhörens als Erwartungshorizont in sein Werk einbauen kann und wie die Kenntnisse über die Reaktionen des Hörers auf Auslenkungen, Veränderungen und Überraschungen im Komponieren genutzt werden können.55 Kurtág bezieht sich in seinen Interviews oft auf die Kontrolle des Hörens56 und verwendet sogar den Begriff »Hörerlebnis«.57 Die Quelle von Frage-Antwort-Perioden, die für Kurtág von so zentraler Bedeutung sind, könnte auch der Aufsatz von Stockhausen sein, da er den Verlauf musikalischer Ereignisse mit der Handlung »etwas geschieht – nichts geschieht – etwas geschieht« beschreibt.58 Die Idee, dass Kurtág die ersten acht Takte des Streichquartetts derart gestalten wollte, dass jedes musikalische Moment ein anderes Intervall, einen anderen Effekt oder eine andere Tonhöhe vertritt, rührt vermutlich auch von Stockhausens Aufsatz her.59

Stockhausen formuliert in seinem Aufsatz natürlich die Apologie des seriellen Denkens und stellt Webern als einen Komponisten dar, der bewusst mit verschiedenen musikalischen Parametern arbeitet. Indessen war für Kurtág, der zu der Zeit wenig Hörerfahrung mit Weberns Musik hatte, dieser Aspekt von Stockhausens Aufsatz nicht ausschlaggebend. Stockhausens Analyse gab ihm ein Beispiel für eine kompositorische Denkweise, die ihm geholfen hat, von seiner früheren, traditionellen, schöpferischen Praxis abzulassen. Kurtág interpretierte die Gestaltung formaler Prozesse, die auf den Reaktionen des Rezipienten basieren, als das charakteristischste Element des modernen Musikschreibens. Die Kurtág-Kompositionen der ersten Avantgarde-Periode dokumentieren daher wahrscheinlich weniger seine Webern-Rezeption als seinen unerfüllten Wunsch, an die Tendenzen der Darmstädter neuen Musik anzuknüpfen.60

Zweifellos sah Kurtág seine Studienreise nach Paris als tabula rasa an. Dies erklärt, warum er es nicht wagte, Pierre Boulez, den er durch seine Musikerfreunde hätte erreichen können, sein bis dahin bedeutendstes Werk, das Konzert für Bratsche (1953/54) zu zeigen. Kurtág verließ Paris 1958, ohne den französischen Komponisten persönlich zu treffen.61 Sicherlich lenkte Ligeti, als Vermittler, Kurtágs Aufmerksamkeit auf die neue Musik von Darmstadt: Kurtág selbst erinnerte sich an Ligetis Aussage von 1957, dass er keine tonale Musik mehr schreiben könne.62 Der Aufenthalt in Paris und die damit verbundene zweitägige Reise nach Köln, wo er im Studio für elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks Stockhausen und Ligeti traf, eröffneten Kurtág einen neuen Weg, auf dem er mit seiner früheren Schreibweise völlig brechen und eine neue, up-to-date Kompositionssprache entwickeln konnte.

Die Quellen seiner Rezeption von der neuen Musik in Darmstadt sind trotzdem nicht reich. Kurtág deutete auf Stockhausens Gruppen hin, ein Werk, das er in Köln kennenlernte und dessen Bedeutung er sofort erkannte. In seiner Ligeti-Laudatio aus dem Jahre 1993 erwähnte er die »Alban Berg-artigen Violinkadenzen« und sprach »vom Abschnitt der dramatischen, sich wild aneinander stoßenden und streitenden Blechbläser«.63 Und er schrieb leidenschaftlich über die Werte von Ligetis Artikulation, ein Werk, das er ebenfalls in Köln kennenlernte: »Ich erlebe das Werk als den ersten echten Ligeti – von einer Dichte des Geschehens, Direktheit der Aussage, feiner Balance zwischen Humor und Tragik, die sogar verglichen mit der späteren Entwicklung mir unübertroffen scheinen.«64 In einer anderen Aussage betonte er sein Hingezogensein zur zweiten Mallarmé-Improvisation von Pierre Boulez: »Ich habe die II. Mallarmé-Improvisation gründlich studiert. Insbesondere der Anfang gefiel mir (ein Spiel von Frage und Antwort). Und ich entdeckte, dass mir diese Musik nicht vollkommen fremd ist.«65

MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág

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