Читать книгу MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág - Группа авторов - Страница 16

III Grundtypen der Sätze

Оглавление

Der 6. und 7. Satz passen auch nicht in die charakteristischen Satztypen der ersten Periode. Die fast 40 Sätze können in fünf Grundtypen eingeteilt werden (Tab. 2).

Tabelle 2: Satztypen in Kurtágs Werken

SchnellSchnellSchnellLangsamLangsam
AgitatoVivoRisoluto»Klänge der Nacht«Periodisch
Op. 1/1Op. 1/3Op. 1/2Op. 1/4Op. 2/1
Op. 2/2Op. 2/3Op. 1/5Op. 2/4Op. 2/6
Op. 2/8Op. 3/5Op. 3/1Op. 2/5Op. 2/7
Op. 3/8Op. 4/6Op. 4/3Op. 3/2Op. 3/3
Op. 4/2Op. 4/8Op. 5/2Op. 4/4Op. 3/4
Op. 5/1Op. 5/4Op. 5/6Op. 5/3Op. 4/2
Op. 6/1Op. 6/3Op. 6/4Op. 4/5
Op. 4/7
Op. 5/5
Op. 6/2

Notenbeispiel 2: György Kurtág, Jelek op. 5, 6. Satz, © Universal Music Publishing Editio Musica Budapest, mit freundlicher Genehmigung

Die drei schnellen Typen – die basierend auf den Charakteranweisungen als »Agitato«, »Vivo« und »Risoluto« benannt werden können – überlappen sich häufig. »Agitato« und »Vivo« enden entweder mit einem endgültigen Abschluss oder mit einer Schwächung. Aber während sich die musikalischen Charaktere im »Agitato« sehr oft ändern, die sehr raschen »Vivo« neigen dazu, immer Ostinati und Wiederholungen anzuwenden.47

Die schnellen Musikprozesse werden oft aleatorisch entfaltet. Bei »Risoluto«-Sätzen hingegen spielt das rhythmische Element eine Schlüsselrolle, und diese Sätze haben immer einen eindeutigen Abschluss. Das Tempo ist jedoch bei keinem der drei Typen konstant: Es fällt auf, dass jeder Satz durch eine Art Tempo-Schweben gekennzeichnet ist. In ihnen passiert so viel, dass das metrische Denken – trotz Ostinati und rhythmischer Bewegungsformeln – nicht die Kontrolle übernehmen kann. Und obwohl Kurtág meistens Taktstriche verwendet – er lässt sie nur in elf unter den 40 Sätzen weg, und in zwei anderen mischt er die zwei Schreibweisen48 –, sehen wir kaum Taktzeiger in der Partitur: Kurtág kündigt nur die Grundeinheit an.

Der 6. Satz von Jelek (op. 5) ist ein sehr einfaches Beispiel dafür, wie ein solcher schnell-dichter, aber metrisch schwebender Satz aufgebaut sein kann (Notenbeispiel 2).49 Pausen und musikalisches Geschehen wechseln einander ab. Das musikalische Geschehen selbst verwendet immer konstante und variable Elemente: Die Bewegung wird immer aus Sechzehnteln gebaut, aber die Anzahl dieser Sechzehntel ändert sich stets. Während in der zwei- oder dreistimmigen Struktur eine Note immer als Orgelpunkt fungiert, ändern sich seine Höhe und Position – sogar seine Position innerhalb des Akkords – ständig. Es ändern sich die Strichart sowie die Dynamik, der Stimmumfang und die Länge der Pausen. Die verwendeten musikalischen Parameter sind sehr einfach, und der Rezipient erkennt sehr bald die Logik des Spiels, weiß aber nie genau, was als Nächstes passieren wird.

Übrigens beruht die überwiegende Mehrheit der Formen von Kurtág auf dieser Unvorhersehbarkeit. Anders formuliert, Kurtág baut auf die Erwartungen des Rezipienten und die Nichterfüllung dieser Erwartungen. Beispielsweise verwendet der 5. Satz des Streichquartetts Ostinati. Trotzdem erklingt nicht immer dieselbe Formel, da sich der musikalische Prozess ständig verändert; während immer das Gleiche passiert, ändert sich immer etwas. Darüber hinaus ist ein Prozess des Zerfalls deutlich spürbar: Die Entschlossenheit des Anfangs wird durch die Zersplitterung des Endes ersetzt. Der Schluss des Satzes – die durchkomponierte Zersplitterung – spielt eine herausragende Rolle in der Komposition: Die Formel wird mehrfach wiederholt, und die Wiederholungen werden mit langen Pausen getrennt. Der Prozess lässt den Rezipienten in Unsicherheit, wann die Bewegung endlich aufhört oder wie lange das Motiv noch wiederholt wird. Auf diese Weise schuf Kurtág eine der Grundtypen seiner Kompositionsabschlüsse: die unendliche Beendung, die ein wiederkehrendes Element seiner späteren Kompositionen sein wird: Beispielsweise ist der Schluss vom Rondo-Satz der Szenen aus einem Roman (op. 19, 7. Satz) sogar thematisch mit dem Ende des 5. Satzes verwandt. Diese Parallele zeigt, dass Kurtág in der ersten Avantgarde-Periode mit solchen kompositorischen Lösungen experimentierte, die später in seinem Œuvre grundlegende Bedeutung erlangten sollten. Was jedoch noch wichtiger zu sein scheint, ist die psychische Anwendung der unendlichen Beendung, nämlich, dass der Rezipient es nicht wagt, beim Zuhören sich zu bewegen. Das heißt, wenn Kurtág seine Komposition schreibt, rechnet er mit den Reaktionen des Rezipienten.

Eine der beiden Arten von langsamen Satztypen ist der »Klänge der Nacht«-Typus, der im ungarischen Komponieren eine lange Tradition hat und der sich auf Bartóks Klavierzyklus Im Freien (1926) und dessen Klänge der Nacht-Satz zurückführen lässt. Kurtág konzentriert sich hauptsächlich auf Geräuschelemente, daneben aber auch auf Melodien, die sich auf ungarische Volksmusik beziehen. Es war bereits bekannt, dass der 4. Satz des Streichquartetts Vogelstimmen verwendet, die die Erinnerungen an Kurtágs Alltag in Paris wachrufen.50 Die Verwendung von Vogelstimmen, die vielleicht auch als Messiaen-Hommage interpretiert werden kann, und die Verarbeitung von Geräuschelementen machen deutlich, dass dieser Grundtypus für Kurtág einerseits eine entscheidende Rolle bei der Erneuerung bei der Anwendung von Kammermusikinstrumenten spielt. Andererseits schaffen diese Elemente die Möglichkeit, improvisatorische Mittel zu benutzen, die sich dann in Richtung von Aleatorik bewegen. Während sich der 3. Satz von Jelek – der wie im Falle von Bartóks Klänge der Nacht in drei Stimmen notiert ist – ausschließlich auf die Geräuschelemente konzentriert, bauen der 4. Satz von Acht Duos und das Bläserquintett sowie der Abschlusssatz von Szálkák auf die Kombination von Geräuschelementen und Melodien. Diese Melodien alludieren einerseits auf die Vierzeiligkeit ungarischer Volkslieder, andererseits aber auf Wendungen der instrumentalen Volksmusik Ungarns.

Aleatorik erscheint bloß in den ersten drei Werken mit Opus-Zahl,51 von denen nur ein Satz zum Typus »Klänge der Nacht« gehört. Im 5. Satz des Bläserquintetts spielen alle fünf Instrumente jeweils nach dem freigewählten Tempo des Musikers und voneinander unabhängig die von Kurtág angebotene Melodie. Während jede Stimme ihre eigene Besonderheiten aufweist – die Flöte spielt Quarten und Quinten, die Klarinette und das Horn Skalen, die aus kleinen Sekunden und kleinen Terzen aufgebaut sind, und das Fagott bläst chromatische Formel –, nimmt der Rezipient diese kontrollierten, geformten Elemente nur als Geräusche wahr. Inzwischen ruft die Oboe Erinnerungen an volksmusikalische Elemente hervor: Kurtág verweist auf vierzeilige, melismatische ungarische Volkslieder.

Der andere langsamere Satz-Typus zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen musikalischen Zeilen periodisch angeordnet sind, das heißt, sie bilden klassische Perioden, Sätze oder Erweiterungen dieser Formen. Das einfachste Beispiel dafür ist der 3. Satz der Acht Klavierstücke (Notenbeispiel 3), der als Frage-Antwort-Frage-Antwort-Struktur beschrieben werden kann. Diese Strukturen können auch als additive Formen definiert werden, da eine mögliche Form ihrer Expansion gerade darin besteht, dass die periodenartigen Grundformeln immer wieder erweitert werden. So kann beispielsweise der 7. Satz des Acht Duos den Wechsel der monotonen Wiederholungen und der winzigen Änderungen durch die kontinuierliche Erweiterung der Form darstellen. Auf diese Weise drückt der Satz, während er immer dasselbe sagt, immer etwas mehr aus: Der Rezipient erhält mit jeder Anhörung mehr und mehr Informationen. Trotz des langsamen Tempos folgt der 7. Satz dem gleichen Konzept wie der 5. Satz des Streichquartetts: Die Komposition stützt sich von vornherein auf die charakteristischen Reaktionen des Rezipienten, sie sind a priori schon hineinkomponiert.

Die Signifikanz periodischer Formen wird auch von Kurtág selbst in seinen Interviews hervorgehoben. Wie dem Interview von Friedrich Spangemacher zu entnehmen ist, war der Komponist mit der Struktur des Virág az ember-Satzes sehr zufrieden: »Ich bin ein bißchen stolz auf dieses Stück, denn ich habe es so gestalten können, dass die ersten fünf Töne schon etwas Perioden-artiges, also eine Frage und eine Antwort ergeben.«52 Als sich Bálint András Varga nach den Frage-Antwort-Strukturen seiner Werke direkt erkundigte, reagierte Kurtág: »Aus dieser Sicht bin ich vollkommen traditionell. Ohne dass es Perioden in Takten gäbe, funktioniert das Denken in Perioden. (…) Das ist ja die Periode, traditionelles Denken.«53 Das auffälligste Moment in Kurtágs Formulierung ist, wie wichtig es für ihn ist, seine Kompositionen mit traditionellen Formen wie der Periode in Beziehung zu setzen, obgleich die Definition das Frage-Antwort-Paar als Periode eher willkürlich erscheint. Kurtág bezieht sich offensichtlich hauptsächlich auf eine Art periodisches Denken, das wirklich eine wesentliche Eigenart seiner Musik ist. Bei der Analyse des Streichquartetts lenkt Peter Hoffmann die Aufmerksamkeit auf die größeren Formen, die auch aus einer Kette solcher Frage-Antwort-Paare bestehen. Die periodisierte Ordnung des 1. Satzes wird auf die gesamte Komposition projiziert.54


Notenbeispiel 3: György Kurtág, Acht Klavierstücke op. 3, 3. Satz,

Kurtág György, »8 Klavierstücke | für Klavier | op. 3« (3. Satz), © Copyright 1991 by Universal Edition A.G., Wien/UE14140

MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág

Подняться наверх