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1961 hielt Theodor W. Adorno einen Vortrag mit dem Titel »Vers une musique informelle«25, in dem er über den Verlust der Sprachähnlichkeit in der Neuen Musik reflektierte. Bereits in der Dodekafonie sei die »Tuchfühlung des Benachbarten« durchschnitten und das zusammenhangbildende Prinzip einer strukturellen Instanz überantwortet worden. Einer solchen Musik, die der »Allgemeinheit heteronomer musikalischer Gesetze« folge, setzte Adorno das Idealbild einer ›musique informelle‹ entgegen: »Für Musik wäre das organische Ideal nichts anderes als das antimechanische; der konkrete Prozeß einer werdenden Einheit von Ganzem und Teil, nicht ihre bloße Subsumtion unter den abstrakten Oberbegriff und danach die Juxtaposition der Teile.«26 Kurz gesagt geht es darum, das Ganze der Form aus seinen Bestandteilen heraus neu zu denken. Durch das Erschließen neuer Wege abseits überkommener Rhetorik und blutleerer Abstraktion soll Musik wieder zur Sprache gebracht werden. Etwa zur gleichen Zeit schrieb Ligeti Werke, die diesem Ideal nahekamen: Atmosphères (1961), ein viel beachtetes Orchesterwerk, welches das nachhaltige Interesse Adornos und Kurtágs weckte, und die Aventures (1962) für drei Sänger und sieben Instrumentalisten, in denen phonetische Elemente in eine neue syntaktische Ordnung gebracht werden.

Für Kurtág war die Aufgabe, der Sprachähnlichkeit27 von Musik aufs Neue nachzuspüren, ebenfalls eine zentrale Herausforderung. In mancher Hinsicht knüpfte er dabei an die Aventures an, fand aber letztlich seinen persönlichen Weg. Dies soll anhand zweier Ligeti-Hommagen analytisch nachvollzogen werden: anhand des 3. Satzes (Scherzo, Vivacissimo) aus A kis csáva (Die kleine Klemme) op. 15b (1978) für Piccoloflöte, Posaune und Gitarre sowie der Vokalminiatur »… le tout petit macabre – Ligetinek« aus dem groß angelegten Beckett-Zyklus … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–97) für Bariton, Streichtrio und Schlagwerk.

II.1 Geste / Vielbezüglichkeit

A kis csáva, Scherzo

Am Anfang des Ringens um Sprachähnlichkeit steht bei Kurtág häufig das Bemühen, gestische Grundelemente zu definieren. Eben dies erörtert Michael Kunkel in seiner Analyse des Scherzos aus A kis csáva: Kurtág entwirft affektive Einheiten »im konkreten Sinne: Aus den Skizzen geht hervor, daß Kurtág in seinen Notaten bestimmte Klangvorstellungen festhält.«28 Sind diese plastischen Einzelgesten geschaffen, werden sie im Ablauf des Stücks durch Zäsuren voneinander getrennt: Der Komponist lässt sie gleichsam einfrieren bzw. »erstarren«29 – eine quasi-theatralische Intensität, die eine szenische Bildfolge imaginieren lässt.30 Die Herausforderung besteht nun darin, die Einzelgesten zu einem im weitesten Sinne sprachähnlichen Ganzen zu formen. Dabei bezieht sich Kurtág auf Ligeti: Ähnlich wie in den NouvellesAventures (1962–65) entsteht ein »parataktisch disponiertes Gebilde, eine gleichsam zerbrochene Form« dadurch, dass parallele Abläufe schichtenartig überlagert und »zunehmend ineinander verschlungen«31 werden. Im Lauf der Zeit wurden diese Verfahren von Kurtág beständig weiterentwickelt.

Im Kleinen – also in Bezug auf Miniaturen und Einzelsätze – gelingt es Kurtág auf diese Weise, aus »zerklüfteten Bruchstücken (…) Formgebilde zu bauen«.32 Es bleibt jedoch das Problem der Großform. Ligetis Hinweis auf »Monumentalformen, in denen die scheinbar zerbröckelten Bestandteile emotional und musiksprachlich eng verknüpft sind«33, sollte nicht zur Annahme verleiten, Kurtágs Formdenken sei im Großen durch übergreifende, stringente Geschlossenheit bestimmt. Trotz ihrer enormen Vielbezüglichkeit und Dichte sind Kurtágs zyklische Kompositionen auch durch »Heterogenität und Offenheit«34 sowie eine spezifische Zentripetalkraft35 gekennzeichnet. Er denkt nicht von der Form, sondern vom Einzelnen aus.36 Ligetis und Kurtágs großformale Strategien weisen somit Divergenzen auf, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Wie im Folgenden deutlich wird, lohnt es sich aber auch, der Geschlossenheit im Kleinen nachzugehen, die aus der Vielbezüglichkeit sprachähnlicher Gesten resultiert.

»… le tout petit macabre – Ligetinek«

In … pas à pas – nulle part … op. 36 setzt sich Kurtág mit Texten Becketts auseinander, die ihn bereits seit 1957 fasziniert hatten.37 Unter den vielen kurzen Einzelsätzen findet sich u. a. auch eine Ligeti-Hommage, deren Titel vielsagend ist: »… le tout petit macabre – Ligetinek« (der Untertitel lautet: »… imagine …«). Die Analyse dieser Miniatur fördert eine immense Beziehungsfülle zutage. Hier wird einsichtig, dass es Kurtág durch extreme Verdichtung38 und Vielbezüglichkeit gelingt, dem Zerfall in Einzelgesten entgegenzuwirken. Die komplexen Beziehungen, die dieses zweiteilige Stück bis ins kleinste Detail prägen, werden im Folgenden anhand unterschiedlicher Aspekte erläutert: Rhythmus/Artikulation, Stimmklang, Instrumentalklang, Intervallik/Gestus, Chromatische Linienzüge, Reihenanalyse und Tonhöhenvarianten. Auf konkrete Bezüge und Gemeinsamkeiten zu Ligeti wird dann in II.2 (»Humor«) eingegangen.


Notenbeispiel 4/ 1: … le tout petit macabre – Ligetinek, aus: … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–97) für Bariton, Streichtrio und Schlagwerk (Abschnitt 1, Analyse)

Zu Abschnitt 1 (Notenbeispiel 4/1): Von Beginn an fällt auf, dass Kurtág – dies ist für seine Vokalmusik charakteristisch39 – die Einheit von Sprachklang und Sprachbedeutung bewahrt. So wird z. B. der staccato-Gestus »si ceci« (Phrase I/2) in Phrase I/4 (»ceci«) aufgegriffen (Notenbeispiel 4/1, »Rhythmus/Artikulation«). Zur weiteren Verdeutlichung dienen der sotto-voce-Klang der Stimme (vgl. »Stimmklang«) und das pp-Spiel des Schlagwerks (vgl. »Instr.-Klang«). Ein weiterer sprachlicher Bezug findet sich zwischen den Phrasen I/3 und I/5 (»un jour«; »un beau jour«). Im Gegensatz zu I/2 und I/4 geht es Kurtág jedoch hier darum, die Phrase I/5 vom Vorherigen abzusetzen. Dies wird anhand der folgenden Aspekte einsichtig: Erstens fällt die Phrase I/5 aus dem Metrum – im Gegensatz zu den anderen Phrasen, die rhythmisch ausnotiert sind (vgl. »Rhythmus/Artikulation«). Zweitens kontrastiert die Vortragsanweisung dolce, esagerato (vgl. »Stimmklang«) deutlich zum bisherigen Verlauf. Drittens wird I/5 erstmals von einem arco-Streichinstrument gefärbt (vgl. »Instr.-Klang«: Vla arco, ord., dolce). Viertens wird der anfängliche Abwärtsgestus in I/5 umgekehrt (vgl. »Intervallik/Gestus«; dies könnte man allerdings nicht nur als Kontrast, sondern auch als unmittelbaren Bezug verstehen). Und fünftens bricht in I/5 der schlüssige chromatische Linienzug ab (vgl. »Chromatische Linienzüge«): Das dis (Ton 11) kann nur in den Linienzug integriert werden, wenn es eine Oktave höher gelegt wird, und der letzte Ton (gis) fällt aus dem Rahmen. Dies macht insofern Sinn, als (sechstens, vgl. »Reihenanalyse«) das gis als überschüssiger (13.) Reihenton aus der Reihe fällt. Dieser Ton eröffnet deshalb nicht eine neue Reihe, weil gleich darauf der zweite Abschnitt mit einer deutlich erkennbaren Variante des Beginns einsetzt.

In Abschnitt 2 (Notenbeispiel 4/2) werden die Bezüge noch weiter verdichtet. Analog zu Abschnitt 1 beziehen sich die Phrasen II/2 und II/3 (»un jour«; »un beau jour«) textlich aufeinander. »Un beau jour« (II/3) ist allerdings wiederum vom Vorigen abgesetzt, und zwar durch ähnliche Mittel wie in Abschnitt 1: erstens durch die Fermaten (»Rhythmus/Artikulation«), zweitens durch die ironische Vortragsanweisung troppo dolce (»Stimmklang«), drittens durch die Violoncello-Färbung (»Instr.-Klang«: arco, ord., dolce) sowie viertens durch den Abbruch des Linienzugs (»Chromatische Linienzüge«: beim gis) und Reihenverlaufs (vgl. »Reihenanalyse«: beim 9. Ton).

Die Phrasen I/5 und II/3 haben also einige Gemeinsamkeiten: Neben dem Text »un beau jour« ist es auch eine gewisse Zäsur- und Kontrastfunktion, die sie miteinander verbindet. Dieser gestische und strukturelle Schnitt ermöglicht das Sammeln neuer Kräfte. Im Folgenden wird deutlich, dass die damit freiwerdenden Energien auf die letzte Phrase (II/6) hin gebündelt werden. Im dichten Beziehungsgeflecht kommt dieser Geste in mehrfacher Hinsicht besondere Bedeutung zu: Erstens bezieht sie sich in Rhythmus und Sprache auf I/1 und II/1. Zweitens greift sie den in der Luft hängengebliebenen Spitzenton von II/3 (gis′) wieder auf (vgl. »Chromatische Linienzüge«). Drittens gibt es enge Tonhöhenbezüge zu II/2 und II/3 (und dadurch zu I/2,3 und I/5; »Tonhöhen-Varianten«). Und viertens werden mit dieser letzten Geste der Satztitel (»… imagine …«) und alle damit verbundenen Assoziationen in Erinnerung gerufen.


Notenbeispiel 4/ 2: … le tout petit macabre – Ligetinek, aus: … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–97) für Bariton, Streichtrio und Schlagwerk (Abschnitt 2, Analyse)

Aus anderer Perspektive wird II/6 aber zu einem überraschenden Neuansatz: In der Stimme ist erstmals die Dynamik f, cresc. vorgeschrieben. Der Zickzack-Gestus von II/1 wird in sein Gegenteil verkehrt. Ferner folgt ein abrupter Ausbruch des Schlagwerks, das bis dahin unauffällig den Vokalpart gefärbt hatte. Die letzte Geste II/6 ist also einerseits in die Stimmigkeit des Beziehungsgeflechts eingebunden, sprengt aber andererseits zugleich die strukturell und klanglich definierten Maßstäbe. Dies zeigt, wie es Kurtág gelingt, singuläre profilierte Gesten herauszuarbeiten und diese durch extreme strukturelle Verdichtung über sich selbst und schlussendlich auch über die Grenzen der Miniaturformen hinausweisen zu lassen.

II.2 Humor40

In Ligetis Artikulation hatte Kurtág Qualitäten gefunden, die er als wesentlich für seine weitere Entwicklung erkannte: die Dichte der Ereignisse, die Direktheit der Aussage und das raffinierte Gleichgewicht zwischen Humor und Tragödie.41 Kurtágs Hang zum Beckett’schen Galgenhumor lässt sich also zum Teil auch von Ligeti herleiten. Einige verborgene, aber doch aufschlussreiche Hinweise dazu finden sich auch in »… le tout petit macabre – Ligetinek«. Der Titel dieser Miniatur bezieht sich auf Le grand macabre, ein vielfältig schillerndes Werk, in dem Ligeti zu einer unverwechselbaren Verschmelzung von Humor und Tragödie gefunden hat:

»At last I had found a play about the end of the world, a bizarre, demoniacal, cruel, and also very comic piece, to which I wanted to give an additional dimension, that of ambiguity … one never knows whether he (Nekrotzar) really represents death or whether he is simply a charlatan. So Le grand macabre is an opera about death conceived as a farce.«42

In »… le tout petit macabre« sind einige versteckte Anspielungen auf Le grand macabre und die Aventures enthalten. Zum einen könnte das Hinzufügen des 13. Reihentons am Ende des ersten Abschnitts als subtilen Verweis auf die dritte Szene von Le grand macabre verstanden werden. Konkret geht es um jenen bedeutenden Handlungsmoment, als Nekrotzar, die eben erwähnte vielschichtige Figur, beim Palast eintrifft. Der Zusammenhang ließe einen unheilvollen Ausbruch in Art eines ›Dies Irae‹ erwarten. Diese Erwartungshaltung wird jedoch auf ironische Weise unterminiert: Es folgt ein Zitat aus Beethovens Eroica, aber ausgerechnet eines, das den heroischen Gestus des Werks überhaupt nicht wiederzugeben vermag: das Passacaglia-Thema (folgerichtig setzt auch bei Ligeti eine Passacaglia ein). Der Rhythmus ist deutlich erkennbar, verbindet sich allerdings mit einer Zwölftonreihe. Da das Passacaglia-Thema aber aus 13 Tönen besteht, entsteht eine Phasenverschiebung, die den weiteren Verlauf bestimmt.43 In »… le tout petit macabre« nimmt Kurtág also nicht nur auf Ligetis spezifischen Humor, sondern auch auf ein strukturelles Detail Bezug, das in Le grand macabre im Zusammenhang mit der Farce des Todes steht. Eine gewisse gestische Ähnlichkeit der Reihenverläufe bei Kurtág und Ligeti ist ebenfalls nicht zu übersehen (Notenbeispiel 5: dem Ton B kommt dabei auch insofern Bedeutung zu, als er in der Zwölftonreihe keinen Platz findet – er verdoppelt den kurz zuvor erklungenen Ton ais. Das ist möglicherweise der Grund für die Sprechgesang-Notation des B: ähnlich wie das gis, der 13. Reihenton, fällt auch dieser Ton ›aus der Reihe‹). Die Verknüpfung struktureller und semantischer Bezüge macht deutlich, dass auch Kurtágs Strategien des Humors im Zusammenhang mit der erörterten Sprachähnlichkeit stehen.44


Notenbeispiel 5: Vergleich der Zwölftonreihe aus György Ligeti, Le Grand Macabre, 3. Szene mit der Eröffnungsphrase aus György Kurtág, … le tout petit macabre – Ligetinek

In »… le tout petit macabre« kommt auch dem Wechsel der Stimmfärbung ein zentraler Stellenwert zu (mezza voce, sotto voce, dolce, etc). Diese Wechsel sind derart häufig, abrupt und kurzatmig, dass sie unweigerlich komisch wirken. Insgesamt entsteht die Färbung des Vokalparts aber auch durch colla parte mitgeführte Instrumente. Mit solchen Verfremdungstechniken45 spielt Kurtág auf Ligetis Aventures an, in denen dieser eine ähnliche Strategie verfolgte:

»Ich wollte die Instrumente einsetzen, ein bißchen in dem Sinn, daß die phonetische Komposition, die in den Sängern stattfindet, durch die klangfarblichen Möglichkeiten der Instrumente moduliert, etwas verändert, auch bereichert wird. Es gibt keinen selbständigen Instrumentalpart. Die Instrumente sind hier wirklich den Sängern untergeordnet.«46

Diese Unterordnung findet sich auch in »… le tout petit macabre« – besonders radikal im Violinpart, der sich ausschließlich auf kurze Geräuschimpulse beschränkt. Dies ist ebenso witzig wie die Eruption des Schlagwerks, welche die anfängliche Zurückhaltung mit einem plötzlichen Gewaltausbruch beendet.

Rhetorische Figuren47

Eine weitere Eigenschaft von Kurtágs Humor, die an Ligeti erinnert, ist die Tendenz zur Übertreibung und Überzeichnung rhetorischer Figuren. Kurtág setzt dabei insbesondere die folgenden Figuren ein.

a) aposiopesis

Versucht man, die Zäsuren und Pausen in Kurtágs Musik vor dem Hintergrund der Tradition der Musikalischen Rhetorik zu deuten, lässt sich die rhetorische Figur der aposiopesis ins Spiel bringen: In manchen Bach-Kantaten symbolisiert ein plötzliches und unvermutetes Schweigen das Vergängliche: den Tod. Die Zersplitterung in Einzelgesten, die sich in »… le tout petit macabre« findet, könnte man zunächst ähnlich verstehen: als Unfähigkeit zur Artikulation, die immer wieder vom Schweigen bedroht ist. Durch die Omnipräsenz dieses Gestus und die starre Mechanik des Ablaufs wird der existenzielle Ernst aber humorvoll verfremdet. Eben diese clowneske Doppelbödigkeit fand Kurtág bei Beckett48: Es handelt sich um jenen Galgenhumor, der aus der Stille kommt.

b) saltus duriusculus

Eine weitere rhetorische Figur, auf die sich Kurtág indirekt bezieht, ist diejenige des expressiven Sprungs – in der Tradition der musikalischen Rhetorik bezeichnete man sie als saltus duriusculus. Schon im Barock und in der Klassik standen weite Intervallsprünge für einen spezifischen Ausdrucksgehalt. Man denke etwa an die Arie der Pamina aus Mozarts Zauberflöte: Hier bedeutet ein immenser Sprung in die Tiefe die Unausweichlichkeit von Tod und Verzweiflung (»so wird Ruh im Tode sein«). Bei Webern werden solche Gesten mit zusätzlicher Expressivität aufgeladen. Bei Kurtág schließlich gehen manche Intervallsprünge über den ›normalen‹ Stimmambitus so weit hinaus, dass sie nicht mehr expressiv, sondern übertrieben grotesk wirken. Auf diese Weise wird übersteigerte Expressivität offen als komisch entblößt. Dies wird immer wieder auch durch Vortragsanweisungen wie »troppo dolce« (»… le tout petit macabre«, Phrase II/3) verdeutlicht.

c) Lamentofiguren

Zu Beginn von Beethovens Les-Adieux-Sonate op. 81a findet sich eine Melodik, die barocken Lamentofiguren nachempfunden ist: Eine absteigende Ganztonfolge verbindet sich mit Intervallvergrößerungen (große Terz, Quint, kleine Sext), die trugschlüssig in die VI. Stufe münden. Auf solche Figuren wurde in der Musiktradition des 19. und 20. Jahrhunderts häufig zitatartig Bezug genommen.49 So greift sie z. B. Mahler im Adagio seiner Neunten Sinfonie auf. Die trugschlüssige Wendung wird hier allerdings durch Chromatisierung verfremdet. An diese Tradition des verfremdeten Zitierens schließt wiederum Ligeti im Trio für Violine, Horn und Klavier (1982) an: Zu Beginn dieses Werks wird die absteigende Ganztonmelodik zur Abfolge Ganzton-Ganzton-Halbton modifiziert. Auch im weiteren Verlauf des viersätzigen Werks nehmen gebrochene und verfremdete Lamentofiguren eine zentrale Stellung ein. Die durch die Verfremdung gegebene Distanz wird infolge der Omnipräsenz der Figuren übersteigert und an den Rand grotesk-abgründigen Humors gerückt.50 Zuweilen verbindet sich dies mit collageartigem Komponieren. Das Gegenüberstellen unterschiedlicher Materialien legt ironische Brechung und kritische Reflexion nahe.51

Vor diesem Hintergrund lässt sich die Hommage à Ligeti in Kurtágs Hipartita für Violine solo op. 43 (2000–04) näher beleuchten.52 Der 1. Satz dieses Werks (Sostenuto, doloroso) ist hörbar durch Lamentofiguren53 geprägt. Dabei diente, wie die Detailanalyse zeigt, der 4. Satz aus Ligetis Horntrio als Modell. In gebrochener, collageartiger Form werden Elemente dieses Satzes bausteinartig neu zusammengesetzt. Ein Beispiel: Die großen Septen (z. B. d′ – cis″) und kleinen Nonen (z. B. dis′′′ – e′′′′), die den Beginn (S. 1, Systeme 1–3) und die Passage ab Tempo I (S. 2, Systeme 3–4) prägen, finden sich auch bei Ligeti (Horntrio, 4. Satz, ab T. 33). Die Lamentofiguren sind omnipräsent und zuweilen mit Figuren bei Ligeti deckungsgleich (z. B. S. 1, System 2: Hier erklingt das Lamento f′′′ – e′′′ – es′′′ – d′′′, das häufig im 4. Satz des Horntrios auftritt).


Notenbeispiel 6: Ludwig van Beethoven, Sonate op. 81a (1809/10), 1. Satz: Les Adieux-Figur; Gustav Mahler, Neunte Symphonie (1909/10), 4. Satz, Beginn: verfremdete Les Adieux-Figur; György Ligeti, Horntrio (1982), 1. Satz, Beginn: verfremdete Les Adieux-Figur

Auf S. 2 verdichten sich die Bezüge. Im oberen Bereich dieser Seite notiert Kurtág: »Hommage à Ligeti«. Anhand von S. 2, Systeme 1–2 (Notenbeispiel 7 unten) lässt sich tatsächlich gut nachvollziehen, wie Kurtág Elemente des 4. Satzes des Horntrios (T. 14–19, Notenbeispiel 7 oben) bausteinartig umschichtet. Mit dem Oberstimmenverlauf dis″ – a′ – g′ – fis′ spielt er auf die Töne es″ (Klav.) sowie a′ – g′ – fis′ (Vl.) bei Ligeti an (Notenbeispiel 7: I). Die darauffolgende Abwärtsbewegung dis″ – ais′ – gis′ – fis′ findet sich bei Ligeti in der Gestalt es″ (Klav.) – b′ – as′ – (g′) – fis′ (Vl., Notenbeispiel 7: II). Die große Sext G – e, die bei Ligeti Bestandteil eines ›C-Dur-Dreiklangs‹ ist, wird bei Kurtág als g – e′ in die Solovioline verlegt (III). Und die suspiratio es′ – d′, die bei Kurtág das Phrasenende ankündigt, wird bei Ligeti als Sekundreibung simultan übereinandergeschichtet (IV). Auch das um einen Viertelton erhöhte d′ am Ende dieser Passage findet sich bei Ligeti: Dort ist es Bestandteil der Klimax (Horn, T. 61).


Notenbeispiel 7: György Ligeti, Trio für Violine, Horn und Klavier (1982), 4. Satz, T. 14–19 (oben); György Kurtág, Hipartita op. 43 (2000–04) für Violine solo, 1. Satz, S. 2 (Systeme 1 und 2; unten)

Anhand der Analyse der Hipartita lässt sich – auch über dieses konkrete Beispiel hinaus – der Umgang Kurtágs mit Modellen verdeutlichen, der über den Vorgang des bloßen Zitierens hinausgeht. Nicht nur Strukturdetails und Ausdruckscharaktere werden aufgegriffen, sondern auch Verfahren, die Ligetis Personalstil konstituieren. Dazu zählt die Vorliebe für collageartige Verfremdungen ebenso wie der durch die Omnipräsenz von Lamentofiguren gekennzeichnete abgründige Humor. Diese (auch für Kurtág ungewöhnliche) Dichte an Ligeti-Verweisen ist wohl auch durch biografische Ereignisse zu begründen: Ligeti hatte im Jahr 2000 seine letzte vollendete Komposition geschrieben: die Weöres-Vertonung Sippal, dobbal, nádihegedüvel54 für Mezzosopran und vier Schlagzeuger. Danach verschlechterte sich sein Gesundheitszustand immer mehr, bis er 2006 starb. Kurtág stand Ligeti in dessen letzten Lebensjahren zur Seite.55 Die 2000–04 entstandene Hipartita kann in diesem Zusammenhang als musikalischer Kommentar gedeutet werden. Im Eröffnungssatz entwirft Kurtág ein Porträt des Freundes, das von Schmerz (Sostenuto, doloroso), aber auch von Leichtigkeit durchdrungen ist.

1 Einige Hinweise zum vorliegenden Text: Die Klanganalysen in Abschnitt 1 wurden mit der MIRtoolbox erstellt. Vgl. Olivier Lartillot, Petri Toiviainen, Tuomas Eerola, »A Matlab Toolbox for Music Information Retrieval«, in: C. Preisach/H. Burkhardt/L. Schmidt-Thieme/R. Decker (Hrsg.), Data Analysis, Machine Learning and Applications, Studies in Classification, Data Analysis, and Knowledge Organization, Heidelberg 2008. Für das sorgfältige Redigieren des Textes bedanke ich mich bei Sophie Zehetmayer. — 2 Vgl. György Ligeti, »Begegnung mit Kurtág im Nachkriegs-Budapest«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz 2007 (= Veröffentlichungen der Paul-Sacher-Stiftung, Bd. 10/1), S. 480–83, hier S. 481: Wir kamen »aus ähnlichen familiären Verhältnissen (…): aus ungarisch-jüdischen intellektuellen Familien, die an die ungarische Kultur assimiliert waren. Gemeinsam war uns noch eine andere kulturelle Erfahrung: Beide kamen wir aus Gegenden des alten Ungarns, die nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien gefallen waren, beide gingen wir in rumänischsprachige Gymnasien und waren, zum Teil wegen der frankophilen Orientierung der rumänischen Kultur, in unseren Gefühlen und künstlerischen Vorstellungen stark von Frankreich angezogen.« — 3 Bálint András Varga, György Kurtág: Three Interviews and Ligeti Homages, Rochester 2009, S. 100. In diesem Buch finden sich zahlreiche persönliche Bemerkungen Kurtágs zur Freundschaft mit Ligeti – auch zu den letzten Lebensjahren (vgl. ebd., S. 89–114). — 4 Die Rede von der »Imitatio Christi« erinnert an die humorvoll-ironische Art, mit der Gérard Grisey seinen Vorbildern Messiaen, Stockhausen und Ligeti huldigte. Vgl. Danielle Cohen-Levinas, »Gérard Grisey: du spectralisme formalisé au spectralisme historicisé«, in: I Quaderni della Civica Scuola di Musica di Milano 15 (2000), H. 27, S. 63–68, hier S. 63: »Ses maîtres, ses modèles furent ce qu’il appelle, non sans une certaine ironie, Dieu le père, à savoir, Olivier Messiaen, son maître au conservatoire, le Fils, en la personne de Karlheinz Stockhausen, et le Saint-Esprit avec György Ligeti.« — 5 Vgl. z. B. das Trio für Violine, Horn und Klavier (1982): Ligeti hat dieses Werk als Hommage à Brahms bezeichnet (es entstand auf Anregung des Pianisten Eckart Besch, um eine Art Schwesterwerk zu Brahms’ Horntrio Es-Dur op. 40 zu schaffen). Der Beethoven-Bezug (etwa auf dessen Les Adieux-Sonate op. 81a) gerät dadurch in den Hintergrund, ist für ein Verständnis des Werks aber wohl entscheidender. Eindeutige Hommage-Kompositionen sind Gelegenheitswerke – vgl. die Hommage à Hilding Rosenberg (1982) für Violine und Violoncello. – In Ligetis Le grand macabre finden sich Bezüge in Form von Zitaten, die ironisch maskiert sind. Darin eröffnet sich wiederum indirekt eine Parallele zu Kurtág – vgl. dazu II.2. — 6 Dies schließt allerdings nicht aus, dass es bei Kurtág verdeckte Bezüge gibt. Ein Beispiel: In … quasi una fantasia … op. 27/1 für Klavier und Instrumentengruppen gibt es sowohl offen deklarierte als auch unausgesprochene Referenzmodelle. Einerseits beziehen sich Stücktitel und Opus-Zahl auf Beethoven sowie der Satztitel »Wie ein Traumeswirren« auf Schumanns Fantasiestücke op. 12. Andererseits findet sich in der Introduzione eine versteckte und nicht kommentierte Hommage à Ligeti – vgl. dazu die folgenden Ausführungen. — 7 Vgl. Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 92. Einerseits lässt sich Kurtágs Entwicklung als Komponist nicht einseitig als Reaktion auf das Schlüsselerlebnis 1958 begreifen, auch wenn dies Kurtágs Äußerungen nahelegen könnten. Andererseits ist der Stellenwert dieses Erlebnisses für die Herausbildung von dessen Ästhetik nicht zu unterschätzen. — 8 Vgl. »Komponistenporträt György Kurtág«, in: Ulrich Dibelius (Hrsg.), Ligeti und Kurtág in Salzburg. Programmbuch der Salzburger Festspiele 1993, Salzburg – Zürich 1993, S. 88–94, hier S. 94. — 9 Vgl. Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 92: »I experience the work as the first true Ligeti – marked by a density of events, a directness in its statement and a fine balance of humor and tragedy that still seem to me unsurpassed, even compared with his later development.« — 10 Vgl. ebd., S. 92 f.: »After my return to Hungary – we would not see each other for ten years – I began my new life with Opus 1. From then on, my ideal and aspiration was to formulate in my language something similar to what I had experienced with Artikulation in Cologne.« Zu den Ligeti-Spuren im Streichquartett op. 1 (1959) vgl. Forschungsbeiträge von Peter Hoffmann, Simone Hohmaier, Márton Keréfky und Rachel Beckles Willson. — 11 Vgl. ebd., S. 92: »I speak of my impressions from these days, not of the absolute value of the compositions. But even later these two – Artikulation, Atmosphères – remain for me absolute masterpieces – representing two basic aspects of Ligeti’s work. Apparitions seemed to me rather a station on the way to them.« — 12 Wörtliche Ligeti-Zitate sind bei Kurtág eher die Ausnahme. Ein Beispiel ist die melodische Wendung h – a – cis – h in T. 107 des Doppelkonzerts … concertante … op. 42 (2003) für Violine, Viola und Orchester, die sich als Zitat auf den langsamen Satz von Ligetis Violinkonzert (1989–93) bezieht. Vgl. Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 83; vgl. auch György Kurtág, Entretiens, textes, dessins, Genève 2009, S. 136. — 13 Im Fall der Introduzione zu … quasi una fantasia … op. 27/1 ist der Ligeti-Bezug nicht in der Partitur vermerkt, und ich hatte noch nicht die Gelegenheit, die Skizzen zu diesem Werk einzusehen. Die mehr als deutlichen Referenzen und die ›Re-Hommage‹ Ligetis (Analyse der Introduzione) ergeben aber ein unmissverständliches Gesamtbild. Vgl. dazu die folgenden Ausführungen. — 14 Die Liste ist vorläufig und unvollständig – schon allein deshalb, weil ich Teile von Kurtágs Œuvre, zum Beispiel die Oper Fin de partie (UA 2018, Mailand), noch nicht genau studieren konnte. — 15 In seiner Analyse (»Kurtág: … quasi una fantasia … Analyse des ersten Satzes«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1 [Anm. 2], S. 490–96, hier S. 496) spricht Ligeti von vier Mundharmonikas; in der aktuellen Fassung (Editio Musica Budapest, Z. 13742) sind es aber fünf. Eventuell lag Ligeti hier eine Erstfassung vor. – Übrigens finden sich auch im 2. Satz (Wie ein Traumeswirren) ganz ähnliche Mundharmonika-Konstellationen. Diesmal verschwinden sie aber beinahe unhörbar in einer dichten Orchesterpassage (T. 21–24, vgl. auch die Zeichenerklärung im Vorwort der Partitur). — 16 Diese Tendenz zur Aufhellung findet sich bei Kurtág nicht selten in Schlusspassagen. Zum Verhältnis zwischen Dunkel und Licht im Œuvre Kurtágs und Ligetis vgl. Rachel Beckles Willson, Ligeti, Kurtág, and Hungarian Music during the Cold War, Cambridge 2007, S. 106 und 182. — 17 Auf diese Relation geht auch Ligeti in seiner Analyse der Introduzione ein (Anm. 15, S. 496): »Der unendlich einfache und zugleich unendlich differenzierte Satz klingt in dieser tonalen Ambiguität aus – als ob er im realen wie auch im illusionären Resonanzraum verschwinden würde.« — 18 Ligeti, »Kurtág: … quasi una fantasia …« (Anm. 15), S. 496. — 19 Ebd., S. 495. — 20 Zu Beginn des 2. Satzes des Klavierkonzerts (Lento e deserto) inszeniert Ligeti imaginäre Raumwirkungen durch Liegetöne in höchster und tiefster Lage. Dies ist wohl eine Anspielung an den Beginn von Mahlers Erster Sinfonie, die Ligeti in seinem Text »Raumwirkungen in der Musik Gustav Mahlers« (Gesammelte Schriften, Bd. 1 [Anm. 2], S. 279–284, hier S. 279 f.) diskutiert. — 21 In seinem Text »Komposition mit Klangfarben« (Gesammelte Schriften, Bd. 1 [Anm. 2], S. 157–69) erörtert Ligeti die prozessuale Formung des Klangkontinuums anhand von Beispielen. So erwähnt er z. B. eine Passage aus dem Vorspiel zu Wagners Parsifal, in der der Orchesterklang »Schritt für Schritt weicher, heller und geschmeidiger wird« (S. 161). In »Raumwirkungen in der Musik Gustav Mahlers« (Anm. 20) geht er auf Nah- und Fernwirkungen von Klängen im (virtuellen oder realen) Raum ein. — 22 Kurtág, Entretiens (Anm. 12), S. 185: »Mon idee d’une continuité est différente de celle de symétrie ou de période: elle est plus proche du concept qui gouverne Atmosphères de Ligeti.« — 23 Zit. nach Dibelius (Hrsg.), Ligeti und Kurtág in Salzburg (Anm. 8), S. 77. — 24 Philipp Bruellmann, »›mit den wenigsten Tönen‹. Überlegungen zur (kleinen) Form bei György Kurtág«, in: Neue Zeitschrift für Musik (2011), H. 2, S. 44–49, hier S. 48. — 25 Theodor W. Adorno, »Vers une musique informelle« [1961], in: ders., Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II, Frankfurt/M. 1978 (= Gesammelte Schriften 16), S. 493–540. — 26 Ebd., S. 526 f. — 27 In Bezug auf den Begriff der Sprachähnlichkeit wurde des Öfteren auf gewisse Konvergenzen zwischen Adorno und Ligeti hingewiesen. Vgl. Ralph Paland, »›… eine sehr große Konvergenz‹? Theodor W. Adornos und György Ligetis Darmstädter Form-Diskurs«, in: Christoph von Blumröder (Hrsg.), Kompositorische Stationen des 20. Jahrhunderts, Münster 2004 (= Signale aus Köln. Beiträge zur Musik der Zeit, Bd. 7), S. 87–115. Kurtágs Auseinandersetzung erinnert – trotz einiger individueller Unterschiede – an diesen Diskurs. Zentral geht es dabei um die Frage, wie eine schlüssige Beziehung zwischen der (sprachähnlichen) musikalischen Syntax und der Großform herzustellen sei. — 28 Vgl. Michael Kunkel, György Kurtág: A kis czáva (1978), Saarbrücken 1998 (= fragmen. Beiträge, Meinungen und Analysen zur neuen Musik, hrsg. von Stefan Fricke, H. 25), S. 10. In der Paul Sacher Stiftung (Sammlung György Kurtág) findet sich ein Skizzenblatt zu A kis czáva (vgl. ebd., S. 10), dem im vorliegenden Zusammenhang besonderes Interesse zukommt (Skizzenbuch 81, S. 8). Dort findet sich ein Entwurf zu einer der Grundgesten des Stücks. Über der Geste sind zwei handschriftliche Notizen hinzugefügt: 1) »Ligeti«; 2) die (von Ligeti mit Vorliebe verwendete) Tempoangabe »Vivacissimo«. — 29 Diesen Gestus der Erstarrung leitete Kurtág von den Darmstädter Komponisten, aber auch vom frühen Ligeti her. Vgl. Kurtág, Entretiens (Anm. 12), S. 63. — 30 Ein ganz ähnlicher Gestus findet sich zuweilen in Ligetis Nouvelles Aventures – insbesondere dort, wo die Musik plötzlich abbricht, während sich die Mundbewegungen und die Mimik der Vokalisten lautlos, aber mit gleicher Intensität fortsetzen. — 31 Kunkel, György Kurtág: A kis czáva (Anm. 28), S. 11. — 32 György Ligeti, »Laudatio auf György Kurtág«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Anm. 2), S. 485–89, hier S. 488. — 33 Ebd. — 34 Tobias Bleek, Musikalische Intertextualität als Schaffensprinzip. Eine Studie zu György Kurtágs Streichquartett »Officium breve« op. 28, Saarbrücken 2010, S. 273. In diesem Zusammenhang verweist Bleek auf Autoren wie Alan E. Williams, Friedemann Sallis und Rachel Beckles Willson. Vgl. auch András Wilheim, »Satzfolge und Großform. Der Begriff des ›offenen Werkes‹ in den Kompositionen von György Kurtág«, in: MusikTexte. Zeitschrift für neue Musik (1997), H. 72, S. 35–38. — 35 Vgl. Tom Rojo Poller, »Komposition als angewandte Interpretation bei György Kurtág«, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 14 (2017), H. 1, S. 93–131, hier S. 101. — 36 Vgl. Bruellmann, »›mit den wenigsten Tönen‹« (Anm. 24), S. 48. — 37 Auf Anregung Ligetis hatte Kurtág 1957 eine Vorstellung von Becketts Fin de partie besucht, die einen lebenslangen Eindruck hinterließ. Vgl. auch online unter: https://www.newyorker.com/magazine/2018/12/24/gyorgy-kurtag-with-his-opera-of-endgame-proves-to-be-becketts-equal [letzter Zugriff: 09.09.2020]: »At Ligeti’s urging, Kurtág went to see Endgame in Paris in 1957, shortly after its première. Fifty years later, he told the critic Jeremy Eichler that it was ›one of the strongest experiences in my life.‹« Die intensive Auseinandersetzung mit Beckett mündete schließlich in Kurtágs gleichnamiger Oper, die 2018 an der Mailänder Scala ihre Uraufführung erlebte. — 38 Die »Dichte der Ereignisse« (vgl. Anm. 9) ist eine der Qualitäten, die Kurtág in Ligetis Artikulation fand. Eine solche spezifische Verdichtung setzt voraus, dass die Einzelbestandteile radikal aufs Wesentliche reduziert sind. Kurtág hob in einem Interview hervor, dass er diesbezüglich Ligetis Musica ricercata als Modell folge. Dort finde sich ein Komponieren »mit nur einem Ton, dann zwei, drei, vier und immer mehr Tönen von Satz zu Satz. Was er [Ligeti] darin 1953 durch Separieren von einzelnen Tonhöhen komponiert hatte, war für mich 1974 in vergleichbarer Weise das initiale C als Ausgangspunkt bei Jatekok«. Zit. nach »›Meine Gefängniszelle – meine Festung‹. Porträt György Kurtag, entwickelt im Gespräch mit Ulrich Dibelius«, in: MusikTexte. Zeitschrift für neue Musik (1997), H. 72, S. 29–35, hier S. 34. — 39 Nur in Ausnahmefällen praktiziert Kurtág das Zerlegen in Einzelsilben. Vgl. Claudia Stahl, Botschaften in Fragmenten. Die großen Vokalzyklen von György Kurtág, Saarbrücken 1998, S. 218: So stellen etwa »in Trussowa II 1 (…) die Melismen auf dem Wort ›Fieber‹ (Xap) im Presto, feroce-Gestus auch durch ihre Verbindung von Phonetik und musikalischer Gestalt den Gestus fiebriger Sehnsucht dar und gehen dann auf Partiturseite 43 in Lachcharaktere (…) über, die an den Einleitungsabschnitt von Ligetis Aventures erinnern.« — 40 Angesichts der geistvollen Vielbezüglichkeit, die sich in Kurtágs Werken findet, könnte man (in Anlehnung an die Musik Joseph Haydns) hier auch den Begriff ›Witz‹ ins Spiel bringen. Vgl. Grégoire Tosser, »Humour et fragmentation: le Witz musical des Quelques phrases tirées des cahiers de brouillon de Georg Christoph Lichtenberg op. 37 et 37a«, in: ders./Pierre Maréchaux (Hrsg.), Ligatures: la pensée musicale de György Kurtág, Rennes 2009, S. 129–58. — 41 Vgl. Anm. 9. — 42 György Ligeti in Conversation with Péter Várnai, Josef Häusler, Claude Samuel and Himself, London 1983, S. 115. — 43 Vgl. Wolfgang Marx, »›Make Room for the Grand Macabre!‹ The Concept of Death in György Ligeti’s Œuvre«, in: Louise Duchesneau/Wolfgang Marx (Hrsg.), György Ligeti. Of Foreign Lands and Strange Sounds, Woodbridge 2011, S. 78–80. — 44 Einen weiteren Hinweis verdanke ich Christian Utz: In der Omaggio a Frescobaldi, dem letzten Satz aus Ligetis Musica Ricercata (1951–53) – einem Werk, das für Kurtág wichtig war – liegt der Imitationsstruktur eine Folge von 13 Tönen zugrunde. Die 13-tönige Reihe aus »… le tout petit macabre« erinnert deutlich an dieses Modell – auch aufgrund der auseinanderstrebenden chromatischen Linienzüge, die eine weitere Gemeinsamkeit darstellen. — 45 Dass Kurtág offenbar tatsächlich Ligeti im Sinn hatte, als er diesen farbigen Vokalpart entwarf, zeigt ein Vergleich mit der unmittelbar davor erklingenden message à Pierre Boulez: Dort enthält sich die Stimme jeder Färbung (»voce bianca, senza colore«). Die unerwartet vielen Oktavsprünge in dieser Miniatur sind wohl eine humoristische Anspielung auf Boulez’ Oktavenphobie der 1950er Jahre. Darauf weist auch bereits der Titel der message à Boulez hin: »octave«. — 46 Zit. nach Konstantinos Kakavelakis, György Ligetis »Aventures & Nouvelles Aventures«. Studien zur Sprachkomposition und Ästhetik der Avantgarde, Frankfurt/M. etc. 2001 (= Europäische Hochschulschriften: Reihe 36, Musikwissenschaft; Bd. 210), S. 132: Das Zitat stammt aus dem Vortrag »Über die Aventures«, den Ligeti 1964 in Darmstadt hielt. — 47 Auf Bezüge Kurtágs zur Musikalischen Rhetorik wurde in der Literatur wiederholt hingewiesen – insb. im Zusammenhang mit dem Vokalzyklus Bornemisza Péter mondásai für Sopran und Klavier op. 7. Vgl. Stefan Fricke/Friedrich Spangemacher, Art. »György Kurtág«, in: Hanns-Werner Heister/Walter-Wolfgang Sparrer (Hrsg.), Komponisten der Gegenwart, online unter: http://www.munzinger.de/document/17000000324 [letzter Zugriff: 09.09.2020]: »Die Sprüche des Péter Bornemisza schließen musikalisch vor allem an die Tradition Gabrielis und Schütz’ an, in der Wiederentdeckung des ›stile rappresentativo‹, der affektgeladenen Musik mit den Text ausdeutenden Passagen.« — 48 Neben Beckett verwies Ligeti in diesem Zusammenhang auch auf den späten Beethoven. Vgl. Ligeti, »Laudatio auf György Kurtág« (Anm. 32), S. 489: »Beethovenisch-skurril sind die Kafka-Fragmente und, noch intensiver, die Beckett-Vertonung What is the Word für Rezitatorin, Vokal- und Kammerensemble aus den Jahren 1990–91. Die Skurrilität bedeutet aber keineswegs nur Humor, vielmehr Verzweiflung und Scheitern. Nur eben ist die Kurtágsche Verzweiflung nie tatsächliches Scheitern, sondern ein Balanceakt am Rande des Scheiterns – diese Nähe zum Absturz ist das großartige Gelingen des Seiltänzers, der den Sturz überlegen mimt.« — 49 Diesbezüglich ließe sich im vorliegenden Zusammenhang auch auf Kurtágs Klavierstück Les Adieux (1979) aus dem V. Band der Játékok verweisen, in dem der kleinen Sext g – es′ (vgl. Beethovens op. 81a, Abb. 6) eine tragende Rolle zukommt. — 50 Vgl. Amy Bauer, Ligeti’s Laments: Nostalgia, Exoticism, and the Absolute, Farnham etc. 2011. — 51 Ein gutes Beispiel dafür ist Ligetis Oper Le grand macabre. Auch bei Kurtág findet sich häufig eine collageartige Kompositionsweise. Ligeti erörtert dies z. B. anhand des 1. Satzes von … quasi una fantasia …. Vgl. Ligeti, »Kurtág: … quasi una fantasia …« (Anm. 15), S. 491. — 52 Die Partitur des 1. Satzes dieses Werks ist auch bei Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 79–81 abgedruckt. Auf diese Ausgabe (Editio Musica Budapest) nehme ich Bezug. — 53 Zum Klagetopos bei Kurtág vgl. auch Bleek, Musikalische Intertextualität (Anm. 34), S. 303. — 54 Der 5. Satz von Sippal, dobbal, nádihegedüvel (»Alma, álma«) ist durchgehend für Mezzosopran und vier Mundharmonikas gesetzt. Dies könnte man als fernes Echo der Auseinandersetzung mit Kurtágs Introduzione und somit (ausnahmsweise) als kompositorische Referenz an Kurtág verstehen. Vgl. Anm. 15. — 55 Die damit verbundenen Gedanken und Gefühle brachte er 2007 in einer bewegenden Rede zum Ausdruck. Vgl. Kurtág, Kylwyria – Kálvária, in: Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 103–06; vgl. auch Kurtág, Entretiens (Anm. 12), S. 167–78.

MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág

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