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II Die Vielfalt der Bezüge
Оглавление»Meine Muttersprache ist Bartók, und Bartóks Muttersprache war Beethoven«, lautet ein oft zitierter Satz des Komponisten.32 Er unterstreicht nicht nur erneut das Grundlegende der Beethoven-Erfahrung auch für Kurtág, sondern zugleich die Tatsache, dass sämtliche Traditionsbezüge auf Wege der produktiven Auseinandersetzung hinauslaufen können – was eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber im Musikdiskurs eine Zeitlang ignoriert wurde.
Kurtág liebt, wie schon Bartók es tat, das Beiläufige und Lapidare. Und manche der in seinen Werken enthaltenen Gesten, Klangmischungen und satztechnischen Details bieten auch heitere und punktuell sogar humoristische Tönungen. Dabei lässt seine Art des Humors zuweilen an dieselbe, von Wechseln der Stilregister geprägte Dimension im Werk Beethovens denken – nicht zufällig hat Kurtág dessen Bagatellen für Klavier oft als inspirierend bezeichnet. Andererseits sind einige von seinen eigenen Werken undenkbar ohne ihre existenziellen und düsteren Momente. Dies gilt für den Bereich der Instrumentalwerke, vor allem aber auch für die textbezogenen. Es markiert eine deutliche Differenz zu Ligeti (sowie zu Beethoven und Lachenmann) und legt eher Seitenblicke auf Komponisten wie Nono oder Dmitri Schostakowitsch nahe.33 Mit beiden verbindet Kurtág zudem die Neigung, die existenzielle Seite mit porträtartigen Reflexionen über bestimmte Künstlerpersönlichkeiten (insbesondere Dichterinnen und Dichter) und deren Schicksal zu verknüpfen (besonders in Kurtágs Widmungen, etwa in den Kafka-Fragmenten, ist diese Neigung zu spüren). Zur besonderen Intensität von Kurtágs Klangsprache, die dieser Seite verpflichtet ist, gehören die schon erwähnten, manchmal bloß kurz aufblitzenden Momente des Konflikthaften, Dramatischen, mitunter sogar Exaltierten, die gemeinsam mit der Dimension des Gestischen die Charakterisierung etlicher Stellen als »Minidramen« erlaubt. Doch gibt es, besonders in den Werken der 1980er und frühen 1990er Jahre, auch Phasen des Verlöschens oder der Erschließung ungewöhnlicher Klangräume. In diesen Werkmomenten ist der Bezug zu Nono, mit dem Kurtág gerade in den 1980er Jahren einen engen Austausch hatte, besonders stark greifbar.
Ein eindringliches Beispiel dafür sind die Lieder der Schwermut und der Trauer op. 18, entstanden zwischen 1980 und 1994. Das Stück nimmt Bezug auf Dichtungen u. a. von Alexander Blok, Sergej Jessenin, Osip Mandelstam, Anna Achmatova und Marina Zwetajewa und kann im eben angedeuteten Sinne auch als Folge impliziter Porträts dieser in der Sowjetunion zum Teil verfolgten Dichterpersönlichkeiten gelesen werden. Doch noch bemerkenswerter in diesem sechsteiligen Zyklus ist, wie dieser mit wechselnden instrumentalen Mischungen auf den Chorklang reagiert. So treten gleich im ersten Lied vier Bajans und zwei Harmonien hinzu – auf solche Weise werden Momente des Atmens vervielfältigt und zugleich reflektiert, dabei oszilliert das musikalische Geschehen zwischen Verschmelzungs- und Kontrastmomenten. Einen neuen Tonfall bringt das Schlusslied, rekurrierend auf einen Text von Zwetajewa, der eine seltsam fahle Tönung exponiert. Um diese zu akzentuieren, wird der Instrumentalpart erheblich geweitet. Und dies führt zu einer magischen, zerbrechlichen, introvertierten Klangsprache, dominiert von leisen Schlagzeugklängen, extrem leisen Klangflächen in den Instrumenten und geflüsterten Passagen im Chorpart.
Notenbeispiel: György Kurtág, Lieder der Schwermut und der Trauer, Schluss, © 1996 by Editio Musica Budapest
Wohl nie stand Kurtág der Ästhetik des Spätwerks von Nono näher als in diesem Schlussteil des Werkes, der ein Jahr nach Tod des italienischen Komponisten – auf den Kurtág mit einem emphatischen Nachruf reagierte34 – bei einem längeren Aufenthalt in Berlin vollendet wurde.
Doch auch in einer anderen Hinsicht dürfte der Zyklus von einer für Nonos Musik charakteristischen Prägung inspiriert sein. Gemeint ist jene Art der Raumauffächerung, wie sie etwa in Nonos Prometeo (1981–85) und kurz darauf in Kurtágs … quasi una fantasia … realisiert ist. Kurtágs Raum-Stück (bei dem, wie schon angedeutet, vielleicht auch der Impuls von Stockhausens Gruppen zum Tragen kommt) ist erfüllt von einem Modus der Raumerschließung, der nicht machtvoll, sondern vom Gestus des Suchens und Erkundens sowie von kleinsten expressiven Übergängen geprägt ist. Zudem ist er eingebunden in ein Werkkonzept, das auch Resonanzen von Beethovens und Schumanns Musik entfaltet.35
Betrachtet man die längst als Kurtágs Markenzeichen geltenden enorm vielfältigen Referenzen zum Schaffen anderer Komponisten, sollte man die oft mehr als graduellen Unterschiede der Bezugnahmen nicht übersehen. Manche Pointierungen tauchen eher kurz auf, etwa durch punktuelle Allusionen. Assoziativ oder mit flüchtigen Anspielungen oder Pseudo-Zitaten verfährt Kurtág besonders dort, wo sich beim Komponieren gleichsam zufällig Erinnerungen an Musik anderer ergeben. Dass er zuweilen, anspielend auf Strategien der bildenden Künste, von der Idee des »objet trouvé« spricht, signalisiert den Verzicht darauf, allen intertextuellen Bezügen eine Verarbeitung oder umfassende Reflexion zuteilwerden zu lassen (von einem Werk, bei dem dies anders ist, wird gleich noch die Rede sein).
Wenn Kurtágs Musik bestimmten Bezügen gleichsam nachhorcht, die manchmal ähnlich überraschend ins Spiel geraten wie die berühmten Blechbläser-Passagen aus Stockhausens Gruppen, scheint mittels Resonanzen unterschiedlichster Deutlichkeit und Prägnanz die Eingebundenheit seines musikalischen Bewusstseins in mehrere Jahrhunderte Kunstmusik auf. Insofern enthalten die vielfältigen Referenzen einen Habitus der Selbstvergewisserung und sind als emphatische Konfigurierung eines Horizonts lesbar. Solche Emphase ist aber zugleich als bewusster Kontrast zu jenen politisch düsteren Zeiten zu deuten, die Kurtág vor allem vor 1989 erlebte und die zumindest zeitweilig mit einer staatlich verordneten Abschottung einhergingen. An diesem Punkt zeichnet sich eine Parallele zum Komponieren von Sofia Gubaidulina ab, die in ihrem Violinkonzert Offertorium (1980/86) gleichermaßen auf Johann Sebastian Bach und auf Anton Webern rekurriert (ausgehend von Weberns Bearbeitung des Ricercars aus dem Musikalischen Opfer). Gerade Gubaidulina hat damit ein denkbar nachdrückliches Bekenntnis zu einer Tradition formuliert, die durch die politischen Umstände in ihrem Land zeitweilig ignoriert wurde. In beiden Fällen sollte man jedoch – ähnlich wie bei den bekenntnishaften Rekursen auf Künstler im Schaffen Nonos – vorsichtig sein, das Biografische überzubetonen, um nicht Gefahr zu laufen, das Überzeitliche zu marginalisieren. Mit Schillers Idee einer »ästhetischen Freiheit« hat dieses Überzeitliche, das in seiner emphatischen Tönung auch weit mehr ist als die oft viel zu schlicht konstatierte Verwurzelung in der Tradition, gewiss viel zu tun.